Marco-Polo-Terrassen
HafenCity (2005): Marco Polo (1254 Venedig? – 8.1.1324 Venedig), venezianischer Händler, schrieb Berichte über seine Handelsreisen, so nach China.
Der Name von Marco Polos Mutter ist nicht überliefert. Sein Vater war Niccolò Polo, der zur Zeit der Geburt seines Sohnes Marco mit seinem Bruder auf Handelsreise in Asien war. Dabei kamen sie in Kontakt mit Kublai Khan, dem Herrscher über China.
1271 reisten die beiden Brüder nochmals nach China und nahmen den damals 17jährigen Marco mit. „Günstig dafür: Marco Polo lebt sich schnell in der neuen Umgebung ein und agiert auch gegenüber dem Großkhan und seinem Hofstaat sehr diplomatisch und geschickt. Schnell steigt er in der Gunst Kublai Khans auf und wird schon bald zu seinem persönlichen Vertrauten und Berichterstatter ernannt. Im Auftrag des Mongolenherrschers bereist Polo nun dessen gesamtes Reich – von Sibirien bis nach Tibet, von der Mongolei bis nach Korea.“ 1) 17 Jahre lang lebte Marco Polo am Hof des Mongolenherrscher Kublai Khan. Er erhielt einen Beamtenstatus und trieb eine Zeitlang Steuern ein.
„Als unruhige Zeiten auszubrechen drohten, wollten die Polos zurück nach Venedig reisen. Trotz ihrer Bittgesuche ließ der Großkhan sie nicht ziehen, da sie ihm inzwischen eine wertvolle Stütze geworden waren. Zu diesem Zeitpunkt erschienen drei persische Diplomaten mit ihrem Gefolge am Hofe Kubilai Khans und baten um eine Braut für den Khan Arghun des persischen Il-Khanats. Der Mongolenherrscher bestimmte die siebzehnjährige Prinzessin Kököchin zur Vermählung, die nach Persien geführt werden sollte. Da der Landweg zu gefährlich war, ergriffen die Kaufleute diese Gelegenheit und schlugen dem Großkhan vor, die Prinzessin zusammen mit den Diplomaten auf dem Seeweg sicher nach Persien zu geleiten. Widerstrebend nahm dieser schließlich das einzig aussichtsreiche Angebot an und erlaubte ihnen damit letztlich die Heimreise.“ 2)
So konnten die Polos nur deshalb zurück in ihre Heimat gelangen, weil sie als Begleiter einer Prinzessin fungierten, die zwangsverheiratet werden sollte. 1295 kehrten die Polos zurück nach Venedig. Wenig später nahm Marco Polo als Flottenkommandant: „an einem Seekrieg teil, in den Venedig schon seit Jahren mit seinem Erzrivalen Genua verstrickt war“ 3). 1298 wurde er gefangen genommen. Im Gefängnis, in dem er bis 1299 einsitzen musste, traf er auf einen Mitgefangenen, den Schreiber und Schriftsteller Rustichello da Pisa. Ihm erzählte er von seinen Reisen. Gemeinsam verfassten sie den Reisebericht "Il Milione – Die Wunder der Welt“.
Sein Reisebericht wurde zu einem "Bestseller". „(…) rund 150 Handschriften sind erhalten, darunter auch von Übersetzungen in andere Sprachen, (…). Die größte Verbreitung fand die lateinische Übersetzung des Dominikaners Francesco Pipino aus Bologna, die allein in über 50 Handschriften erhalten ist. Darüber hinaus wurde das Buch von Gelehrten aller Art ausgewertet, vor allem Geographen, die Polos sehr exakt wirkende Entfernungsangaben für ihre Karten übernahmen. (…).“ 4)
Durch die Übersetzung zum Beispiel des Dominikaners Francesco Pipino erhielten Marco Polos Texte inhaltliche Ausrichtungen, die ursprünglich nicht vorhanden waren. So wurden: „Alle Aussagen über andere Religionen (…) mit abwertenden Zusätzen versehen (…). Während es über das armenische Turkvolk in der franko-italienischen Fassung lediglich hieß, es folgte dem Gesetz Mohammeds, sprach die Pipino-Fassung von dem Gesetz des verabscheuungswürdigen Mohammed (…). Auch die Sitten und Gebräuche verschiedener Völker, die der F-Text lediglich konstatiert hatte, bezeichnete der Pipino-Text häufig als abscheulich oder frevelhaft und stellte sie in einen ursächlichen Zusammenhang mit dem Götzenglauben des jeweiligen Volkes. So hatte Marco Polo im F-Text ohne jede Wertung beschrieben in Tibet gelte es als unfein, eine Jungfrau zu heiraten und deshalb sollten die jungen Tibeterinnen möglichst viele Sexualpartner gehabt haben, bevor sie heirateten. Deshalb böten die älteren Tibeterinnen den durchziehenden Reisenden die jungen Frauen an, um sich auf jede Weise mit ihnen zu vergnügen. Wenn die Reisenden dann weiterzögen, sei es üblich, der jungen Frau ein Schmuckstück oder sonst ein Andenken zu schenken, damit sie beweisen könne, mit wie vielen Männern sie schon Verkehr gehabt habe, je mehr solcher Zeichen eine Tibeterin habe, desto beliebter sei sie als Heiratskandidatin. Aus diesem Grund, so schloss der franko-italienische Text, sei es für junge Männer von sechzehn bis vierundzwanzig Jahren recht angenehm, diese Gegend zu besuchen. Der Marco Polo des Pipino-Textes dagegen bezeichnete den Heiratsbrauch der Tibeter als (…) absurd und sehr abscheulich und fügte erläuternd hinzu, jener üble Brauch sei eine Folge des Götzenglaubens.“ 5)
Beide Beschreibungen wurden aus der damals vorherrschenden patriarchalen Sicht auf Männer und Frauen verfasst und deshalb Fragen nach dem Selbstbestimmungsrecht der Frauen bei der Auswahl und Anzahl der zu „beglückenden“ Männer nicht gestellt.
„Polos Sichtweise unterschied sich von späteren europäischen Reiseberichten, die weitgehend vom Wunsch nach Eroberung und dem Gefühl zivilisatorischer Überlegenheit bestimmt waren. ‚Marco war erstaunt über den Reichtum und die Macht der mongolischen Herrscher zu einer Zeit, in der der Osten im Vergleich zum mittelalterlichen Europa als reich und wohlhabend galt. Seine Einstellung unterschied sich daher sehr von der späterer europäischer Entdecker und militanter Kolonialisten‘, erklärt Zhang Longxi, Professor an der Yenching-Akademie der Universität Peking,“ 6) heißt es in Christina Buracks Beitrag „Marco Polo – und wie ihn die Welt sah“.
Nachdem Marco Polo 1299 als 45jähriger Mann aus dem Gefängnis entlassen worden war, heiratete er in Venedig die Kaufmannstochter Donata Badoer. Das Paar bekam drei Töchter und lebte im Stadtteil Cannaregio.
Marco Polo muss einen mongolischen Sklaven namens Piedro Tartarino „besessen“ haben. In seinem Testament verfügte er dessen Freilassung.
Heute beschäftigt sich die Forschung mit der Frage: aus welcher Perspektive hat Marco Polo die Welt gesehen? Dazu schreibt Marina Münkler in ihrem Buch „Marco Polo. Leben und Legende“ aus dem Jahr 2015: „Am nachdrücklichsten ist die These von ‚Marco Polo mercante‘ in der jüngeren Forschung (…). Die These von ‚Marco Polo mercante‘ hat freilich das Problem, erklären zu müssen, warum Marco Polo sich selbst nicht als Kaufmann bezeichnet und vieles berichtet hat, was mit der behaupteten merkantilen und rationalen Perspektive eines Fernhandelskaufmanns nicht in Einklang zu bringen ist. Unverkennbar nämlich ging Marco Polo weit über das sich auf Waren, Preise und Handelsrouten ohne jegliche narrative Gestaltung beschränkende Wissen der Kaufleute hinaus und beschrieb den Aufstieg der Tataren, ihre Kriege und Schlachten, die gute Herrschaft des Großkhans, die Pracht seiner Städte und seines Reiches, die merkwürdigen Gepflogenheiten seiner Bewohner (…).
Ob sich freilich zu seiner Zeit Kaufleute durch die Lektüre von Berichten auf ihre Handelsreisen vorbereiteten, ist eher zweifelhaft (…). Ob Marco Polo zumindest die Phantasie von Fernhändlern über die in Fernostasien erzielbaren Gewinne zu beflügeln vermochte, ist ebenfalls zweifelhaft, denn als sein Bericht erschien, war er kein Pionier mehr, sondern die Handelsstraßen Asiens waren voll von Europäern, die längst wussten, wie hoch die erzielbaren Gewinne waren (…).“ 7)
Andere WissenschaftlerInnen sehen „in ihm einen kulturellen Überläufer (…), der Asien aus der Sichtweise eines mongolischen Hofmanns beschrieben habe“. 8) Marina Münkler schreibt dazu: „Nach Jacques Heers‘ Auffassung war Marco Polo ein ‚homme de cour‘, der seine Berichte an den Großkhan mit Anekdoten und Fabeln ausgeschmückt und all die in den Bericht eingegangenen wunderbaren Dinge erzählt habe, um seinem Herrscher zu gefallen. (…) Heers erklärt aus dieser Konstellation die anekdotischen und ‚fabulösen‘ Elemente des Berichts, während er die ‚realistischen‘ Teile darauf zurückführt, dass Marco Polo als Steuerbeamter im Dienste des Großkhans tätig gewesen sei. Wo er realistisch und nüchtern berichte, sei sein Blick nicht der eines Kaufmanns, sondern der eines Steuerberatern gewesen. (…).“9)
Und weiter äußert Marina Münkler: „Die einander scheinbar widersprechenden Interpretationen von Marco Polos Bericht gleichen sich darin, dass sie ihm eine bestimmte Perspektive unterstellen, durch die Marco Polo als Autor vereindeutigt werden soll. [Doch] (…) Marco Polo und mit ihm sein Vater und sein Onkel werden abwechselnd als Gesandte, Missionare, venezianische Edelleute und schließlich – in späteren Textfassungen – als Forschungsreisende beschrieben. Marco Polo wurde damit immer als das vorgestellt, als was man sich je einen Kenner Asiens vorstellte; seine Beschreibung Asiens wurde dabei immer so abgewandelt, wie man glaubte, dass die Beschreibung eines wahren Asienkenners sein müsse. Die Voraussetzung dafür war zweifellos, dass Marco Polos Identität nicht eindeutig festgelegt, sondern in seinem Text von Anfang an so offengehalten worden war, dass jeder Leser oder jede Gruppe von Lesern ihn als das sehen konnte, als was sie ihn sehen wollten.“10)