Ringelnatztreppe
Othmarschen (1969): Joachim Ringelnatz (7.8.1883 Wurzen/Sachsen – 17.11.1934 Berlin), Schriftsteller, Kabarettist.
Joachim Ringelnatz, der eigentlich Hans Bötticher hieß, war der Sohn von Rosa Marie Bötticher, geb. Engelhardt. Diese zeichnete, entwarf Muster für Perlstickereien und stellte Puppenbekleidung her. Sein Vater war Georg Bötticher, „Musterzeichner und später hauptberuflicher Verfasser von humoristischen Versen und Kinderbüchern.“1)
Im Hamburg Lexikon steht über Ringelnatz u. a.: „fuhr nach Schulverweis mehrere Jahre zur See. Bis 1904 betätigte er sich u. a. als Zeitungsverkäufer, Hausmeister, Bibliothekar, Schaubudengehilfe und Dekorateur. Seit 1909 war er ‚Hausdichter‘ in der Münchner Künstlerkneipe ‚Simpliccimus‘. Nach Hamburg führte ihn die Tätigkeit als Angestellter einer Spedition und Korrespondent eines Reisebüros. Im Ersten Weltkrieg ging R. zur Marine und war dort zuletzt als Kommandant eines Minensuchbootes vor Cuxhaven eingesetzt (…). Nach 1918 widmete er sich dem Kabarett (…), der Malerei und seiner allseits beliebten Prosa und Lyrik. Neben den ‚Turngedichten‘ (1920, erweitert 1923) wurde R. v. a. durch seine Verse vom Seemann ‚Kuttel Daddeldu‘ (1920) bekannt.“ 2)
Seine spätere Ehefrau lernte Ringelnatz in einem Pensionat in Eisenach kennen, wo sie - Leonharda Pieper (22.11.1898 Rastenburg/Ostpreußen – 26.2.1977 Berlin) – die, nachdem sie die höhere Töchterschule in Rastenburg absolviert hatte, seit 1916 als Lehrerin für Englisch und Französisch tätig war.
1920 heirateten die beiden. Ringelnatz gab ihr den Kosenamen Muschelkalk. „Dieser Kosename tauchte zum ersten Mal in einem Briefgedicht auf, in dem Ringelnatz die Verlobte ‚muschelverkalkte Perle‘ nannte. Seine Frau wurde ihm zur unentbehrlichen Assistentin bei all seinen Publikationen. Die beiden zogen als Schwarzmieter in eine Münchner Wohnung. Zehn Jahre wohnten sie dort bis zu ihrem Umzug nach Berlin im Februar 1930. Von ihrer beider Angst vor Ausweisung aus der Wohnung legt Ringelnatz’ Gedicht ‚Angstgebet in Wohnungsnot‘ (1923) Zeugnis ab. Das Paar war in ständiger Geldnot. Ringelnatz arbeitete schließlich aushilfsweise als Prüfer der Postüberwachungsstelle in München und trat wieder im Simplicissimus auf. (…)
1933 erteilen die an die Macht gekommenen Nationalsozialisten Ringelnatz Auftrittsverbote in Hamburg und München. Ringelnatz hatte den Aufstieg der NSDAP allzu lange nicht ernst genommen. Noch 1930 schrieb er in einem Brief: ‚Der Hitler-Rummel lässt mich kalt.‘ In Dresden wurde er sogar von der Bühne geholt. Die meisten seiner Bücher wurden beschlagnahmt oder verbrannt. Ringelnatz und seine Frau verarmten, weil die Bühnenauftritte die Haupteinnahmequelle des Paares gewesen waren. (…) 1934 konnte Ringelnatz, der unter großen Schwierigkeiten einen Pass erhalten hatte, noch Gastspiele in Basel und Zürich absolvieren, dann brach seine Krankheit [Tuberkulose] endgültig aus. Freunde halfen dem nun fast völlig mittellosen Paar durch öffentliche Aufrufe und private Spendenaktionen, die Sanatoriumsaufenthalte zu bezahlen. (…).“ 3)
Barbara Hartlage-Laufenberg schreibt in fembio über Ringelnatz‘ Ehefrau Leonharda Pieper: „Muschelkalk erledigt die anfallende Korrespondenz, schreibt seine Gedichte ab und verschickt diese sowie weitere Manuskripte, liest Korrektur der Bücher von Ringelnatz, die zur Veröffentlichung anstehen, und kümmert sich um weitere Engagements ihres Mannes. Selten kann sie ihn an seinen Auftrittsorten besuchen, denn ständig sind die beiden in Geldnot, zudem müssen sie die schwierige Inflationszeit überstehen. Durch Sprachstundengeben und Aushilfsjobs verdient Muschelkalk etwas dazu, wann immer es geht. Im Übrigen kümmert sie sich um Wohnung und Wäsche, eine ‚richtige‘ Hausfrau ist sie aber nicht. 1930 ziehen die beiden nach Berlin wie viele andere, denen das braun gewordene München nicht mehr passt. Wirtschaftlich geht es ihnen für einige Zeit ganz gut. (…) Bald dürfen einige der Ringelnatz-Gedichte aus vorwiegend moralischen Gründen nicht mehr veröffentlicht werden, und Auftritte werden ihm verboten. 1934 stirbt Ringelnatz an Tuberkulose, die wohl nicht verursacht, aber verschlimmert wurde durch die Repressalien der Politik. Muschelkalk ist gerade 36 Jahre alt. Sie stellt zunächst noch unveröffentlichte Texte von Ringelnatz zusammen, die bei Rowohlt als ‚Der Nachlaß‘ erscheinen. Dann gibt sie das Buch ‚In memoriam Joachim Ringelnatz‘ heraus, das – finanziert durch einen Mäzen – erst nur eine Bibliografie werden soll, das sie dann aber ergänzt um Texte von und über Ringelnatz, und das so eine erste aussagekräftige Darstellung seines Lebens und Wirkens wird“ 4).
1938 gebar Muschelkalk ihren Sohn Norbert. Den Kindsvater heiratete sie 1939. Es war der Augenarzt Dr. Julius Gescher, ein Bewunderer von Ringelnatz und Freund des Ehepaares Ringelnatz. 1945 starb Julius Gescher.
Über Muschelkalks weiteren Werdegang schreibt Barbara Hartlage-Laufenberg: „Die zweifache Witwe Muschelkalk arbeitet als Lektorin im Verlag Henssel, der dem Werk von Ringelnatz sehr zugetan ist. Sie stellt verschiedene Sammlungen seiner Gedichte für diesen Verlag zusammen und sorgt so dafür, dass er in der Nachkriegszeit gleich wieder präsent ist. Außerdem etabliert sie einen Ringelnatz-Stammtisch in der Berliner ‚Westend-Klause‘, der sich einmal im Monat trifft. Auf Drängen des Verlegers Henssel gibt sie einen Teil der Briefe, die Ringelnatz ihr geschrieben hat, mit dem Titel ‚Briefe an M.‘ heraus und verfasst dazu erläuternde Zwischentexte. Als ‚M‘ nimmt sie sich in schon ärgerlich übertriebener Weise sehr zurück. Daneben beginnt sie mit Übersetzungen der damaligen Gegenwartsliteratur aus dem Englischen und Französischen. Die Sprachen-Ausbildung damals in Eisenach war zwar relativ kurz (nur etwa 2 Jahre), aber Muschelkalk hat ihr Leben lang Bücher in den beiden Fremdsprachen gelesen, gelegentlich auch kleinere Übersetzungen für Firmen und Verlage gemacht und die Sprachen gesprochen, wann immer es ging. Außerdem hat sie noch zu Lebzeiten von Ringelnatz englische und amerikanische Literatur für Rowohlt dahingehend begutachtet, ob sie für eine Übersetzung ins Deutsche geeignet wären. Insgesamt übersetzt sie in der Nachkriegszeit 19 Bücher. Um zu dokumentieren, dass sie nicht nur die Witwe von Ringelnatz ist, sondern durchaus etwas Eigenes schaffen kann, verwendet sie für die Übersetzungen stets den Namen Leonharda Gescher. Dagegen tritt sie in allen Fällen, die mit dem Werk von Ringelnatz zu tun haben, stets als Muschelkalk Ringelnatz auf. Das heißt, diese kreative Frau benutzt unterschiedliche Namen, um jeder ihrer verschiedenen Lebenssituationen ihr Recht zu lassen.“ 5)