Hamburger Straßennamen -
nach Personen benannt

Bei der Matthäuskirche

Winterhude (1926), nach der Lage zur Kirche, Namensherleitung Heiliger Matthäus


Nadja Boeck widmet sich in ihrem Aufsatz „Frauen im Matthäusevangelium – revisited“ der Rolle der Frau, die bei Matthäus‘ herauslesbar ist. In ihrer Zusammenfassung kommt sie zu folgendem Resultat:Aus diesen Untersuchungen [gemeint sind ihre, in ihrem Aufsatz dargelegten Untersuchungen, R. B.] ergibt sich folgendes Frauenbild: Das Matthäusevangelium bleibt seiner Zeit entsprechend ein Text, der aus einer androzentrischen Perspektive geschrieben wurde. In dieser androzentrischen main story kommen Frauen nicht selbst zu Wort. Sie werden in stereotypen Frauenrollen gezeigt oder es wird in Männerdialogen über sie debattiert und entschieden.

Aber es gibt eine counter story, die immer wieder unterbrechend in die dominante Geschichte eingreift. Diese Unterbrechungen sind zuerst nur kleine Farbtupfer im Evangelium. Wie ein Crescendo steigert sich die counter story mit einem ersten Höhepunkt bei der Erzählung der kanaanäischen Frau bis hin zur Passions- und Ostererzählung, in der die Frauengeschichte für einen kurzen Augenblick zur Hauptgeschichte wird. In dieser counter story werden stereotype Frauenrollen aufgebrochen, z. B. werden Frauen nicht nur mit Tischdienst assoziiert (Matthäus 8,14-15), sondern als Jüngerinnen dargestellt (Matthäus 8,14-15; Matthäus 12,46-50; Passions- und Ostergeschichte). Die counter story wird durch die Erwähnung der Frauen in der Genealogie eingeleitet, indem die Frauen dort schon einen Lesehinweis geben, dass in der kommenden Erzählung auf die Handlungen der Frauen geachtet werden soll. Frauen werden in den Texten der counter story in aktiven Rollen gezeigt, sie treten für ihre Belange ein, zum Teil mit Risiko für sich selbst. Am Ende wird ihr Verhalten immer positiv bewertet (Matthäus 9,18-26; Matthäus 15, 21-28, Matthäus 26,6-13, auch Matthäus 27,19). Ebenso wird der große Glauben der Frauen hervorgehoben und sie werden als Glaubensvorbilder dargestellt (Matthäus 9,18-28; Matthäus 15,21-28; Matthäus 25,1-13; Matthäus 26,6-13, ebenso zeigt das Verhalten der Frauen am Kreuz, was von JüngInnen Jesu erwartet wird). Frauen werden in Zusammenhängen von Mahlzeiten nicht als Hetären verunglimpft (Matthäus 14,21/15,38, auch Matthäus 26,6-13) und selbst Prostituierte bekommen eine besondere Stellung zugesprochen (Matthäus 21,31). Frauen erhalten im Text auch Hauptrollen. Allerdings ist das nur der Fall, wenn die Männer abwesend sind. Wenn Frauen in Hauptrollen gezeigt werden, dann stellt der Text sie als die besseren μαθηταί dar als die Männer. Obwohl die main story dominanter ist und wieder zum Haupterzählstrang wird, sobald die Jünger zurück ins Blickfeld kommen, entspricht die Darstellung der Frauen in der counter story nicht den Gendererwartungen des ausgehenden 1. Jh. n.Chr.

Ob Matthäus diese Gegengeschichte bewusst in sein Evangelium eingearbeitet hat, ist kaum zu sagen. Auffällig ist sein häufiger redaktioneller Eingriff, wenn es um Frauen geht. Die Veränderungen bewirken an mehreren Stellen, dass Frauen in ihrer Rolle noch hervorgehoben werden. Es kann zumindest ein Interesse des Schreibers an den Geschichten über die Frauen vermutet werden.

Als abwesend können Frauen im Matthäusevangelium nicht bezeichnet werden, wie es Anthony Saldarini tut. Trotzdem kann nicht von Gleichstellung der Frau gesprochen werden, wie sie in unserer heutigen Gesellschaft verstanden wird. Die Erwartungen, die Saldarini an Matthäus stellt, wenn er kritisiert, dass Matthäus nicht auf Erfahrungen von Frauen, auf ihre Bedürfnisse und Sichtweisen eingeht und sie nicht stärkt, sodass sie ein gleichwertiges Gegenüber des Mannes werden, übersteigen wohl die Möglichkeiten, die der Autor in seinem gesellschaftlichen Kontext und seiner sozialen Prägung hatte. Matthäus ist kein Visionär einer gleichberechtigten Gesellschaft und kann es auch gar nicht sein, da die Idee der Egalität ein Kind der Neuzeit ist. Hierarchiefragen verbindet er an keiner Stelle mit einer Gleichstellung im Sinn von einer Stärkung oder Befreiung der Unterdrückten (weder in Bezug auf Frauen, noch auf Sklaven oder untere soziale Schichten). Für ihn geht es um das Dienen und Niedrigwerden. Er dreht aber die Hierarchiepyramide der Antike auf den Kopf. Er sagt nicht, dass niemand mehr herrschen soll, sondern wer herrschen will, muss sich an die unterste Stelle der Hierarchiepyramide begeben, Sklave und Diener sein. Diese Umkehr der Werte ist in gewisser Weise eine Infragestellung der vorherrschenden Werteordnung, doch sie kann unsere heutigen Erwartungen einer gleichberechtigten Gesellschaft nicht erfüllen. Trotzdem eröffnet die für damalige Normen unerwartete Darstellung von Frauen die Möglichkeit, im Text zumindest eine Andeutung eines „more […] inclusive way of life“ zu lesen.“ 1)

Der gesamte Text von Nadja Boeck und die in ihrem Aufsatz angeführten Fußnoten sind nachzulesen unter: www.lectio.unibe.ch/11_2/boek_nadja_2011.html