Hoffmannstieg
Rahlstedt (1961): Heinrich Hoffmann (13.6.1809 Frankfurt a. M. – 20.9.1894 Frankfurt a. M.), Psychiater, Jugendschriftsteller. Schrieb auch unter dem Pseudonym: Heulalius von Heulenburg, Reimerich Kinderlieb, Peter Struwwel, Polycarpus Gastfenger. Verfasser des Struwwelpeters. Freimaurer.
Der als Kind von Marianne Caroline Hoffmann, geborene Lausberg und des Architekten und städtischen Bauinspektors Philipp Jakob Hoffmann geborene spätere Arzt und Jugendschriftsteller wurde bereits im Alter von knapp einem Jahr Halbwaise, als seine Mutter 1810 starb. Sein Vater heiratete drei Jahre später die Schwester seiner verstorbenen Frau.
Nach dem Abitur studierte Heinrich Hoffmann ab 1829 Medizin und promovierte 1833 in Halle.
In den 1830er Jahren wurde Hoffmann Mitglied der Frankfurter Freimaurerloge „Zur Einigkeit“, die er aber bald verließ. Dazu Hoffmann selbst: „Als nach einigen Jahren aber selbst unsere freisinnige Loge sich (…) bewogen fühlte, gegen die Anerkennung jüdischer Maurer sich auszusprechen, so fand ich in solchem Beschluß einen zu argen Widerspruch gegen den Grundsatz, daß in Logen weder von Politik noch von religiösen und konfessionellen Dingen gesprochen und verhandelt werden durfte, und ich trat dann wieder aus.“1)
1835 ließ sich Hoffmann als praktischer Arzt und Geburtshelfer in Frankfurt am Main nieder. Seine Praxis befand sich im Sachsenhausener Gasthof „Zum Tannenbaum“. Außerdem erhielt er von der Stadt Frankfurt den Posten des Arztes am Leichenschauhaus auf dem Friedhof in Sachsenhausen.
„Von 1835 bis 1846 gehörte er der Armenklinik in der Meisengasse an. Diese 1834 von fünf Frankfurter Ärzten eingerichtete Poliklinik betreute mittellose Patienten in Frankfurt und den umliegenden Dörfern.“ 2)
„Ein Faible H.s war die Gründung geselliger Vereine. Am 9.10.1840 konstituierte sich ein Kreis von Künstlern, Gelehrten und Schriftstellern unter dem Namen ‚Tutti Frutti‘, für den H. die Statuten verfasste. Unter Verzicht auf akademische Titel trugen die Vereinsmitglieder den Namen einer Frucht. H. war die ‚Zwiebel‘. Mit den meisten Malern der Stadt in Verbindung stehend, wurde H. 1841 Mitglied der Administration des Städelschen Kunstinstituts (bis 1855).“3)
Im selben Jahr als sich der Verein „Tutti Frutti“ gründete, heiratete der humorbegabte, aber finanziell nicht gesicherte Hoffmann Therese Donner (13.9.1818 Brüssel – 1.1.1911 Frankfurt a. M.), deren Vater ein begüterter Frankfurter Hutfabrikant war. Das Paar bekam drei Kinder, geboren 1841, 1844 und 1848.
Heinrich Hoffmann verdiente von 1844 bis 1851 sein Geld auch mit Anatomie-Unterricht am Dr. Senckenbergischen Institut. 1851 wurde er Direktor der „Anstalt für Irre und Epileptische“ der städtischen Nervenklinik Frankfurt a. M.
„Die kerkerartigen Zustände dieses ‚Tollhauses‘ hatten sich seit Beginn des 17. Jahrhunderts kaum gebessert, wenngleich mit der Aufklärung (…) auch in Deutschland ein Wandel bezüglich Pflege und Unterbringung der ‚Besessenen‘ eingetreten war. H. erkannte im Sinne der Aufklärungsmedizin die Notwendigkeit umfassender Änderungen und erlangte als Psychiater und Hygieniker Bedeutung, indem er sich die Fortschritte der Psychiatrie zunutze machte und für sachgemäße Beschäftigung, vernünftige Ernährung, humane Behandlung, Ordnung und Sauberkeit eintrat. Höhepunkt seines ärztlichen Schaffens bildete die Errichtung einer neuen ‚Anstalt für Irre und Epileptische‘ auf dem Affenstein (1864), an deren Entwurf und Planung durch O. Pichler der Architektensohn wesentlichen Anteil hatte. Diese großzügige und für weitere Bauten (…) mustergültig angelegte Heilanstalt ist sein großes Verdienst.“ 4) Hoffmann leitete die Klinik bis zu seiner Pensionierung 1888.
Neben seiner medizinischen Tätigkeit beschäftigte sich Hoffmann mit Politik und war während der bürgerlichen Revolution 1848 Abgeordneter im Frankfurter Vorparlament. „(…). Hoffmann selbst befürwortete eine konstitutionelle Monarchie unter preußischer Führung (…). In seinen satirischen Schriften (…) wandte er sich entschieden gegen die Republikaner.“ 5)
Hoffmann widmete sich besonders der Literatur. Er veröffentlichte unter verschiedenen Pseudonymen seit 1842 Gedichte und Theaterstücke. Als Humorist und Satiriker begeisterte er viele Menschen. In der Neuen Deutschen Biographie heißt es dazu: Hoffmann: „trat als Herausgeber des ‚Frankfurter Hinkenden Boten‘ (1851/52) und des ‚Liederbuchs für Naturforscher und Ärzte‘ (1867), als Lyriker, Humorist (Humoristische Studien, 1847) und beliebter Festredner hervor. (…). Große Erfolge erzielte H. als literarisch-satirischer Gesellschaftskritiker, (…). ‚Die Mondzügler‘ (1843) gehen mit aristophanischer Schärfe zahlreichen Erscheinungen der Zeit wie Hegelscher Naturphilosophie, romantischem Dichtertum, Auswanderungsseuche zuleibe. In der Satire ‚Bad Salzloch‘ (1860) erfahren die Auswüchse der Balneotherapie und des mondänen Kurlebens eine mutwillige Darstellung. Eine Pathologie der politischen Wirren des Jahres 1848 geben 2 Satiren: Im ‚Handbüchlein für Wühler‘ (1848) werden die radikalen Demokraten, im ‚Heulerspiegel‘ (1849) die Reaktionäre bloßgestellt.“ 6)
Ein Welthit wurde Hoffmanns Kinderbuch „Der Struwwelpeter“, das er mit zahlreichen selbstgezeichneten Bildern versah. Er schrieb es für seinen ältesten Sohn, denn die damals in der Zeit der Romantik angebotenen Kinderbücher waren Hoffmann zu moralisch. Und so schrieb er seine Geschichten, die er mit eigenen Zeichnungen versah in ein Heft, welches er seinem Sohn zu Weihnachten 1844 schenkte. „In dem Buch erzählt Hoffmann Geschichten von Kindern, die nicht brav sind, nicht auf ihre Eltern hören und denen deshalb allerlei grausames Unheil widerfährt: So wird der ‚bitterböse Friederich‘, der Tiere quält, entsprechend bestraft (‚Da biss der Hund ihn in das Bein, recht tief bis in das Blut hinein‘); (…); die Kinder, die einen schwarzen Mann verspotten, werden in ein riesiges Tintenfass gestopft und noch viel schwärzer eingefärbt; der fliegende Robert wird mit seinem Regenschirm vom Wind auf Nimmerwiedersehen fortgetragen, weil er bei Sturm trotz Verbots aus dem Haus geht; dem Konrad werden vom Schneider die Daumen abgeschnitten, weil er heimlich daran nuckelt.(…).“ 7)
Nur eine Geschichte im Struwwelpeter handelt von einem Mädchen: Paulinchen, und ist das weibliche Gegenstück zum bösen Friederich. „Paulinchen wie Friederich scheinen dem ersten Kindesalter schon entwachsen. Dem extravertiert aggressiven Verhalten des Jungen korrespondiert die sich im Hausinnern abspielende Selbstzerstörung des Mädchens. (…) Die Abwesenheit der Eltern macht Paulinchen (…) ausgelassen und fröhlich, sie springt durch das Zimmer (…). Daß unkontrollierte und lebhaften Motorik von Hoffmann nicht positiv bewertet wird, zeigen die Geschichten vom Zappel-Philipp und Hanns Guck-in-die Luft (…). So kann man annehmen, daß Hoffman damit Paulinchen als leichtsinnig zu charakterisieren versucht. (…) Für ihre Puppe, die ihr Hoffmann in der zweiten Fassung zuweist, scheint (…) Paulinchen wenig Interesse zu haben. Auf den ersten Bild läßt sie sie achtlos mit einer Hand auf dem Boden schliefen (…). Puppenspiel aber gilt, da es die späteren Mutteraufgaben vorwegnimmt, als nützlich und angemessen. (…) Paulinchen will ‚wie’s oft die Mutter hat getan‘, ein Streichholz anzünden. Ihr Fehler liegt nicht nur darin, etwas zu tun, was sie offensichtlich nicht darf, sondern schon, daß sie den Gebrauchsgegenstand Feuerzeug, der nur nützlich ist und nichts weiter, seinem Zweck entfremdet und spielerisch verwendet.“ 8) Schließlich verbrennt sie.
Isa Schikorsky schreibt in ihrem Buch „Schnellkurs Kinder- und Jugendliteratur“ über den Struwwelpeter: „Die außerordentlich einprägsamen Bilder und Verse (…I sind (…) von schonungsloser Deutlichkeit. Hoffmann vermochte sich tief in die Psyche von Kindern einzufühlen, hatten diese ihm doch immer wieder ihre ureigensten Ängste, Fantasien und Sehnsüchte anvertraut. Obwohl er in seinen Geschichten auf das altbekannte Muster der moralischen Abschreckung zurückgriff, schuf er dennoch ein innovatives Werk, das seine einzigartige Wirkung aus der Übersteigerung bezieht. Die Illustrationen tendieren zur Karikatur, der bürgerliche Kinderalltag wird in surrealer Weise überzeichnet und die schrecklichen Folgen des Ungehorsams sind so absurd übertrieben in Szene gesetzt, dass sie nicht nur Angst, sondern auch befreiendes Lachen produzieren.“ 9) Hoffmann wurde von seinen Freunden überredet, die Geschichten mit den Illustrationen zu veröffentlichen – und in einer Weinlaune sagte der Autor Hoffmann zu. „Aus Furcht, die Veröffentlichung eines Kinderbuchs könnte dem Ruf als Arzt schaden, ließ H. die erste Ausgabe des ‚Struwwelpeter‘ unter dem Pseudonym Reimerich Kinderlieb drucken.“ 10)
Hoffmann schrieb noch weitere fünf Kinderbücher. Der „Struwwelpeter“ blieb aber das meistverkaufte Buch.
1850 wurde dem Struwwelpeter durch den Erfurter Lehrer Mühlfeld eine Struwwelsuse dazugesellt.
Als Pendant zum Struwwelpeter erschien 1890 die „Struwwelliese“, verfasst von Julius Lütje. Dieses Buch sollte die Mädchen ansprechen und behandelte deshalb angeblich typisch weibliche Fehler wie Neugier und Naschen.
„Die Charaktere in dem Buch ‚Struwwelliese‘ sind wilde Mädchen, die im Gegensatz zu den Geschichten aus Struwwelpeter nicht sterben, sondern nach wildem Herumtollen nur krank oder verletzt sind. Sie werden in den Geschichten nach dem Unfall gerettet und erleben oft einen magischen Sinneswandel.
Wie im Struwwelpeter warnt auch Lütje vor alltäglichen Gefahren der Zeit, wie Zündeln und Ärgern von Hunden. Auch hier gibt es mehrere unabhängige Protagonisten wie ‚Zündel-Gretchen‘, die neugierige ‚Klara‘, ‚Naschlotte‘ und ‚Lottchen‘, die den Hund „Hektor“ ärgert.“ 11)
„Seinen Lebensabend stellte H. unter das Motto: „Bergab, aber bequem!“ Von 1889 bis 1891 schrieb er seine erst 1926 veröffentlichten „Lebenserinnerungen“. H. starb nach einem Schlaganfall.“ 12)