Hubert-Fichte-Weg
Lokstedt (2012): Hubert Fichte (21.3.1935 Perleberg - 8.3.1988 Hamburg), Schriftsteller.
Siehe auch: Ida-Ehre-Platz
Siehe auch: Leonore-Mau-Weg
Hubert Fichte gilt als „Vordenker von Queer Studies und postkolonialer Forschung“. 1)
Geboren wurde er als uneheliches Kind von Dora Fichte, einer Büroangestellten. Sein Vater war der jüdische Kaufmann Reinhard Oberschützky. Dieser emigrierte in der NS-Zeit nach Schweden.
Hubert Fichte wurde in erster Linie von seiner Großmutter aufgezogen, da seine Mutter erwerbstätig sein musste.
Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete seine Mutter als Schauspielerin und Souffleuse. Über sie bekam Hubert Fichte Kinderrollen in verschiedenen Theatern. So kam er als Zwölfjähriger als Kinderdarsteller zu Ida Ehre (siehe: Ida-Ehre-Platz) in die Kammerspiele. „Wie sollten wir leben ohne das Geld, das ich dazuverdiente?“
1950 begann Fichte mit dem Schauspielstudium bei Helmuth Gmelin und trat in dessen Theater im Zimmer auf. In diesem Jahr begann die Freundschaft mit der Fotografin Leonore Mau (1916–2013).“ 1) Die beiden lebten in Hamburg-Othmarschen zusammen. Nach ihr wurde 2022 eine Verkehrsfläche in Hamburg benannt.
Hubert Fichte äußerte seine Einstellung über Geschlechter und deren vermeintliche Grenzen: „ (…) ich hab doch alles, was ich mein Leben lang getan habe, nur in der und für die Illusion der großen Verschwulung der Welt getan, und damit hab ich nie gemeint, alle sollten schwul sein und werden – sondern, daß es gleich ist, ob man mit Mann oder mit Frau oder mit beiden oder Frau mit Frau oder acht auf einmal etwas miteinander tun. Der große eine Körper – das hab ich gemeint. Und das haben sie uns kaputt gemacht.“ 2)
Auf seinem Grabstein auf dem Nienstedtener Friedhof steht „Einst schon bin ich ein Knabe, /ich bin auch ein Mädchen gewesen, /Busch und Vogel und Fisch, /der warm aus dem Wasser empor schnellt.“
Hubert Fichte unternahm viele Weltreisen. „Um 1953 herum arbeitete er zeitweilig als Schafhirte in der Provence, (…). Zwischenzeitlich hatte er von 1955 bis 1957 im norddeutschen Holstein ein Landwirtschaftsstudium absolviert und 1958 im schwedischen Järna die Landwirtschaft in einem Heim für schwererziehbare Kinder geleitet. (…)
1971 studierte Fichte die afrobrasilianischen Religionen in Bahia. Von dort reiste er nach Argentinien zu Jorge Luis Borges und nach Chile zu Salvador Allende. 1972 hielt Fichte sich in Haiti auf. Es folgten von 1973 bis 1974 Reisen nach Tansania, Äthiopien, Trinidad und in die Dominikanische Republik.
Die später von ihm selbst als ‚Ethnopoesie‘ zusammengefassten Werke wie Xango (1976) und Petersilie (1980) verließen dabei die lyrische Perspektive nicht. Eher einer Ethnografie des Inlands verpflichtet sind seine St.-Pauli-Interviews, die zuerst 1972 unter dem Titel Interviews aus dem Palais d’Amour etc. dann 1978 erweitert unter dem Titel Wolli Indienfahrer erschienen sind, ebenso seine Interviews mit Hans-Peter Reichelt (Hans Eppendorfer. Der Ledermann spricht mit Hubert Fichte, 1977). [Parallel zu Fichtes ethnografischen Büchern erschienen die Fotobände Xango und Petersilie – gemeinsam mit der Fotografin Leonore Mau.]“ 1)
1968 veröffentlichte er den Roman „Die Palette“. „Der Titel bezieht sich auf das Lokal gleichen Namens in der ABC-Straße, in dem der Protagonist Jäcki die Gegenwelt zur westdeutschen Wohlstandsgesellschaft kennenlernt. F. zeichnet das Gegenmillieu der Gammler-, Huren- und Stricherkneipe mit Hilfe sprachlicher Mimesis und gibt sich doch nie der Illusion hin, einen Ausschnitt der Wirklichkeit authentisch zu erfassen.“ 3) Auch über die bekannte Musikkneipe/Veranstaltungszentrum „Grünspan“ auf St. Pauli an der Großen Freiheit schrieb Hubert Fichte einen Roman „Detlevs Imitationen Grünspan“.
Die Kneipe „Die Palette“ gibt es heute nicht mehr. An der Stelle, wo sie einst gewesen ist, ist eine Gedenktafel angebracht. Darauf steht:
„Das Szenelokal war ab den fünfziger Jahren bis 1964 ein legendärer Treffpunkt von Bohemiens, Gammlern und Hafenarbeitern, dem Hubert Fichte mit seinem Roman Die Palette von 1968 ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Hubert Fichte, am 21. März 1935 in Perleberg geboren, wuchs bei seiner Mutter in Hamburg-Lokstedt auf. Ab 1962 lebte er zusammen mit der Fotografin Leonore Mau. Gemeinsam unternahmen sie zahlreiche Reisen, die sie durch Europa, Afrika und Südamerika führten. Daraus entstand ein welthaltiges Werk mit autobiographischen Zügen, das verschiedene Milieus, Kulturen und sexuelle Identitäten auslotet. Am 8. März 1986 starb Hubert Fichte in Hamburg. „In der Palette gibt es alles. Die Palette ist das Beste, was es in Hamburg gibt.“
Auch mit Leonore Mau unternahm Fichte viele Reisen. Sie wuchs behütet in einer großbürgerlichen Familie in Leipzig auf. Sie studierte Bühnenbild an der Leipziger Kunsthochschule für Graphik und Buchkunst und absolvierte eine Ausbildung zur Pressefotografin. Ihren ersten Fotoapparat hatte sie schon mit zwölf bekommen. Mit 20 heiratete sie den erfolgreichen Architekten Ludwig Mau und wurde Mutter zweier Kinder.
In den Wirren des Zweiten Weltkriegs floh die Familie nach Hamburg. 1950 kaufte Eleonore Mau ihre erste Leica auf Raten. „Wie ich die Kamera in der Hand hatte, da hatte ich ganz schnell das Gefühl, die lass’ ich nicht mehr los. Dann habe ich auch eine richtige Lehre gemacht bei einem Photographen“. Es folgten erste Veröffentlichungen von Bildreportagen, Architekturaufnahmen und Objektfotografien in Zeitschriften wie „Schöner Wohnen“: „Ich hatte begriffen, dass man mit Architektur viel Geld machen kann. Im Ausland fotografiert man 2-3 Tage ein Haus und dann hat man immer noch Zeit, die Fotos zu machen, zu denen man wirklich Lust hat“ (Leonore Mau im Film von Nathalie David 2005).
Bei einem Literatur-Jour-Fixe, der regelmäßig von ihrem Mann veranstaltet wurde, lernte sie den 20 Jahre jüngeren Hubert Fichte (geb. 1935) kennen. Diese Begegnung veränderte beider Leben radikal. Mit 50 tauschte sie die Hausfrauen- und Mutterrolle in einem schönen Haus in Blankenese gegen ein ungewisses Leben in einer 1-Zimmer-Wohnung an der Elbchaussee. Auf einer gemeinsamen Reise nach Paris sagte Hubert Fichte zu ihr: Aus Dir mache ich eine Photographin von Welt, worauf sie antwortete: und aus Dir mache ich einen berühmten Schriftsteller (Nathalie David, Biografie Leonore Mau).
Der bis dahin ziellos durch Europa streifende Fichte begann zu schreiben: „In Irmas Zimmer roch es nach Parfüms, nach unbekannten Crèmes, nach Entwickler, Fixierbad und – nach Uhu. So riecht eine Photographin“ (Zitat aus „Hotel Garni“). Seit 1962 lebte und arbeitete sie zusammen mit dem bald berühmten Autor („Die Palette“ 1968). 1964 begleitete sie Hubert Fichte nach Berlin und porträtierte das Who’s Who der damaligen Literaturszene. Nach einem Intermezzo in einem Spätjugendstilhaus an der Elbschaussee („in den hohen Hausnummern“) bezogen sie eine Wohnung in Othmarschen.
Gemeinsam reisten sie 1969 erstmals nach Brasilien. Bis zum Anfang der 1980er Jahre unternahmen sie selbst organisierte Feldforschungsreisen. Dazu schrieb die Künstlerin und Publizistin Ursula Herrndorf in einem Interview-Porträt mit der 89-jährigen Künstlerin 2005: „Leonore Mau spricht viele Sprachen. Englisch und Französisch natürlich, Portugiesisch und Kreolisch. Wie viele noch, weiß sie schon gar nicht mehr. Die meisten aber hat sie gelernt, um eine ganz andere als die europäische Kultur zu erkunden. Unzählige Reisen führten sie mit Hubert Fichte nach Brasilien, Haiti, Kuba, Venezuela oder Westafrika (Herrndorf 2005). Die nächste Reise von 1971 an dauerte zwei Jahre. Sie machten Abstecher nach Argentinien und Chile, wo sie Präsident Salvador Allende und den Dichter Jorge Louis Borges trafen. Besonders aber führte die Reise in die Armenviertel. Den World-Presse-Preis erhielt Leonore Mau 1975 für ihr Foto eines afrikanischen Jungen mit Tablettenmaske. „Da, wo man Trommeln hört, muß man hingehen, um die ursprünglichen Riten zu erleben“, erinnerte sich die Fotografin 2005. „Die Menschen haben ein Gespür. Sie merken, wenn man vor dem Haus steht“. Leonore Mau und Hubert Fichte wurden meistens eingelassen. „Wenn man die Sprache spricht, ist es nicht schwierig, an die Menschen ranzukommen’. Ihre Freunde haben die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen: Ihr hättet tot sein können! Aber Leonore Mau hatte niemals Angst. Auch nicht, als sie später, 1981, bei den Priesterinnen der ‚Casa de Minas’ lebten und hautnah kulturelle Handlungen des ‚Candomblé’ (Voodoo) erfuhren. Fotografien voller Magie sind in all diesen Jahren entstanden. Aufnahmen von verstörender Schönheit. Nah, aber niemals voyeuristisch“, erzählen sie von Wahnsinn, Krieg und Verfall, Tod und Leben“ (Herrndorf 2005). Leonore Mau fotografiert die Sekunde der Ekstase, wie sie explodiert aus Gebet, Wasser, Rauch, Milch, Blut; und ihr weltliches Gegenstück, die Versunkenheit. Sie bildet das Reich der Religionen ab, heilige Orte und Handlungen“, befand der Kunsthistoriker Wolfgang v. Wangenheim in der Frankfurter Rundschau vom 23.3.1985. „Ich wusste vorher nicht, dass Photographieren so indiskret ist. Aber von mir wurde immer gesagt: Sie ist ja so diskret“ (Leonore Mau in der Film-Dokumentation v. Nathalie David 2005).
In Wort und Bild entstand so ein einmaliges Lebenswerk, veröffentlicht in Büchern wie "Xango" oder "Petersilie". Die Poesie und die Präzision ihrer Arbeit haben die beiden berühmt gemacht. Ihre damals einmaligen und sensationellen Fotos verkaufte Eleonore Mau erfolgreich an alle großen zeitgenössischen Printmedien wie Stern und Spiegel. 2006 präsentierten die Hamburger Deichtorhallen Zeugnisse dieser Lebensreise unter dem Titel „Hubert Fichte und Leonore Mau. Der Schriftsteller und die Fotografin“ in einer Ausstellung mit rund 200 Fotografien und 400 Vitrinen voller „Ethnopoesie“.
Über die Wechselwirkung zwischen Hubert Fichte und Leonore Mau befand die Ethnologin Denise Fragner: „Die Lakonie seines Stils und sein Programm der Sprachverknappung, das manchmal nur den Namen nennt, um die Dinge kurz zu belichten, ist ohne das Medium Fotografie nicht vorstellbar. In seinem Schreiben – besonders im Roman ‚Eine glückliche Liebe’ – reflektiert Jäcki, der Ethnologe, über die Arbeitsweisen von ihm selbst und seiner Begleiterin, der Fotografin Irma. Im Roman schildert Fichte die beiden als Konkurrenten, und besonders Jäcki beneidet Irma darum, mithilfe der Kamera ein vollständiges, genaues Abbild dessen, was sie sieht, zu bekommen. Abgesehen von ihrer Eigenschaft als Fotografin taucht Irma als Lebenspartnerin, Reisegefährtin und Diskussionspartnerin auf. Einzig in Xango (Textband) erscheint sie unter dem Namen ‚Leonore’“ (Fragner 2010). Leonore Mau selbst äußerte sich zeitlebens taktvoll zu ihrer Beziehung: „Wir hatten die gleichen Antennen. Er hat nie fotografiert. Das war meine Sache. Aber manchmal hat er plötzlich gesagt: ‚Komm, ich mache mal ein Foto von dir.’ Diese Aufnahmen sind die besten Porträts von mir“ (Herrndorf 2005).
Aufgrund des Mangels an anderen Quellen sind die Textpassagen, in denen Fichte die Beziehung zwischen Jäcki und Irma beschreibt, als Grundlage für die Beschreibung der Beziehung zwischen Fichte und Mau verwendet worden. So ziehen einige Fichte-ForscherInnen den Roman „Hotel Garni“ von 1987, Die Geschichte der Empfindlichkeit, Band 1, heran. In ihm beschrieb Fichte, wie sich der schwule Schriftsteller Jäcki und die Fotografin Irma auf einer Reise annähern. Sie erzählen einander ihr Leben und von ihrer Sexualität. Gegen Ende des Buches schlafen sie miteinander – für Jäcki ist es das erste Mal, dass er mit einer Frau schläft (vgl. Fragner 2010). „Gemeinsam erforschten sie ihr Leben – wie sie fremde Kulturen, Riten, Kontinente erforscht hatten. Ohne Deutungs- und Fluchtversuche. Rücksichten auf gängige Konventionen wurden nicht genommen. Direkt und ohne Sicherheitsabstand stoßen die Lebensgeschichten aneinander. Jäcki befragt Irma in ‚Hotel Garni’. Nach ihrem frühesten Erlebnis, ihrer Sexualität, ihrem Leben im Nazi-Deutschland, ihrer Ehe, ihrer Arbeit. ‚Findest du meine Fragerei respektlos? / Was ist denn das, respektlos?’. (...) Ja, es habe schon Leute gegeben, ‚die überhaupt nicht verstehen konnten, wie ich so etwas zulassen konnte’, berichtet Leonore Mau und zeigt sich davon unbeeindruckt. ‚Mir macht das keine Schwierigkeiten. Das ist ein Buch. Das ist Literatur. Wenn es jemand in fünfzig Jahren liest, ist ihm das ganz egal, wer das ist. Dann liest er es einfach so. Und wenn es schön geschrieben ist, und ich finde die Sprache von Hubert Fichte sehr schön, weiß ich überhaupt nicht, was jemand dabei findet’, erklärt sie und weiß: ‚Es wird auch so viel geklatscht. Klatsch ist ja etwas, was den Menschen Spaß macht.’ Als sie das sagt, lächelt sie wie ein Komplize“ (Raimund Hoghe 1988).
Nach dem Tod Fichtes 1986 fand Leonore Mau wieder zu ihren Anfängen zurück: 1988 begleitete „das phantastische Auge der Leonore Mau“ (Ronald Kay) das Pina Bausch Ensemble in Wuppertal mit ihrer Kamera. Zuletzt entstanden vor allem Aufnahmen von Stillleben, Masken und Skulpturen sowie Objècts trouvés aus ihrer Wohnung unter dem Titel „Fata Morgana“.
Mit 97 Jahren verstarb Leonore Mau am 22. September 2013 in Hamburg. In einer umfangreichen Retrospektive hat die S. Fischer Stiftung und die Stiftung F.C. Gundlach (zusammengestellt von Franziska Mecklenburg) die Fotografin und ihre einzigartige Motivwelt mit der Hommage „Das zweite Gesicht“ postum von Februar bis März 2014 im „Haus der Photographie Deichtorhallen Hamburg“ gewürdigt. Leonore Mau lebte bis zuletzt in Hamburg-Othmarschen. Sie ist, wie Hubert Fichte, auf dem Friedhof Nienstedten bestattet.
Hubert Fichte soll einmal über seine Arbeitsbeziehung zu der Fotografin gesagt haben: „Ich will die Welt von unten beschreiben und du fotografierst sie von oben. Ich will mit allen Männern der Welt schlafen - ich will alle Männer beim Schlafen beobachten. Schade, daß wir nicht gemeinsam da rangehen. Was wäre das für ein Experiment. Du die Architekten – ich die Zuhälter und die Strichjungen.“4)
Text über Leonore Mau: Dr. Cornelia Göksu