Hamburger Straßennamen -
nach Personen benannt

Vinzenzweg

Wilstorf (1952): Vinzenz von Paul (28.3.1581 Pouy, heute Saint-Vincent-de-Paul – 27.9.1660 Paris), heiliggesprochener Priester.


Vor 1952 hieß die Straße Wiesenstraße. In der NS-Zeit sollte die Straße im Zuge des Groß-Hamburg-Gesetzes in Wiener Straße umbenannt werden, da nun das bisherige Staatsgebiet Hamburg um benachbarte preußische Landkreise und kreisfreie Städte erweitert worden war und es dadurch zu Doppelungen bei Straßennamen kam. Bedingt durch den Krieg kam es nicht mehr zu dieser Umbenennung und es blieb bis 1952 bei Wiesenstraße und wurde dann umbenannt in Vinzenzweg. (vgl.: Staatsarchiv Hamburg 133-1 II, 26819/38 Geschäftsakten betr. Straßennamen B. Die große Umbenennung hamb. Straßen 1938-1946. Ergebnisse der Umbenennung in amtlichen Listen der alten und neuen Straßennamen vom Dez. 1938 und Dez. 1946)

Der französische Priester Vinzenz von Paul: „gilt auf Grund seines Wirkens auf dem Gebiet der Armenfürsorge und Krankenpflege als Begründer der neuzeitlichen Karitas. Am 13. August 1729 wurde Vinzenz durch Benedikt XIII. selig- und am 16. Juni 1737 durch Clemens XII. heiliggesprochen. 1885 ernannte Leo XIII. ihn zum Schutzpatron des Ordens der Barmherzigen Schwestern vom Hl. Vinzenz von Paul (‚Vinzentinerinnen‘).“ 1)

Der Vinzenzweg in Hamburg Wilstorf liegt in der Nähe des „Vinzenzhauses“, eines von den Schwestern der „Kongregation der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul“ geleiteten Altenheims und Kindergartens.

Vinzenz von Paul stammte aus einem kleinen Dorf in der Gascogne und war das dritte von sechs Kindern der Bäuerin Bertrande von Moras und des Bauern Jean von Paul. Vinzenz von Paul sollte Priester werden. Sein Vater schickte ihn 1588 zur Schule nach Dax. Ab seinem 16. Lebensjahr studierte er bis 1604 Theologie an der Universität Toulouse. „Seine Studienjahre finanzierte er sich durch die Leitung eines kleinen Pensionats in der Stadt Buzet vor den Toren von Toulouse, wo er Kinder von Adligen unterrichtete. (…)

Die einzelnen Stufen zur Priesterweihe durchlief Vinzenz von Paul in knapp vier Jahren,“ schreibt Daniel Steinke in seiner Dissertation über „Vinzenz von Paul und die Praxis der Sklaverei im Mittelmeerraum“2)

Seine Priesterweihe erhielt Vinzenz von Paul im Jahr 1600. Die nächsten Jahre zog er als Kleriker in den Landen herum, immer auf der Suche nach einer finanziell einträglichen Stelle. 1607 kam er nach Paris und suchte auch hier einen Gönner oder Förderer. Dabei lernte er „Charles du Fresne, den Sekretär der Königin Margarete von Valois (1553-1615) kennen, der ihm eine Stelle als Ratgeber und Almosenverteiler der Königin vermittelte.“3)

Doch das reichte Vinzenz von Paul nicht. Er strebte weiterhin eine einträgliche Stelle an, mit der er sein Auskommen bestreiten und seine Familie finanziell unterstützen konnte. Als er 1610 zum Abt ernannt und ihm das Kloster Saint-Léonard-de-Chaume übertragen wurde, dachte er sich am Ziel seiner Wünsche. Doch die Klosteranlage war heruntergewirtschaftet und warf keine Einkünfte ab. 1616 trennte sich Vinzenz von Paul davon. Vier Jahre zuvor hatte er 1612 durch Vermittlung auch die Pfarrei von Clichy-la-Garenne und 1613 wieder durch Vermittlung eine Anstellung als Hauslehrer der drei Söhne des Generals der Galeeren Philippe-Emmanuel von Gondi (1580-1662) und dessen Ehefrau Francoise-Marguerite von Silly (1580-1625) erhalten. Die Familie Gondi gehörte zu den bedeutendsten Adelsfamilien. Daniel Steinke schreibt: „Vinzenz von Paul, dem Bauernsohn und einfachen Priester, öffneten sich durch seine Anstellung als Hausgeistlicher die Türen zum inneren Kreis der kirchlichen und weltlichen Elite des französischen Königsreichs. Er hatte es geschafft, einen Posten zu bekommen, der seinem Streben nach Ansehen und Auskommen entsprach. Darüber hinaus brachte ihm seine Tätigkeit im Hause Gondi neben seiner Zisterzienserabtei und der Pfarrei Clichy eine weitere Pfründe ein. Am 20.Mai 1615 veranlasste Philippe-Emmanuel von Gondi, dass in dessen Patronatskirche in Écouis, Vinzenz von Paul als Schatzmeister in die Reihe der Chorherren aufgenommen wurde, (…). Die Ernennung bedeutete für Vinzenz von Paul weitere Einkünfte: den damit verbundenen Pflichten ging er allerdings nicht nach. (…)

Nachdem sich Vinzenz von Paul bei den Gondi sowohl eine ehrenvolle Position als auch weitere Einkünfte gesichert hatte, verzichtete er auf sein Amt als Kommendatarabt von Saint-Léonard-de.Chaume (…). Zusätzlich zu den bereits akkumulierten Ämtern wurde er 1619 auf Initiative des Generals der Galeeren zum königlichen Galeerenseelsorger ernannt. 1625 gründete das Ehepaar Gondi die Kongregation der Mission und übertrug deren Leitung und die Verwaltung des gewaltigen Stiftungsvermögens ihrem Hausgeistlichen Vinzenz von Paul.“4)

Neben seiner Tätigkeit als Erzieher der drei Gondi-Kinder hatte Vinzenz von Paul die Gräfin Francoise-Marguerite von Silly geistlich zu begleiten. Zwischen ihnen entstand eine sehr enge Beziehung. Madame von Gondi widmete sich der Almosenverteilung und kümmerte sich um Kranke, Arme, Witwen und Waisen. Außerdem wollte das Ehepaar Gondi, dass seine Untertanen auf den Gondi-Ländereien im katholischen Glauben unterwiesen wurden.

Madame von Gondi „sensibilisierte [Vinzenz von Paul] für die Betreuung der armen Landbevölkerung. Dabei machte sie ihren Hausgeistlichen auf die häufig mangelhafte Ausbildung der Dorfpriester aufmerksam und auf die Wichtigkeit der Beichte. Die Gräfin war es auch, die Vinzenz von Paul dazu anregte, den Menschen die Generalbeichte abzunehmen – ein Kernelement seiner späteren Missionstätigkeiten -, und pochte ausdrücklich darauf, die hierfür geltende Absolutionsformel zu verwenden.“ 5)

Vinzenz von Paul erfuhr, dass seine Predigten, in denen er über notleidende Bewohnerinnen und Bewohner sprach, die Zuhöhrenden motivierte, zu helfen. Und so sah er seine Berufung darin, sich in den Dienst für die Armen zu stellen, diese religiös zu unterweisen und ihnen materielle Hilfe anzugedeihen. Er begann „ein Netz gegenseitiger Hilfe aufzubauen. Dazu sammelte er fromme Frauen um sich.“ 6) und gründete so 1617 die erste Charité-Bruderschaft - Confrérie des Dames de la Charité, die „Bruderschaft der Damen der christlichen Liebe“. „Ihre Mitglieder sollten Armen, Kranken und Gefangenen zu Hilfe kommen, indem sie sie besuchten, ein gutes Wort für sie hatten oder sie finanziell oder materiell unterstützten. (…)
Mitglieder werden konnten fromme und tugendhafte Frauen – Ehefrauen, Witwen und Mädchen eingeschlossen -, solange sie die Erlaubnis ihres Mannes, des Vaters oder der Mutter hatten. Meist stammten die Frauen aus dem Bürgertum oder dem niedrigen Adel. Verwalter dieser Gruppe aber sollte ein frommer Mann sein, sei es Kleriker oder engagierter Laie, da es sich nicht gezieme, dass Frauen Führungsgewalt ausübten. (…)

Eine der Damen sollte zur Priorin der Gruppe gewählt werden und die Arbeit der anderen Mitglieder koordinieren.“7)

Im Laufe der Zeit bildeten sich weitere Landmissionen und gründeten sich Charité-Gruppen.
1619 – wie bereits erwähnt – bekam Vinzenz von Paul das Amt des Galeerenseelsorgers übertragen, ein Amt, das bisher von der Kirche vernachlässigt worden war. Mit dieser Aufgabe erhielt Vinzenz von Paul eine weitere Pfründe. Der Anblick der Rudermannschaften (Forcats: Verurteilte Männer, in Ketten gelegt) auf den Galeeren hatte Vinzenz von Pauls Mitgefühl geweckt. Und auch die Gefängnisinsassen hatte er im Blick, denn auch diese Menschen bedurften der seelischen Betreuung. Doch erst ab ca, 1639/40 „sind erste Betreuungen der Forcats belegt und zwar durch die Mädchen der Charité im Pariser Gefängnis La Tournelle.“ 8)

Daniel Steinke äußert über die 1629 gegründeten Charité-Gruppen in Paris, dass sich die Damen aus diesen Gruppen nicht in der Gefängnisfürsorge engagierten. „Anders als bei den Charité-Bruderschaften in kleineren Städten erledigten sie auch nicht die niedrigen Aufgaben der Armen- und Krankenfürsorge. (…) In einer Konferenz erwähnt Vinzenz von Paul, dass die Verpflichtungen der verheirateten Frauen ihrem Ehemann gegenüber oder im Falle unverheirateter Mädchen, die Eltern einem solchen Engagement entgegen gestanden hätten. In einer anderen Konferenz klingt es in Vinzenz von Pauls Worten eher so, als wären die niedrigen und nicht standesgemäßen Aufgaben selbst das eigentliche Problem gewesen.“ 9)
Doch bald nahte die Lösung aus der Misere. 1630 kam das Landmädchen Marguerite Nezot (Naseau) zu Vinzenz von Paul nach Paris. „Sie hatte ihn während einer seiner Missionen kennengelernt und wollte sich nun ganz für den Dienst an den Armen zur Verfügung stellen. Weitere Mädchen aus umliegenden Dörfern folgten und Vinzenz von Paul vertraute sie der Leitung von Louise von Marillac [12.8.1591 Paris – 15.3.1660 Paris] an. Drei Jahre später, am 29. November 1633 wurde die Vereinigung Filles de Charité, der Mädchen bz. Töchter der Charité in der Wohnung von Louise von Marillac in der Pfarrei Saint-Nicolas-du-Chardonnet gegründet.“ 10) Louise von Marillac, wurde Im März 1934 von Papst Pius XI. heiliggesprochen. Sie gilt als Schutzpatronin der Sozialarbeitenden und Witwen. Geboren als uneheliche Tochter des Chevaliers Louis I. de Marillac, seigneur de Ferrières-en-Brie et de Villiers-Adam (1556–1604) wurde sie von ihrem Vater im Alter von drei Jahren als „natürliche Tochter“ legitimiert und durch eine lebenslange Rente finanziell abgesichert. „Louise wuchs im Kloster Saint-Louis de Poissy auf. 1613, mit 22 Jahren, heiratete Louise den Geheimkämmerer (= Sekretär) der Königin Maria de‘ Medici, Antoine Le Gras, und gebar 1614 einen Sohn, Michel. Nach dem Tode ihres Mannes 1625 suchte sie in ihrer Niedergeschlagenheit einen Seelsorger und lernte so – (…) Vinzenz von Paul kennen. Die Begegnung mit Vinzenz gab ihrem Leben eine Wendung.“ 11)

Vinzenz von Paul übertrug ihr 1628 die Gesamtleitung der von ihm seit 1617 an verschiedenen Orten gegründeten Confréries des Dames de la Charité („Bruderschaften der Damen der Nächstenliebe“).
„1633 nahm Louise in ihrem Haus in Paris einige junge Bauernmädchen auf, die sie zunächst im Lesen und Schreiben unterrichtete – damals unerhört, weil jegliche Bildung als für Bauernmädchen unnötig galt. Danach betreuten die jungen Frauen und Louise Findelkinder, Patienten im Hôtel-Dieu sowie Strafgefangene und richteten Suppenküchen ein. Aus dieser Gemeinschaft entwickelte sich die Genossenschaft der Töchter der christlichen Liebe vom Hl. Vinzenz von Paul (Vinzentinerinnen), die sie mit Vinzenz von Paul gründete. Bis zu ihrem Tod leitete Luise de Marillac das Mutterhaus der Kongregation in Paris. (…). Die Kongregation der Töchter der christlichen Liebe wuchs zu einer der weltweit größten Ordensgemeinschaften.“ 12)

Aber nicht durch Louise von Marillac, sondern durch diese jungen Frauen sogenannter einfacher Herkunft, „die sich nicht für die niedrigen Aufgaben zu schade waren, kam Vinzenz von Pauls Armenseelsorge in Paris richtig in Gang. Aus der zufälligen Begegnung mit Marguerite Nezot [6.7.1594 – Februar 1633] und ihren mutigen Schritt, Vinzenz von Paul aufzusuchen, entwickelte sich unter der Mitwirkung von Louise von Marillac langfristig eine neue Frauenkongregation, [in der die Frauen kein Ordensgelübde ablegten]: Die Mädchen der Charité. Ziel ihrer Fürsorge war es, die Armen wieder zu ‚Freunden Gottes‘ zu machen. Das hieß konkret, dass sie die Armen zum Empfang der Sakramente und einer christlichen Lebensführung führen sollten. Die Sorge um die körperlichen Bedürfnisse war dem geistlichen Ziel unter- und nachgeordnet. Die Mädchen der Charité sollten sich die Sorge um das Seelenheil der Armen zur Grundmaxime aller Bemühungen machen.“ 13)

Die Frauen besuchten die Gefangenen und brachten ihnen Wäsche und Mahlzeiten mit. Für diese Besuche gab es Verhaltensregeln, die einzuhalten waren. So sollten die Frauen den Gefangenen keine Vorwürfe machen, stattdessen ihnen mitleidig begegnen, aber auch nicht den Unschuldbeteuerungen der Gefangengen Glauben schenken und niemals Fluchthilfe leisten.

Galeerensklaven
Ein anderes Betätigungsfeld des Vinzenz von Paul war die Galeerenseelsorge. Auf den Galeeren mussten auch Sklaven arbeiten. „Diese Sklaven stammten aus dem gesamten Mittelmeerraum, besonders jedoch von der Nordafrikanischen Küste. (…) Diese Galeerensklaven gelangten über verschiedene Kanäle nach Frankreich und diverse Akteure waren am Sklavenerwerb beteiligt. Quelle für diesen Typ von Sklaven war vornehmlich der Kapernkrieg im Mittelmeerraum und Überfälle auf muslimische Küstenstädte, speziell auf die der Barbareskenstaaten. Hierbei taten sich besonders die Ritter des Ordens des heiligen Johannes vom Spital zu Jerusalem hervor. Von Malta aus entfaltete der Johanniterorden eine starke Maritime Aktivität und spielte als ‚Bollwerk der Christenheit‘ eine führende Rolle im See- und Kapernkrieg. Die Malteserritter und deren Vasallen, die unter der Flagge des Ordens ihr Korsarentum ausübten, fungierten dabei förmlich als Menschenjäger. Der Sklavenmarkt von Malta belieferte ja nach ‚Fang‘ die verschiedenen Höfe Europas, unter anderen z. B. den Papst und den König von Frankreich. (…)

Das Versklaven von ‚Ungläubigen‘ war eine allgemein akzeptierte und rechtlich legitimierte Praxis im Mittelmeerraum,“ 14) schreibt Daniel Steinke in seinem Buch über Vinzenz von Paul und die Praxis der Sklaverei.

Auch christliche Sklaven wurden zur Ruderarbeit auf den Galeerenschiffen eingesetzt. Diese Sklaven kamen meist aus Spanien und Italien, wenn Frankreich mit diesen Ländern im Krieg lag, denn Kriegsgefangene wurden versklavt.

Sklaven in Nordafrika
In Nordafrika gab es christliche Sklaven, die zum Beispiel auf algerischen und tunesischen Galeeren arbeiten mussten. „Die Lebensbedingungen der europäischen Sklaven in Algier und Tunis hingen auch von der Art und Weise ab, wie man in den europäischen Ländern die nordafrikanischen und osmanischen Sklaven behandelte. Berichte oder bereits Gerüchte über die schlechte Behandlung bewirkten sofortige Repressionsmaßnamen auf der anderen Seite des Mittelmeers., Als größte Gefahr schätzten Vinzenz von Paul und seine Missionare den Glaubensabfall und eine Konversion zum Islam ein. Spiritueller Trost, Sakramentsspendung und materielle Hilfe waren die Antworten, die Vinzens von Paul durch die Entsendung seiner Missionare auf das wahrgenommene Leid der christlichen Sklaven geben wollte. Er verstand seine Kongregation dabei nicht als eine neue Art von Loskaufinstitution, sondern ordnete die Befreiung aus der physischen Sklaverei den pastoralen Anliegen nach.“15)

Wie stand Vinzens Paul zur Sklaverei?
Dazu schreibt Daniel Steinke: „Die von den Türken praktizierte Sklavenhaltung prangerte er ausdrücklich als Barbarentum an und dämonisierte die Muslime in diesem Kontext. Menschen zu versklaven erscheint im Fall Nordafrikas als etwas Abscheuliches. (…) Im Falle der muslimischen Sklaven, die auf jeder französischen Galeere zum Einsatz kamen, schwieg Vinzenz von Paul. Nirgendwo problematisierte er die Praxis der Sklaverei in Frankreich. (…) Umso überraschender ist (…), dass Vinzenz von Paul an einigen Stellen des Quellenkorpus ganz explizit die Auffassung vertritt, dass Christentum und Sklaverei unvereinbar seien und dass Christen weder mit Menschen handelten noch Sklaven hielten. (…)

Seine Verurteilung des Verkaufs von Menschen wird (…) durch die Erwähnung der muslimischen Praxis der Sklaverei und durch die Semantik, der Schande noch unterstrichen. Der Verweis auf die Türken suggeriert zudem, dass Christen so etwas nicht tun, zumindest nicht tun sollten. (…)

Vinzenz von Paul vertrat (…) die These, dass Christen keinen Menschenhandel und keine Sklavenhaltung mehr betreiben würden. Nicht nur angesichts des zeitgenössischen transatlantischen Sklavenhandels, sondern insbesondere aufgrund seiner Erfahrungen aus der Galeerenseelsorge in Marseille und Toulon ist diese Aussage überraschend. (…).“ 16)

Mit der Ablehnung der Sklaverei implizierte Vinzenz von Paul jedoch nicht die die Befreiung der Versklavten aus der physischen Sklaverei. Dies war für ihn untergeordnet. Wichtiger war für ihn die „Befreiung aus der Sklaverei der Sünde. (…), die Befreiung aus der inneren Sklaverei. Denn als ‚Sklaven der Sünde‘ seien die Menschen von Gott getrennt.“ 17)

Steinke kommt zu dem Schluss: „Von entscheidender Bedeutung bei der Bewertung der verschiedenen Formen von Unfreiheit und Gewalt war die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Freiheit bei gleichzeitiger Priorisierung des Seelenheils. (…)

Die Sorge um das Seelenheil nahm Vinzenz von Paul aber nicht den Blick auf die physische Not der Forcats und Sklaven in Frankreich und in Nordafrika. (…).“ 18) Doch für Vinzenz von Paul hatten die erfahrenen Gewalterlebnisse und das körperlich ertragende Leid eine geistige Bedeutung mit heilbringender Wirkung. Denn: „Durch das Leiden Jesu-Christi seien die Menschen aus der Sklaverei der Sünde erlöst worden, Gott selbst bediene sich des Leids, um den Sünder zu strafen und den Tugendhaften zu prüfen. (…) Kein Leid sei sinnlos, solange es in rechter Gesinnung ertragen werde, denn ‚Gott‘, so Vinzenz von Pauls spirituelle Überzeugung; ‚weiß aus dem Bösen das Gute zu ziehen‘. Diese Deutung bot er auch im Kontext der Galeeren- und Sklavenseelsorge an: Wenn einerseits die Versklavten und Inhaftierten das erfahrene Leid im Glauben tugendhaft ertrügen, dann könne Gott aus der Sklaverei und der Galeerenstrafe ein höheres Gut erwachsen lassen. Während die Forcats auf den französischen Galeeren in den Augen von Vinzenz von Paul ihr Leid selbst verschuldet hatten und als Buße ansehen sollten, waren die christlichen Sklaven in Nordafrika zwar unverschuldet in Gefangenschaft geraten, sollten ihr Leid aber als von Gott zugelassene Prüfung ertragen. Die Bewältigungsstrategie war in beiden Fällen dieselbe: Es galt das Leid als Läuterungsprozess zu nutzen und nicht gegen Gott und das ewige Los zu revoltieren. Für die muslimischen Sklaven und die protestantischen Forcats in Frankreich konnte ihre Gefangenschaft sogar zu einem Heilsmittel werden, wenn sie sich während ihrer Gefangenschaft zum katholischen Glauben bekehrten. Das gleiche gilt für orthodoxe und protestantische Sklaven in Nordafrika. Bekehrten sie sich zum Katholizismus, so deutete Vinzenz von Paul ihre Sklaverei als pädagogisches Mittel im göttlichen Heilsplan.
Vinzenz von Paul war sich durchaus bewusst, dass Erfahrungen physischer Qualen Menschen am Sinn des Lebens und an der christlichen Botschaft zweifeln lassen konnten. Es war daher Teil seiner Missionsstrategie, sich auch um die materiellen Bedürfnisse der Menschen zu kümmern, um so für seine spirituelle Botschaft Bereitschaft und Offenheit zu schaffen. (…)

Für Vinzenz von Paul standen Sklaverei und Galeerenstrafe nicht im Widerspruch zur katholischen Glaubenslehre und zum biblischen Gebot der Nächstenliebe. Mit dieser Auffassung entsprach Vinzenz von Paul ganz der Lehrmeinung zeitgenössischer Theologen und Gelehrten. (…)

Vinzenz von Pauls Seelsorge und die in diesem Zuge vermittelte Deutung der Galeerenstrafe trug folglich zur Stabilisierung bestehender Macht- und Gewaltverhältnisse im System Galeere bei. Dass die meisten Forcats aber nicht wegen Kapitalverbrechen, sondern wegen Salzschmuggel, Diebstahl, Betrug, Vagabundieren oder schlichtweg wegen Bettelei zu den Galeeren verurteilt worden waren, beanstandete oder irritierte Vinzenz von Paul nicht.“19)