Hamburger Straßennamen -
nach Personen benannt

Adolph-Schönfelder-Straße

Barmbek-Süd (1970): Adolph Schönfelder (5.4.1875 Hamburg - 3.5.1966 Hamburg), Bürgerschaftsabgeordneter in Hamburg, Senator, Bürgerschaftspräsident, Zweiter Bürgermeister von Hamburg, Vertreter Hamburgs im Parlamentarischen Rat


Vorher hieß die Straße Rönnhaidstraße.

Über Heinrich Ferdinand Adolph Schönfelder heißt es in der Datenbank „Hamburger Persönlichkeiten: „Adolph Schönfelder wurde am 5.4.1875 in Hamburg geboren und wuchs im Stadtteil Barmbek auf. Sein Vater, Louis Gustav, war ein gelernter Tischler und Konstabler, seine Mutter Maria Sophia arbeitete als Dienstmädchen.

Zunächst wurde er Zimmerer und war u. a. an den Bauarbeiten des Hochbahnhauses an der Steinstraße, dem Ziviljustizgebäude und dem Haus der Hamburger Feuerkasse beteiligt.

1901 wurde er Mitglied der SPD und 1919 Mitglied der Hamburger Bürgerschaft, wo er sich der Bildungspolitik widmete. Er interessierte sich vor allem für die pädagogische Reformbewegung, dem Zusammenwirken von Eltern und Lehrern und der Gründung der Universität. Ab 1919 gehörte er zum Landesvorstand der SPD, ab 1920 zur Kontrollkommission der Partei auf Landesebene. 1925 wurde er Mitglied des Senats, hier war er zunächst für die Baubehörde zuständig, später für die Polizei.“1)

Wie so viele männliche Bürgerschaftsabgeordnete und Senatoren war Adolph Schönfelder nicht jemand, der sich für die Rechte der Frauen einsetzte. Damals musste sich zum Beispiel jeder erwachsene Mensch, der nach Hamburg zog, innerhalb einer Woche bei der Meldebehörde melden und einen Meldeschein ausfüllen. Ehefrauen waren davon ausgenommen, denn sie "liefen" auf dem Meldeschein ihres Ehemannes als Familienmitglieder, also unter dem Namen des Ehemannes. Nun brauchte man damals aber immer wieder den Meldeschein, um sich ausweisen zu können, so auch bei Wahlen. Es konnte also vorkommen, dass Ehefrauen ihr Wahlrecht nicht ausüben konnten, weil der Ehemann ihr den auf seinen Namen ausgestellten Meldeschein verweigerte auszuhändigen oder wenn er zum Beispiel am Tag der Wahl gar nicht in Hamburg war und somit auch nicht sein Meldeschein vorlag. Und es konnte ebenso vorkommen, dass Ehefrauen in bestimmten Fällen, in denen es notwendig war, sich nicht ausweisen, also ihre Identität nicht nachweisen konnten, weil sie eben kein eigenes Dokument hatten, das ihre Identität nachwies. Als Schönfelders Parteigenossin Adele Reiche 1926 die auch schon von anderen Frauen im Parlament zuvor gestellte Forderung wiederholte, verheirateten Frauen nun endlich einen eigenen Meldeschein auszustellen und sich dabei direkt auch an den damaligen Polizeiherrn Adolph Schönfelder wandte, meinte Schönfelder Adele Reiche zurechtweisen zu müssen, indem er erklärte, sie sei schlecht informiert. Schließlich könne nun jede verheiratete auf Antrag, solch einen auf ihren Namen ausgestellten Meldeschein erhalten. Allerdings obligatorisch sollte solch ein eigener Meldeschein für eine verheiratete Frau nicht sein. Sie müsse diesen schon direkt anfordern. Denn wenn es gesetzlich verankert sein würde, dass jede verheiratete Ehefrau einen eigenen Meldeschein bekommen sollte, dann käme zu viel Arbeit auf die Behörden zu. Sabine Kienitz erklärt in dem von ihr und Angelika Schaser verfassten Buch "So ist die neue Frau? Hamburgerinnen in den 1920er Jahren", dass aus Schönfelders Argumentation deutlich wird, „Woran die Polizeibehörde und offensichtlich auch der Senat kein Interesse hatten: Die Frau als Ehefrau als eigenständiges Individuum und Bürgerin eines modernen Staates mit dem grundsätzlichen Recht auf eigene Dokumente anzuerkennen und sie mit ihren Ansprüchen und Interessen als Rechtsperson in der Organisation der staatlichen Verwaltung zu berücksichtigen. Der eigene Meldeschein für jede Ehefrau wurde als Belastung angesehen, da die Ausstellung eines solchen Papiers Mehrarbeit für die Behörde verursachte (...). Deshalb plädierte Schönfelder offen dafür, das Ganze als eine Kann-Regelung beizubehalten und nicht als allgemeine staatliche Aufgabe in Gesetzesform zu überführen“ 1) Und so kam es dann auch: Ehefrauen erhielten zwar das Recht auf einen eigenen Meldeschein, aber nur, wenn sie ihn beantragten.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten und dem Verbot der sozialdemokratischen Zeitung ‚Hamburger Echo‘ durch die Nationalsozialisten, traten die der SPD angehörigen Senatoren zurück. Im Juni 1933 wurde Schönfelder verhaftet und des Hoch- und Landesverrats beschuldigt. Zwar wurde ihm kein Prozess gemacht, aber er musste sich von der SPD lossagen und stand unter Beobachtung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er zum Zweiten Bürgermeister von Hamburg ernannt. 1946 wurde er zum Präsidenten der Hamburger Bürgerschaft gewählt. Weiter war er an dem neuen Aufbau der SPD und der Gewerkschaften beteiligt. 1948 und 1949 war er der Alterspräsident des Parlamentarischen Rates und fertigte zusammen mit Konrad Adenauer und Hermann Schäfer das Grundgesetz aus.“ 2)

1950 verlieh die Freie und Hansestadt Hamburg ihm die Ehrenbürgerwürde und zwar für die Verdienste um das Gemeinwohl und die Zusammenarbeit zwischen Regierung und Opposition.

Adolph Schönfelders Tochter Prof. Dr. med. Thea Louise Schönfelder (16.2.1925 Hamburg - 25.7.2010 Hamburg), Psychiaterin und Hochschullehrerin in Hamburg, war die erste Frau in Deutschland, die auf einen Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie berufen wurde (UKE Hamburg Eppendorf). Nach ihr wurde bisher noch keine Straße benannt. Ihr Grab befindet sich im Garten der Frauen auf dem Ohlsdorfer Friedhof.

Thea Louise Schönfelders Jugend stand unter dem Zeichen der Verfolgung ihres Vaters durch das nationalsozialistische Regime; die Erfahrung der Gefährdung ihrer Familie blieb für sie lebensgeschichtlich prägend. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges studierte Thea Louise Schönfelder Medizin und wurde 1957 Fachärztin für Psychiatrie. Ein Jahr später begann sie ihre Tätigkeit am Universitäts- Krankenhaus Hamburg-Eppendorf (UKE). Dort habilitierte sie sich 1966 mit einer Arbeit über die Täter-Opfer-Beziehungen bei Sexualdelikten an Kindern. 1970 wurde sie, als erste Frau in Deutschland, auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf berufen, den sie bis zu ihrer Emeritierung im Jahre 1987 innehatte. Dank ihres Einsatzes wurde 1971 zusätzlich zur bestehenden Kinderstation eine Jugendstation am UKE eingerichtet. Schwerpunkte ihrer klinischen Arbeit waren zum einen familientherapeutisch orientierte Behandlungsansätze, zum anderen körper- und symbolbezogene Therapiemethoden (Konzentrative Bewegungstherapie), mit deren Hilfe es ihr möglich war, Zugang zur inneren Welt auch verschlossenster Patientinnen und Patienten zu finden und Kontakt und Verständigung mit gänzlich verstummten Menschen herzustellen. Ihre Arbeit mit Familienskulpturen bereitete den Weg für die heutige Technik der Familien- und Systemaufstellung. „Von Virginia Satir, die Skulpturarbeit in die Familientherapie integrierte, übernahm Thea Schönfelder den spielerischen Umgang mit Form und Haltung. Als Beispiel nannte sie den Satz ‚Ich häng’ an Dir’, den sie realistisch darstellen ließ. Rasch wurde den Beteiligten deutlich, dass eine derartige Beziehung für beide zur Belastung geworden war. In der Schönfelder’schen Familienskulptur stellt ein Betroffener die anderen Beteiligten derart auf, wie sie seiner Meinung nach zueinanderstehen. Jeder bleibt schweigend kurze Zeit in der vorgegebenen Haltung und wird danach befragt, wie es ihm oder ihr in ihrer Position ergangen ist. Das Abfragen der persönlichen Wahrnehmung erfolgt in derselben Art und Weise, wie es später in Familien- und Strukturaufstellung üblich geworden ist. Danach können die Beteiligten spontan bessere Position wählen und werden erneut abgefragt. Letztendlich erfahren alle Familienmitglieder mehr über sich selbst und die anderen Mitglieder des ‚Systems’, dem sie angehören. (…) Insbesondere für die Einzelarbeit mit psychotischen Jugendlichen erschien diese Form wertvoll: ‚Weil man unter Umständen gar keinen andern Kontakt aufnehmen konnte, als über Berührung, über symbolische Bezüge’, so Thea Schönfelder.“ Im Alter von 62 Jahren zog sich Thea Louise Schönfelder 1987 aus ihren institutionellen Aufgaben in ein selbstbestimmtes Privatleben zurück. Sie war weiterhin in Fort-bildung und Supervision tätig. Zusätzlich entfaltete sie neue Interessen und Tätigkeitsbereiche: Sie beschäftigte sich intensiv mit Kreativem Schreiben, leitete dazu Seminare in der Seniorenakademie, sang im Chor der Seniorenkantorei St. Nikolai und wirkte in Altentheater-Projekten am Deutschen Schauspielhaus und am Ernst-Deutsch-Theater mit. Dabei setzte sie sich bewusst und gestalterisch mit ihrer eigenen Generation, dem Prozess des Alterns und dem Tod auseinander. Sie war vielen Menschen eine zuverlässige, warmherzige Freundin und kluge Beraterin. Voll Freude lebte sie ihre Rolle als Großmutter.

Text: Claudia Schönfelder, Tochter von Thea Schönfelder

Zwischen den Jahren 2003 und 2007 schrieb Thea Schönfelder ihre Lebenserinnerungen in Form von Briefen an ihre Enkel, an sich selbst und als kurze Texte auf. Hier Auszüge daraus:

Geburt
„Um die todesnahen Umstände meiner Geburt ranken sich Anekdoten: Wie die Mutter, am Verbluten, sich die Frage einer Pflegerin gefallen lassen muss, was wohl passiere, wenn der Fahrstuhl zum Op. (Kaiserschnitt) stecken bleibe, das Zerren an den dünnen Haaren nach der Narkose durch die gleiche Frau, die nun verkündet, ‚eigentlich’ sei das nun bezogene Krankenzimmer ja die Leichenkammer der Station (‚eigentlich Nr. 13, aber wir sagen 12a!’). ‚Mit dem Kind können Sie aber keinen Staat machen’, spricht sie schließlich und führt das kümmerliche Bündel Mensch vor, 32 cm lang, 1.530 Gramm schwer, behaart ‚wie ein Affe’. Das war ich, eine Frühgeburt. Warum ich am Leben blieb? Meine Eltern, fest entschlossen, dieses Kind zu behalten, nahmen mich aus der Klinik mit nach Haus und päppelten mich mit Pipette und einer mühsam handgemachten Spezialnahrung auf, rund um die Uhr. Vaters Sohn aus erster Ehe war im Ersten Weltkrieg erschossen worden. Ein in der Ehe meiner Eltern geplanter ‚Nachfolger’ endete als namenlose Totgeburt. Kurz danach wurde meine Mutter mit mir schwanger. Ich durfte nicht sterben. Stattdessen wurde ich ein kräftiges leistungsorientiertes Kind, die tüchtige Tochter, eher der ‚tüchtige Sohn’ für den Vater. Gesprochen wurde darüber, wie über Wesentliches überhaupt, im Elternhaus nie. Allenfalls gab Vater eine Anekdote zum Besten und nahm seine Zuflucht zu Glossierung und Sarkasmus. ‚Humor’ hieß das dann.

Adolph Schönfelder: Mein Vater
(…) Vater war noch sehr jung, als er heiratete. Sein ‚Guschen’ (Auguste), wie er seine erste Frau liebevoll nannte, war etwas älter als er. Außer der Tochter Cäcilie hatten die beiden noch den Sohn Ernst, dessen Foto bis zur Ausbombung 1943 über Vaters Schreibtisch hing. Vater sprach sehr selten von ihm: Ein kluger, musikalischer Junge sei er gewesen, feinfühlig und allzu gutmütig, habe er sich doch bei den Wanderungen der Arbeiterjugend immer noch den Rucksack seiner bequemen Schwester mit aufgesackt. Sie kam in seinen Erzählungen immer schlechter weg. Wohl auch, weil sie einen sie und die ganze Gruppe stark dominierenden jüdischen Journalisten geheiratet hatte, nachdem sie einen von der Familie favorisierten jungen Sozialisten aufgegeben hatte. Diesem Umstand schrieb Vater den Kummer seiner Frau zu, der sie krankgemacht und letzten Endes ums Leben gebracht habe. Sie starb Anfang der 1920er-Jahre an Krebs. Über den Verlust des Sohnes, ‚Vatis Ernst’ nach den Worten meiner Mutter, sprach er so gut wie nie. Ich habe irgendwie erfahren, dass er am letzten Tag des Ersten Weltkrieges von einer Granate zerrissen wurde, als er – im Freien – Laute spielte. Er war in ein Strafbataillon versetzt worden, weil er wegen einer Freundin seinen Urlaub zeitlich um ein Weniges überschritten hatte.

So stand unser Vater allein, ohne Frau, ohne seinen Sohn und auch ohne die mit ihrem Mann nach Zwickau verzogene Tochter, als unsere Mutter in sein Leben trat. Er war Kunde in einer Filiale der ‚Konsumgenossenschaft Produktion’, in der Mutter die Leitung hatte. Spät in ihrem Leben hat sie einmal erzählt, dass er in einem erbarmungswürdig depressiven Zustand war, in Gefahr zu ‚versacken’, auch mit Alkohol. So sei sie einfach zu ihm gezogen. Für die damalige Zeit, 1923, sicher ein ungewöhnliches und beherztes Unterfangen.

Die spätere Hochzeit wurde verschwiegen und auch nicht groß gefeiert. Am Abend waren die frisch Verheirateten zu einem üblichen Treff mit den Schulfreunden von Vater gekommen. Die Frau von Robert kredenzte den Kaffee für meine Mutter in einer Tasse mit der Aufschrift ‚Der lieben Braut’, worauf Vater gesagt haben soll, das passe ja fein, weil sie gerade geheiratet hätten. Da ist er für mich deutlich, dieser Hang meines Vaters zu äußerster Zurückhaltung, weniger freundlich: zur Geheimniskrämerei, den ich aus Erzählungen und eigenem Miterleben zur Genüge kenne! (…)

Eine Woche nach meiner Geburt im Februar 1925 wurde Vater zum Senator gewählt, Polizeisenator, sagte man damals. Das deckte sich wohl im Wesentlichen mit dem, was man heute dem Ressort für ‚Inneres’ zuordnet. Bezeichnend ist für ihn, dass er meiner von Kaiserschnitt und Blutverlust geschwächt ‚in den Wochen’ liegenden Mutter diese ehrenvolle Berufung verschwieg. Sie erfuhr davon mehr zufällig und war auch noch nach vielen Jahren innerlich aufgebracht, wenn sie darüber sprach, dass er sich wohl seiner ehemaligen Mitarbeiterin und späteren Freundin der Familie, meiner ‚Tante Thea’, nicht aber ihr anvertraut hatte. Seine Begründung, er habe nicht gewollt, dass seine Frau ‚überschnappe’, machte für meine Mutter sein Verhalten nur noch kränkender, wie sie mir in einem Wiederholungsfalle viel später sagte.

Meine ersten Lebensjahre waren von der unruhigen politischen Situation in der Weimarer Republik geprägt. Solange ich denken kann, waren es die Nazis, die Kommunisten und die reaktionären Bürgerlichen, auf die sich Vaters tiefes Misstrauen und sein Zorn richteten. Wenn er aus dem ‚Amt’ zum Mittagessen nach Haus kam, war die Atmosphäre meist gespannt, jedenfalls kam Unbekümmertheit und Heiterkeit in seiner Gegenwart nicht auf. Ich kriegte das Eintreffen von Drohbriefen mit, den vor der Haustür postierten ‚Schutzmann’ mit scharfem Schäferhund an der Leine und die Klingelanlage, die aus jedem Zimmer der Wohnung ins Polizeirevier um die Ecke führte. Weihnachten 1931 flog ein mit einem Drohbrief umwickelter Ziegelstein durch das Wohnzimmerfenster in meine neue Puppenstube, was in der Folge zu schweren Nachtängsten bei mir führte. Mit uns Kindern wurde der Vorfall und seine vermutlichen Hintergründe nicht angesprochen. Nur mit Mühe setzte meine Mutter die ärztliche Anordnung eines eingeschalteten Nachtlämpchens im Kinderzimmer durch. So blieb die mit der Politik zusammenhängende persönliche Bedrohung im ‚Glimmerlicht’. Ich glaube, es war damals schon so, wie es mir später bewusst wurde: meine oft kranke und immer besorgte Mutter war, wenn es ‚ums Ganze’ ging, voll Sicherheit und Tragfähigkeit, voll Vertrauen. Mein Vater gab sich in konkreten Alltagssituationen ‚wie ein Fels in der Brandung’ und wehrte Gefühlsaufwallungen auch von uns Kindern ärgerlich ab, war aber im Grunde misstrauisch und voller Selbstzweifel. Besonders die Jahre 1931 - 33 waren ängstigende Zeiten des (Ver-) Schweigens. In diesen Jahren und auch später erfuhr man etwas über die väterliche Haltung, seine Meinungen allenfalls dann, wenn die wenigen treuen Freunde zu Besuch waren. Oder man ‚lauschte’ hinter der Schiebetür, die Wohn- und Essraum teilte.

Nach meiner Einschulung 1931 gab es für uns Kinder unbegreifliche Feindschaften allein aus politischer Gesinnung oder Nicht-Gesinnung. Mit meiner Banknachbarin Mausi (uns einte ein Sprachfehler: sie stotterte, ich lispelte) durfte ich nicht spielen: ‚Familie W., das sind Nazis!’ Für einen aus der Arbeiterbewegung hervorgegangenen alten Sozi wie meinen Vater reichte das als Begründung.

In die gleiche Zeit fällt der Versuch, mich politisch auf die ‚richtige’ Seite einzustimmen: ich wollte gern mit den anderen Schulkindern zum Kindergottesdienst, wollte dabei sein. Nichts da. Mir wurde ohne Begründung stattdessen die Teilnahme an einer sozialistischen Kindergruppe (‚Junge Falken’) angeboten. Da war ich dann einmal, ziemlich weit weg von unserer ‚feineren’ Wohngegend, unter fremden, ungewaschen riechenden und lärmenden Kindern. Auf meine Weigerung, da wieder hinzugehen, erfolgte nichts, kein Kommentar. Das war der politische Einfluss, den der Vater in seiner Position auf mein Kinderleben hatte. Wie es ihm selbst damit, mit der Beziehung zu seinen Kindern ging, weiß ich nicht. Zärtlichkeiten hielten sich an rituelle Grenzen. Dafür war die Mutter zuständig. Je älter ich wurde, um so deutlicher war sein Stolz auf die ‚tüchtige Tochter’, die eigentlich ein ‚tüchtiger Sohn’ für ihn war bis hin zu dem als Koseform gewählten Namen ‚Tetsche’. Ich war der ‚Ersatz’ nicht nur für den gefallenen Halbbruder, dessen Namen mein Bruder erbte, sondern auch für den Sohn, den meine Mutter als Totgeburt vor meiner Geburt verloren hatte. All das ist mir erst im Laufe meiner Berufsjahre aufgegangen.

Das Jahr 1933 brachte für Vater den entscheidenden Einschnitt mit Verlust des Amtes, Verfemung als ‚Hoch- und Landesverräter’, Ächtung aller politischen Inhalte, die sein bisheriges Leben ausgemacht hatten. An die Stelle des mächtigen Vaters trat ein gedemütigter, deprimierter Mann, dessen Stimmung wie eine graue Wolke über uns hing und sich selten auflöste. Erst im Nachhinein, nach vielen Jahren, habe ich mir eingestehen können, was ich alles anstellte, um ihn und damit uns zu beschützen. Das hieß: Anpassung, Anpassung, mit den Wölfen heulen, nie unangenehm auffallen, nicht in der Schule, nicht in der sonstigen Öffentlichkeit. Eingefleischt sind diese Muster über viele Jahre hinweg und wirksam auch.

Mir war auch nach 1945, nach Vaters Einsetzung in hohe Ämter und im Zusammenhang mit der Wertschätzung, ja Verehrung seiner Person nie recht deutlich geworden, wie seine Rolle vor 1933 und beim ‚Umbruch’ vornehmlich von linkssozialistischer, besonders kommunistischer Seite beurteilt worden ist. Nach meiner Einschätzung hat er politisch immer auf der rechten Seite der Sozialdemokratie gestanden, sich als Pragmatiker und nie als Ideologen gesehen. Er las zwar viel und systematisch, besonders nach 1933 historisch-biographische Werke. Ich habe aber nie die (bei den Nazis verbotenen) sozialistischen Klassiker bei ihm entdeckt. Aber vielleicht fiel die Beschäftigung damit in eine viel frühere Lebensphase! Dass er vor 1933 als Verantwortlicher für die Polizei gegen kommunistische Kämpfer (von ihm ‚Radikalinski’ bezeichnet) ebenso rigoros vorgehen ließ wie gegen ‚braune Horden’, hat ihm den Ruf als ‚Verräter der Arbeiterklasse’ eingetragen. Und dass er im März 1933 den Senatorenposten von sich aus zurückgab, als die Nazis die SPD-eigene Zeitung verboten hatten, – welche Auswirkungen hatte dies auf sein Selbstgefühl? Was bedeutete für ihn der Satz des NSDAP-Gauleiters, man möge (bei den Gewaltmaßnahmen gegen Sozialisten)‚ den Schönfelder in Ruhe lassen’ – dies von ihm selbst zitiert? Die Tatsache, dass er zwar vorübergehend inhaftiert war, dann aber in den Vorteil einer Pension kam, die den Lebensunterhalt der Familie sicherte? Die Fragen habe ich ihm (und auch meiner Mutter) nie gestellt, sie kamen wohl auch erst nach seinem Tode wirklich auf.

Die schmerzvollen Jahre von 1933 - 1945 habe ich als Kind und Jugendliche in Angst um den Vater miterlebt. Der Vater nicht mehr ‚im Dienst’, mal ‚abgeholt’ und dann eines Tages wieder da, lederbemäntelte Männer, die nachts auch im Kinderzimmer verbotene Schriften suchten: ich sehe Bilder von der gefassten Mutter in den verschiedenen Angstsituationen, kein Bild vom Vater. Nach dem Umzug in eine neue Wohnung (wohl Ende 1933) war er einfach immer da, ging der Mutter zur Hand und hatte das Regime über die Pflichteinteilung im Haushalt. Ich sehe ihn staubsaugend, Schneidebohnen und Sauerkraut in große Tonkübel einlegend, im Waschtopf Pflaumenmus rührend, stundenlang lesend in seinem Sessel am Radiotischchen. Den großen ‚Blaupunkt’ hatte er wegen des möglichen Langwellenempfangs aus dem Ausland, speziell Radio Beromünster aus der Schweiz, gekauft. Jeden Abend, auch und besonders im Krieg, hörte er, mitsamt dem leise gestellten Gerät unter einer geräuschdämpfenden Wolldecke verborgen, die verbotenen Nachrichtensendungen von dort. Wir Kinder waren vom Mithören ausgeschlossen, wie überhaupt die Tendenz des Verschweigens zu Haus verstärkt wirkte. War es die Sorge um unsere eh nicht vorhandene Unbefangenheit, die Angst, wir könnten uns nach außen unvorsichtig äußern? Manches politische Geheimnis sickerte aber durch, jedenfalls bis zu mir, so die Massenmorde an den Juden im Osten, über die einer der seltenen Besucher, ein ehemaliger Mitarbeiter meines Vaters, sich bei ihm aussprach. Manche Untaten und Verbrechen der Nazis kamen mir durch ganz kurze Kommentare der Eltern untereinander zu Ohren, besonders dann, wenn die durchweg depressive Schweigsamkeit von Vater durch einen nur mühsam gebremsten Wutausbruch unterbrochen wurde. Ich erinnere, dass er, mit Magenbeschwerden krank im Bett liegend, laut polternd auf den Hausarzt einschimpfte, dabei mit den Fäusten auf das Arztköfferchen schlagend, und dass dieser, ein ‚harmloser Nazi’ nach der Diktion meiner Mutter, ihm ruhig antwortete, dass er diese Meinungsäußerungen doch bitte keinem anderen Menschen gegenüber wiederholen solle. Einer Bitte (keine Aufforderung!) des Vorstandes der Baugenossenschaft, wie alle andern Hausbewohner anlässlich eines Nazi-Feiertages zu flaggen, kam er dadurch nach, dass er am Ende einer riesigen Fahnenstange einen Hakenkreuzwimpel weit über die Straße hinaus hisste. Der musste dann, auf Veranlassung des von Vater als redlich beurteilten Vorstandsmenschen, natürlich rasch wieder eingeholt werden. Diesem Mann, einem Schulleiter, vertraute er später auch seine halbjüdischen Enkelsöhne an, als diese nach Emigration ihres Vaters und Scheidung der Eltern mit ihrer Mutter, meiner Halbschwester Cilli, nach Hamburg übersiedelt waren. Ihm tat es sichtlich wohl, wenn sein Wort noch bei irgendwem etwas galt, wenn er bei seinen täglichen ausgedehnten Spaziergängen verstohlen von einem Polizisten mit ‚Guten Tag, Herr Senator!’ gegrüßt wurde. Den Gipfel der Loyalität gegenüber dem alten Chef erlebten wir unmittelbar mit, nicht nur ‚wir Familie’, sondern auch die bei einem Fliegeralarm zu Beginn des Krieges im Luftschutzkeller versammelte Hausgemeinschaft. Eine ebenso begeisterte wie dümmliche Nachbarin hatte verkündet, dass der Krieg ja wohl in sechs Wochen siegreich beendet sein würde. Vater wies sie mit dröhnender Stimme zurecht: sechs Jahre werde es dauern und ein Ende mit Schrecken nehmen. Ein hoher Gestapo-Offizier, der ein Stockwerk über uns wohnte, hörte das auch und zugleich weg. Jedenfalls erfolgte keine Anzeige, keine Verhaftung, die meine Mutter prophezeit hatte. Der Mann sei ja auch schon vor ’33 bei der politischen Polizei gewesen und zolle ihm wohl immer noch den nötigen Respekt, meinte Vater. Kontakt zu früheren politischen Freunden, gar in organisierter Form, hat er meines Wissens nicht gehalten. Es gab Besuche und Gegenbesuche mit vertrauten Einzelpersonen und Spaziergänge zu mehreren auf dem Ohlsdorfer Friedhof, wie überhaupt Beerdigungen von Genossen ihre besondere Bedeutung hatten. Mir fällt ein, dass ein ehemaliger SPD-Funktionär nach seinem Rausschmiss ein Bestattungsunternehmen führte. Bei ihm liefen wohl etliche Fäden zusammen und manche Reichsbannerfahne und etliche Sozi-Literatur wurde mit den Verstorbenen beerdigt! Vater war politisch sicher viel besser informiert, als er sich den Anschein gab. Ich konnte zum Beispiel seine milde Haltung gegenüber meinem Schulleiter auf der Oberschule nicht verstehen, lief doch dieser Mann meist in SA-Uniform herum und krähte unablässig ‚Heil Hitler!’ Nach 1945 erfuhr ich, dass er als aktives Mitglied der Bekennenden Kirche über viele Jahre schützend seine Hand über politisch missliebige, strafversetzte Lehrer und rassisch Verfolgte gehalten hatte. Mein Vater wusste das, schwieg aber gegenüber meiner ausgeprägten Abneigung.

Aber auch ich schwieg. Schwieg, als mich in der Grundschule eine Klassenkameradin mit ‚Sozischwein’ titulierte, als eine Musiklehrerin kurz nach 1933 hämisch nach dem Beruf des Vaters fragte und sich an meiner Verlegenheit weidete, als ich dem Senator ein a.(außer) D.(dienst) hinzufügte. Und machte mit, im BDM, beim Aufsagen von Hetzgedichten in der Schulaula. Die Angst, bei eigener Verweigerung würden sie den Vater ‚abholen’, war groß. Zu Haus wurde Abstinenz geübt in Formulierungen der Ereignisse, dem, was zu tun und was zu lassen sei. Und es gab Nischen: Für den Vater im Lesen, im Musikhören, in langen Spaziermärschen, vor allem in den sonntäglichen Fahrten in die Heide, wo die engen Freunde ein abgelegenes Häuschen hatten: Holzhacken, Waldboden für ein kleines Gärtchen urbar machen und den Zaun darumziehen, eiskaltes, eisenhaltiges Wasser mit einiger Mühe der rostigen Pumpe abzwingen: Vaters Sonntagsbeschäftigungen. Und die Möglichkeit ungestörter Gespräche, wenn die Kinder nicht mithörten.

Soll ich zusammenfassen, wie ich Vater in den 12 Jahren der Nazizeit erlebt habe? Schweigsam und depressiv war er, oft bitter, auch in aufgelockerter und zuweilen sogar humoriger Runde, bärbeißig und schroff in seinem Urteil, leidend und selten aufbrausend, dies vornehmlich dann, wenn ihn Sorge um unser Familienschicksal befiel, und immer unangefochten in seiner Autorität. Und immer abhängig von der unermüdlichen, tragenden Liebe seiner Frau. Ich weiß, das klingt pathetisch, aber ich bin heute überzeugt, dass unsere oft kranke und sich schwach gebende Mutter ihre eigene Stärke hintangestellt hat, um die Mächtigkeit ihres Mannes in schlimmen und in glanzvolleren Tagen nicht zu gefährden.

Das Kriegsende erlebte Vater, eben 70-jährig, in bedrängten Verhältnissen: ausgebombt in einem 12 Quadratmeter großen Zimmer, dem Überdruss der sich anfangs solidarisch gebenden Wirtsleute, ehemaligen SPD- und Gewerkschaftsgenossen, ausgesetzt und unter der Angst vor einem sich wiederholenden Schicksal: Ernst in den letzten Kriegswochen noch eingezogen und irgendwo in die Schlacht geschickt, keine Nachricht. Zum anderen die Hoffnung auf ein Ende des verhassten Regimes und der feste Vorsatz: Nie wieder in die Politik, nie!

Es kam ganz anders: Der von der englischen Militärregierung eingesetzte Bürgermeister Petersen hatte Vater telefonisch auf abenteuerliche Weise erreicht und bat um Unterstützung. Die sagte Vater offenbar sofort zu: in den folgenden Tagen fuhr er per Hochbahn frühmorgens ins Rathaus und am Abend, wenn die Verkehrsmittel erneut ihren Betrieb aufnahmen, wieder zurück nach Langenhorn. Ganz inoffiziell und nur vorübergehend wolle er zur Verfügung stehen, versicherte er meiner Mutter. Sie aber hatte – wie oft – die richtige Ahnung und hörte eines Abends im Radio, dass ihr Mann zum Zweiten Bürgermeister ernannt worden sei. Überrascht war sie nicht, nur ungehalten darüber, dass er sie bei der Übernahme eines so wichtigen und ehrenvollen Amtes wie schon 1925 in Unwissenheit gelassen hatte. Sie äußerte sich jedenfalls mir gegenüber unverhohlen!

Das Schicksal des Sohnes lag ihm so auf der Seele, dass er sein eisern vertretenes Prinzip, aus einem Amt keinen persönlichen Vorteil zu ziehen, durchbrach, freilich mit energischer Unterstützung durch seine Sekretärin, die ihm dann viele Jahre lang überaus kompetent zur Seite stand. Ausgestattet mit einem vom englischen Militärgouverneur unterzeichneten Papier und einem Rot-Kreuz-Wagen holte sie den verwundeten Ernst aus einem ungarischen Lazarett in Mecklenburg ab, nachdem eine erste Suche nach ihm vergeblich gewesen war. Wieder hatte Mutter die richtige Ahnung gehabt: Sie zeigte ihre vierblütige Zimmergeranie vor, eine Blüte war fast abgeknickt gewesen. Sie hatte diese mit Streichholz und Mullbinde geschient und sie war wieder angewachsen. Gerettet! Vater machte eine ironische Bemerkung dazu, wie er überhaupt dazu neigte, abwertende Anmerkungen über Sachverhalte und Menschen zu machen. Verübelt wurde ihm das meist nicht: war es der Respekt vor dem lebenserfahrenen Mann, war es die Einordnung als gewisse ‚Schrulligkeit’ oder war es die Erkenntnis, dass dieser so standfest wirkende alte Mann sich auf dem Wege über Entwertung des anderen seiner selbst vergewisserte? Auf diese Fragen bin ich natürlich erst spät (und infiziert von Inhalten meines Berufes!) gekommen.

Ein sich häufig wiederholendes Beispiel habe ich nicht vergessen: Bei jeder passenden und manch einer unpassenden Gelegenheit machte er sich über die Juristerei und deren Vertreter lustig oder kritisierte sie scharf. Und das, obwohl einer seiner vertrautesten Gesprächspartner – oder sollte ich Freund sagen? – einer der führenden Juristen Hamburgs, ja, Westdeutschlands war? In einer zufälligen Begegnung mit diesem auch von mir verehrten Mann kam mir der Gedanke, ob wohl der Vater insgeheim seine mangelnde Schulbildung, die Unmöglichkeit eines (Jura??) –Studiums bedauerte, vielleicht sogar darunter gelitten habe? Seine pointierte Positionsbestimmung als ‚Proletarier’ schien mir oft nicht mehr stimmig. Stolz war er darauf, Zimmermann gewesen zu sein, und hatte zu und über Menschen, die gleich ihm vom Handwerk kamen, generell ein freundliches Wort. Auch, wenn er sich dazu nicht äußerte, lobend schon gar nicht, hat ihn meine berufliche Entwicklung an der Universitätsklinik gefreut. Besonders aber der Umstand, dass Ernst Musiker wurde, hat ihm, hat seinem Herzen wohlgetan. Dass er auf seinem Weg ins Grab an der Oper vorbeigefahren werden wollte, war sein eigener Wunsch.

Vater hat sich in die Belange anderer Menschen nicht wirklich eingemischt. Er vertrat zwar in Dingen, die auch ihn betrafen, energisch den eigenen Standpunkt, ließ uns aber in der Familie ziemlich freie Hand, auch dann, wenn es um wirklich bedeutsame Entscheidungen ging. Er war zugleich tolerant und unduldsam, liebevoll und unzugänglich. In der Öffentlichkeit war er nach 1945 ‚sozialdemokratisches Urgestein’, besonders, als er mit Rückkehr Max Brauers sein Bürgermeisteramt aufgab und Bürgerschaftspräsident wurde. Er hatte es allerdings mit den nachwachsenden Genossen schwer, weil er von ideologischen Debatten wenig bis nichts hielt, und einmal verstieg er sich zu Haus zu der Anmerkung, mit den ‚Bürgerlichen’ habe er es in der Bürgerschaft leichter als mit den ‚eigenen Leuten’. Immerhin hielt es ihn, zunehmend ein weiser Alter, bis zu seinem 85. Lebensjahr in seinem Amt.

Minna Schönfelder: Meine Mutter
Nimmermüde, oft bis zur Erschöpfung hast Du ihm den Rücken gestärkt und hast ihm den Rücken auch freigehalten. Nicht, dass Du blass, unscheinbar gewesen wärest: Mein Blick richtete sich aber über längere und kürzere Zeiten mehr auf den Vater, wohl auch aus Vorsicht, vielleicht auch Angst vor schroffen Reaktionen, mit denen er Verletzlichkeit zudeckte. Wieder bin ich bei ihm, so wie Du immer bei ihm warst bis in Deine Todesstunde, sein Foto und das seines und bald auch Deines Grabes auf dem Nachttischchen des Krankenhauses. Und Du wurdest, des Sprechens nicht mehr mächtig, erst ruhig, aufatmend ruhig, als Ernst und ich, an Deinem Krankenbett stehend, begriffen, was Du brauchtest: den Ring, die beiden Trauringe an den Finger der rechten Hand, die die Krankenschwestern um einer Infusion willen abgenommen und in die Schieblade gelegt hatten. Ernst steckte Dir die Ringe wieder an, ich schob die Fotografien auf dem Nachtschränkchen so, dass Du sie sehen konntest, wenn Du die Augen aufmachtest. Das war unser Abschied von Dir.

Von Deinem Leben weiß ich nicht viel; manches erzähltest Du; wenn wir beide allein den von Dir so geliebten Nachmittagskaffee tranken, manches erlebte ich mit.

Minna Prill wurde als ältestes Mädchen einer kinderreichen Familie in Hamburg geboren. Wie viele Kinder waren es eigentlich? Elf? Neun? Oder?

Vom Leben in ihrer Familie, ihrer frühen Verantwortung sprach unsere Mutter manchmal. So hatte sie jeweils die ganze Familie, einschließlich Wöchnerin und Säugling, zu versorgen, wenn ihre Mutter nahezu jährlich ‚in die Wochen’ kam, anzunehmende und verschwiegene Fehlgeburten inklusive, und versäumte dann die Schule. Einmal kam sie nach mehreren Tagen Schulausfall weinend heim: die Kinder hatten die Bruchrechnung gehabt und sie – offenbar sonst eine der besten Schülerinnen – hatte aus Unkenntnis völlig versagt bei den Aufgaben. Ihre Mutter, nach 4 Tagen Wochenbett am Waschtrog, band sich die Arbeitsschürze ab, die schwarze Satinausgehschürze um, nahm das schluchzende Kind an die Hand und ging mit ihm schnurstracks in die Schule. Sprach zum erstarrten Fräulein Hering von ihrer eigenen Pflicht, Kinder zu gebären, von Minnas Pflicht, so lange an die Stelle der Familienmutter zu treten, bis sie selbst dazu wieder in der Lage war, und von ihrer, der Lehrerin Pflicht, dem Kind das Versäumte beizubringen. Sie drückte Minna in die Schulbank und verließ die Schulklasse mit den Worten, Fräulein Hering solle die Tochter erst dann wieder nach Haus schicken, wenn sie bruchrechnen könne. Triumphierend kam diese nach zwei Stunden heim.

Als sie zwölf Jahre alt war, kam Minna nach der Schule ‚in Stellung’ als sog. Kleinmädchen bei einer jüdischen Familie Kern. Wiederholt hat Mutter von dieser Zeit voller Dankbarkeit erzählt: dass es so gutes Essen dort gab, von dem sie abends auch noch einen Topf für die Familie mit nach Haus nehmen durfte, von dem freundlichen Hausherrn und dessen ungewohnter Kopfbedeckung auch im Hause und besonders bei den Mahlzeiten, von der beliebten Arbeit des Silberputzens und von dem Gehalt (Reichsmark 1,20 pro Woche), das sie am Freitag Abend gänzlich zu Haus ablieferte. Von Kinderspielen, Kinderfreundschaften hat sie nie gesprochen, nur von den Sommerferien. Diese bestanden darin, dass jedes Kind 5 Pfennig ausbezahlt bekam. Sie kaufte sich davon gleich ein Pfund süße Kirschen, aß sie in einem Zuge auf und hatte dann Bauchweh. Das waren die Sommerferien.

Aus ihrer Jugendzeit stammte ein Foto, das leider 1943 in der Bombennacht verbrannt ist: Minna mit einem großen Federhut und einem hochgegürtetem dunklen, langen Kleid, eine sehr schöne, schlanke Frau. Hinten auf diesem Foto in Postkartenformat der Stempel des Fotoateliers. Ich habe es als Kind und Jugendliche manchmal staunend betrachtet: Dies war unsere ‚vollschlanke’ kurzatmige Mutter einst gewesen, die sich bei der Hausarbeit die verschwitzten dünnen Haarsträhnen aus dem Gesicht strich? Eher schon ähnelte sie dem Foto aus der Jugendzeit, wenn sie – in den Jahren vor 1933 – vor dem Ausgehen in fließendes graues Crepe-de-Chine oder durchscheinendes schwarzes Chiffon ‚mit Posamenten’ gekleidet, uns Kindern am Bett Gute-Nacht sagte, dabei leicht nach Uralt-Lavendel und ‚Scherk’-Gesichtspuder riechend – das war das höchste der Gefühle an Make-up und an modischem Aufwand überhaupt. Obwohl sie in jüngeren wie in alten Tagen Sinn hatte für Kleidung, die zu ihr passte, die ‚zu Pass’ war, sehe ich sie vorzugsweise im Hauskittel vor mir, geblümt oder weiß. Jedenfalls wartete manches ‚gute Kleid’ fast ungetragen im Schrank auf irgendeinen besonderen, meist offiziellen Anlass. Lag das auch daran, dass sie sich mit ihrer Häuslichkeit, ihrer Hausfrauenrolle in besserem Einvernehmen fand, als in so manch anderer Verpflichtung? Unsere Hausgehilfin Karla, im Hammer Park mit uns Vorschulkindern spazieren gehend, soll auf die Frage anderer Mütter nach Frau Schönfelder gesagt haben, dass diese lieber zu Hause putze, als am Vormittag im Park spazieren zu gehen. Das erzählte sie einmal, kommentarlos.

Von ihrer Jugendzeit an schwärmte sie für die Heide, die Lüneburger Heide. Mit ein paar Freunden und Freundinnen bezog sie am Wochenende Quartier in einem von den jungen Leuten ausgebauten Schafstall in Bendestorf und machte lange Wanderungen, einmal in den Ferien über eine Woche lang allein mit einer Freundin in der Südheide. Das war vor dem Ersten Weltkrieg. Wochenenden, als Tagesgäste bei der Familie Asmus, mehrwöchig in den Schulferien in einem gemieteten Heidehaus: Die ‚Heide’ blieb für sie etwas Besonderes, auch wenn damit – wegen der zumeist einfachsten Verhältnisse ohne Wasser und Licht – eine für sie zusätzliche Arbeitsbelastung herauskam. In der Tat sehe ich sie in diesen Heidetagen weitgehend arbeitend vor mir, ganz selten mal im Liegestuhl.

Das Meer war ihre zweite große Naturliebe. Sie konnte zwar nicht schwimmen, stürzte sich aber voller Freude ins Wasser. Noch nach Jahrzehnten berichtete Vater aufgebracht von ihrer Begeisterung von den herbststürmischen Wellen auf Sylt. Mit Hemd und Schlüpfer bekleidet, winkte sie fröhlich aus der tobenden Brandung zurück zu ihm, der sie mit heftigem Armwedeln zur Umkehr an den Strand bewegen wollte. Ich sehe sie auch im Strandkorb in Haffkrug, wo wir Kinder in der Vorschulzeit monatelang mit ihr bei einer Fischerfamilie wohnten; Vater kam am Wochenende. Sie lebte auf im Nordseesturm, der uns Keuchhustenkinder fast umpustete. Eine ihrer letzten Reisen führte sie mit der ganzen Familie an den gleichen Ort: Duhnen bei Cuxhaven. Nach Vaters Tod war sie noch mal mit uns allen in der Lüneburger Heide. Schließlich blieb ihr nur noch der geliebte Balkon mit sorgfältig gepflegten, täglich von ihr angesprochenen Geranien und Petunien: rot-weiß.

Für unsere Mutter fing die für uns Kinder bestimmte Chronik ihres Erwachsenenlebens mit dem Zusammenleben mit Adolph S. an. Wer seinerzeit zum Bendestorfer Freundeskreis gehört hatte, ob und welche anderen Freundschaften es gab: Nie hat sie darüber gesprochen und ich habe nie nachgefragt. Erst kurz vor Mutters Tod sagte Tante Thea, enge Freundin der Familie und früher Mitarbeiterin des Vaters, dass es wohl einen Verlobten Paul gegeben habe, der im Ersten Weltkrieg gefallen sei.

Adolph S. hatte sie kennen gelernt als einen Kunden in der Filiale der ‚Neuen Gesellschaft’, die sie leitete. Auf ihren beruflichen Werdegang als Verkäuferin in dieser Konsumgenossenschaft (der Vorläuferin der ‚Produktion’) war sie stolz, und nebenbei erwähnte sie auch ihre Mitgliedschaft in der SPD, wohl über die Gewerkschaft.

Über Einzelheiten aus ihrer Ehe hat sie nicht gesprochen, wie sie überhaupt nur unter jeweils größerem krankheitsabhängigen Druck gelegentlich aufseufzte, dass er ja kein ‚einfacher’ Mann gewesen sei – dies erst nach seinem Tod.

Von ihr als von ‚Minna’ zu schreiben, auch nur zu denken, fällt mir schwer. Sie selbst fand ihn als ‚Kökschen-Namen’ grässlich und meldete sich anlässlich verschiedener Kuraufenthalte auf den entsprechenden Formularen mit ihrem zweiten Namen Elisabeth an!

Die Kuren: das Herz, die Bronchien, manchmal auch Rheuma. Beschwerden haben sie begleitet, seit ich denken kann. Ein langer Mittagsschlaf wurde manchmal mit gesundheitlichen Erfordernissen begründet, wie auch ihre Reisen zur Kur, die sie offensichtlich sehr genoss, allein oder – selten – mit uns Kindern bzw. Ernst allein. Die nachmittägliche Kaffeestunde (einschließlich Sahnetorte) hatte dabei nach meiner Erinnerung sowohl in den Berichten über die ‚Kur’ wie auch zu Haus den entschieden positivsten Effekt! Erst spät habe ich mir die Frage zu stellen gewagt, ob es das vorübergehende Ausklinken aus der Beziehung zu ihrem Mann war, das ihr so gut tat. Ich erinnere seine Ungehaltenheit, wenn sie einmal nicht zur Stelle war, wenn sie von einem ihrer seltenen Besuche bei einem Angehörigen ihrer Familie nicht rechtzeitig, d. h. vor seiner eigenen Rückkehr von langen, einsamen Spaziergängen, zu Hause war. Während sie gern einmal Geselligkeit hatte, gehabt hätte, verhinderte Vaters abweisende Haltung jeden Kontakt, fast jeden, auch den zu ihrer Familie.

Durch ihre sagenumwobene und respektierte Gestalt schien Oma in meiner Kindheit immer die ‚Starke’, meine oft erschöpft wirkende und kränkelnde Mutter die ‚Schwache’, bis mir auch deren Stärke bewusst wurde. In Krisenzeiten, im Krieg und in der Nachkriegszeit, vornehmlich war sie es, die ganz ohne Aufhebens die Familie über die Runden brachte mit menschenfreundlicher Anteilnahme, Verhandlungsgeschick, Anstrengung und dem Tausch von Zigarettenmarken, die wir als Nichtraucher nicht einlösten. So war es für uns selbstverständlich, dass wir auch in Notzeiten immer satt wurden und es auch in der fürsorglichen Betreuung ‚an nichts fehlte’. Eine Ahnung von ihrer Kraft hatte ich schon in Kindertagen erfahren: So, als sie im Morgenrock ruhig in der Tür des Kinderzimmers stand, als die Gestapo bei einer nächtlichen Hausdurchsuchung die Kinderbücher und das Spielzeug aus den Regalen fegte. ‚Sie haben noch nicht unter die Kinderbetten gesehen!’ merkte sie an, als ich mich an sie schmiegte und die Wärme ihres weichen Körpers spürte. Den Vater hatten ‚sie gerade abgeholt’ und in ihr Hauptquartier in der Innenstadt gebracht ‚zur Vernehmung’. Davon erfuhr ich andeutungsweise, als Mutter sich am nächsten Tag dorthin aufgemacht hatte, korrekt in ein feines Kostüm gekleidet, mit einem Stapel gebügelter weißer Oberhemden, Erdbeeren und geschlagener Sahne im Gepäck. Was keiner der anderen Frauen von inhaftierten SPD-Genossen gelungen war: Sie verschaffte sich Zutritt zu ihrem Mann. Er hat später erzählt, dass er am Verstand seiner Frau gezweifelt hatte, als er ihren Aufzug und die ‚Mitbringsel’ sah, bis er begriff, dass sie damit eine unwiderstehliche Normalität hergestellt hatte, die alle gewaltsame Willkür der Gestapo brach. Ihre Sicherheit in Bombennächten und danach, das unerschütterte Vertrauen in die Heimkehr und Genesung ihres kriegsverletzten Sohnes, nachdem eine von ihr gerettete abgeknickte Geranienblüte wieder angewachsen war: zu leicht gerät dies und Vergleichbares aus dem Blick, wenn man die jahrelang herzkranke, oft krankenhausbedürftige Frau der höheren Lebensjahre im Auge hat. ‚Lass Opa nicht allein!’, sagte sie, als sie kurz vor ihrem 65. Geburtstag ihren schweren Angina-pectoris-Anfall hatte. Ihn, der sofort nach der Geburt des ersten Enkelkindes für sie zu ‚Opa’ wurde (vorher ‚Vati’ und nie ‚Adolph’), nicht allein zu lassen, das war wohl das sie auf dieser Welt haltende zwingende Bedürfnis. Dies und die Freude an den Enkelkindern. Erfreut, ja beschwingt kam sie von einem ursprünglich so ungern wahrgenommenen offiziellen Empfang im Rathaus zurück: Das sei so ein netter Mensch gewesen, meinte sie von Haile Selassie, dem damaligen Kaiser von Äthiopien, ihrem Tischherrn. Mit einigem Misstrauen hatte Vater, der in Abwesenheit beider Bürgermeister als Bürgerschaftspräsident die Honneurs machen musste, mitgekriegt, dass ‚die beiden’ die Köpfe zusammensteckten und sich mit Hilfe der jungen Dolmetscherin offenbar blendend unterhielten. Mutter hatte nach kurzer Zeit höflichen Schweigens den Suppenlöffel hingelegt und gefragt: ‚Haben Majestät auch Enkelkinder?’ Darauf wurden Fotos aus der Krokodillederhandtasche und dem ‚Portefeuille’ des Monarchen hin- und hergetauscht und Erläuterungen dazu geliefert. Mutter bezog sich auf das Ihrige und schwieg im Übrigen. Das machte wohl ihre Beliebtheit auch in offiziellen Kreisen aus, die sie im Grunde nicht wahrhaben wollte oder konnte. Sie fühlte sich stark behindert durch eine beiderseitige Schwerhörigkeit, jeweils aufgetreten nach den Narkosen anlässlich der Kaiserschnittgeburten und auf einem Ohr zur Taubheit führend, trug dies Schicksal aber ohne Klagsamkeit mit Würde. Sie fragte selten nach. Erschloss sich Zusammenhänge auf ihre eigene Weise und stellte sich auf den Verlust des Hörvermögens realistisch ein. So bevorzugte sie im Fernsehen Sendungen, in denen man ohne das gesprochene Wort auskam, Sportsendungen, besonders Fußball, und kannte sich darin genau aus. Den Vater erschreckte sie einmal bis ins Mark, als er nachts ihr Bett leer fand und sie vergeblich in der Wohnung gesucht hatte; das war nach ihrem zweiten Herzinfarkt. Verborgen durch eine hohe Sessellehne, saß sie im Wohnzimmer und sah ein Weltmeisterschaftsfußballspiel (mit Uruguay) von der anderen Hälfte der Welt. Von ihrem aufgeregten Mann ließ sie sich dabei nicht stören.

Auf zwei Wünschen beharrte sie im Alter: Zum Geburtstag wollte sie von mir eine Bibel geschenkt bekommen. Sie war die einzige in der Familie ‚in der Kirche’ und half der Gemeinde mit Spenden aus, nachdem sie den Pastor ausgefragt und festgestellt hatte, dass sie ihn als das Kind Gregor kannte, nach dem die Mutter – eine Kundin von ihr – ständig gerufen hatte. Nach ihrem Tode fand ich in ihrem Portemonnaie einen Zettel mit der Angabe eines Bibelverses. In der von mir geschenkten Bibel war das goldfarbene Merkbändchen an dieser Stelle eingelegt.

Im Portemonnaie fand sich auch der Schlüssel zur Kassette, auf deren Anschaffung sie nach Vaters Tod bestanden hatte: für Wertsachen und Papiere, sagte sie. Als ich diese Kassette aufschloss, um die für die Sterbeurkunde erforderlichen Dokumente herauszuholen, fand sich darin nichts außer ihrem Rentenbescheid! Bei aller Trauer habe ich laut gelacht: Mutter hatte oft die Neugierde ihrer Haushilfe beklagt und einmal beiläufig gesagt, dass es ‚keinen was anginge’, was sie an Witwenpension bezöge. Die gesuchten Papiere fanden sich übrigens wie zu Vaters Zeiten in einem alten Schuhkarton, freilich sortiert! (…).“ 3)

Thea Louise Schönfelder, 28.08.2007