Schmidtweg
Bergedorf (1955): Bernhard Woldemar Schmidt (11.3.1879 (nach Bernhard Schmidts eigene Angaben gemäß dem gregorianischen Kalender 30.3.1879) auf Naissaar bei Tallinn/Estland – 1.12.1935 Hamburg), Erbauer der Bergedorfer Sternwarte, Astronom, Erfinder des Spiegelteleskops (Schmidt-Spiegel)
Bernhard Schmidt war das älteste Kind von Maria Helen Christine Schmidt, geborene Rosen, und ihrem Mann Karl Konstantin.1) Beide stammten aus Naissaar, einer kleinen Ostsee-Insel vor Tallinn in Estland. Familiensprache war Schwedisch, gelegentlich Estnisch. Bernhards Vater hatte die deutsche Schule in Tallinn besucht, weshalb die Kinder zudem Deutsch lernten. Mit acht Jahren wurde Bernhard in die Dorfschule von Naissaar eingeschult und interessierte sich schon als Kind für naturwissenschaftliche Experimente, zu deren Zweck er erste Instrumente aus einfachsten Bestandteilen selbst zusammenbaute. Infolge eines Versuchs mit Schwarzpulver verlor er als 15-Jähriger den rechten Daumen und den Zeigefinger. Um keine Blutvergiftung zu riskieren, wurde ihm im Krankenhaus der rechte Unterarm amputiert, damals war das Peniccillin noch nicht erfunden. Mit 16 Jahren verließ Bernard Schmidt seinen Geburtsort und zog nach Tallinn. Um selbst seinen Lebensunterhalt zu verdienen, arbeitete er als Nachtwächter und Telegrafist bei einer Schiffsrettungsgesellschaft. In deren Labor hatte er die Möglichkeit, Fotos zu entwickeln und legte so eine Grundlage für seine spätere Karriere als Astrooptiker. Vier Jahre später, als Zwanzigjähriger, fand er eine neue Stelle als Zeichner bei den Elektromotoren-Werken Volta in Tallinn. In jener Zeit widmete er sich zunehmend intensiver seinem Interesse für die Himmelsbeobachtung. Im September 1901 schrieb er sich in Göteborg/Schweden für ein Studium an einer Technischen Hochschule ein, der Chalmers Tekniska Högskola. Dort blieb er jedoch nur rund vier Wochen, im Oktober wechselte er an das Technikum Mittweida in Sachsen, um Elektrotechnik zu studieren. Hier spezialisierte er sich zunehmend auf die Astronomie, stellte erste handgeschliffene Spiegel und Linsen her und veröfentlichte kleine Artikel in der „Astronomischen Rundschau“. Ohne Abschluss verließ er das Institut im Frühjahr 1904. Über seine astronomischen Versuche berichtete seine damalige Wirtin: „Schmidt beobachtete jeden Abend Mond und Sterne. Dieses war nun sein Ziel. Schmidt baute eine Sternwarte in meinem Garten ganz auf einfachen Wegen, hatte doch nicht viel Geld, einen kleinen Arbeitsplatz dazu, dort auch geschliffen. Nach kurzer Zeit konnte man Mond und Sterne vergrößert darauf sehen.“
Von Mittweida aus bewarb sich Schmidt am renommierten Königlich Astrophysikalischen Observatorium in Potsdam. Dort profilierte er sich mit einer seiner bedeutendsten Arbeiten: Er schliff ein Ersatzobjektiv für den Großen Potsdamer Refraktor, das damals größte Linsenfernrohr Deutschlands. Längst schon konnte er von seiner Arbeit als Astro-Optiker leben. Nach wie vor wohnte und arbeitete er in MittweidaI. Allein konnte er seine Aufträge inzwischen nicht mehr schaffen. Er hatte bis zu drei Mitarbeiter, die Spiegelmanufaktur florierte. Doch dann begann im August 1914 der Erste Weltkrieg und Schmidt wurde im Lager Sachsenburg interniert. Er galt jetzt für die Deutschen als „feindlicher Ausländer“, da er Este war und Estland unter russischem Einfluss stand. Ein halbes Jahr später, im März 1915, wurde er entlassen, blieb aber unter ständiger Polizeikontrolle. Die Aufträge gingen erheblich zurück, das änderte sich auch nach Kriegsende und in den darauf folgenden Jahren nicht. 1926 fragte er bei dem Direktor der Hamburger Sternwarte in Bergedorf nach möglichen Aufträgen. Dieser bot ihm tatsächlich eine Stelle als freier Mitarbeiter an, inklusive einer mietfreien Wohnung. Im Frühjahr 1927 zog Schmidt nach Bergedorf. Dort entwickelte er seine berühmteste Erfindung und präsentierte sie 1930: ein speziell für die Astrofotografie konstruiertes Teleskop mit dem sich ein großes Himmelsfeld verzerrungsfrei fotografieren ließ: den „Schmidt-Spiegel“.
Als 1933 die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen, änderte sich für Schmidt anscheinend nichts. Im Unterschied zu seinem Vorgesetzten, dem Direktor der Sternwarte Richard Schorr, der nun jedes offizielle Schreiben mit „Heil Hitler“ beendete, Astrologen bespitzelte und bei der Gestapo denunzierte 2), findet sich diese Floskel in Schmidts Korrespondenz nicht. Der Astrophysiker Jochen Schramm, der von 1982 bis 1995 selbst an der Bergedorfer Sternwarte beschäftigt war und in seinem Buch „Sterne über Hamburg“ die Geschichte der Sternwarte in der NS-Zeit aufarbeitete, stellte allerdings fest, dass die Arbeit der anderen Wissenschaftler des Instituts auch nicht unpolitisch war. Offiziell zu Forschungszwecken brachten sie Teile der Sternwartentechnik während des Zweiten Weltkriegs an den Atlantikwall und zur Raketenfabrik Peenemünde. Tatsächlich dienten die Instrumente allein dazu, die Treffergenauigkeit der V-2-Raketen zu beobachten.3) Das betraf jedoch Schmidt nicht mehr.
Anfang November 1935 reiste Bernhard Schmidt in die Niederlande und kehrte Mitte des Monats wieder zurück. Rund eine Woche später reichte er seinen Abschied auf der Sternwarte ein. In jenen Tagen klagte er auch über starke Kopfschmerzen. Am 25. November 1935 besuchte er die Sternwarte und führte „wirre Reden“, wie Schorr aus unbekannten Gründen notierte. Als er Schmidt später in dessen Wohnung aufsuchte, fand er ihn „in Strümpfen im Hausflur stehend, brüllend und schreiend“. Der herbeigerufene Hausarzt ließ Schmidt umgehend „wegen Deliriums“ in das Allgemeine Krankenhaus St. Georg bringen. Dagegen wehrte sich Schmidt nach Kräften, so dass die Krankenpfleger ihn festschnallten. Laut Schnorr handelte es sich um „plötzlich aufgetretenen Wahnsinn“, dessen Gründe er sich nicht erklären konnte. Am Tag darauf wurde Schmidt wegen „Geisteskrankheit“ aus St. Georg in die Hamburger „Staatsirrenanstalt Friedrichsberg“ gebracht. Der ihn behandelnde leitende Oberarzt war Ernst Rittershaus, NSDAP-Mitglied und Rassehygieniker.4) Von Tag zu Tag ging es Schmidt psychisch wie physisch immer schlechter. Am 1. Dezember 1935 starb er. Die Diagnose lautete: „Erregungszustand, Herzschwäche.“ Am folgenden Tag erfolgte eine Obduktion, die Folgendes ergab: „Bronchopneumonie, Reste alter Pericarditis, Myodegeneratio corsi dextra. Starke Hyperämie der weichen Häute (nichts von Alkoholismus)“. Bernhard Schmidt war also an einer Lungenentzündung (Bronchopneumonie) gestorben.
Der Astrophysiker Jochen Schramm vertritt die Meinung, das Friedrichsberger Krankenhaus hätte mit seinen Maßnahmen stark zu Schmidts Tod beigetragen. So hätte es ihn der bei „Erregungszuständen“ damals üblichen Kaltwassertherapie unterzogen. Diese aber hätte die bei der Aufnahmeuntersuchung bereits festgestellte Lungenentzündung, die schließlich zum Tod führte, „erheblich verstärkt“.5) Schmidts Biografin, die Mathematikerin Barbara Dufner, dagegen hält diese Erklärung für nicht plausibel. Sowohl Kranken- und Pflegeberichte als auch Richard Schorrs Erkundigungen und Notizen lassen „weder Mutwilligkeit noch unterlassene Hilfeleistung“ 6) erkennen. Auch Schramms zweite Überlegung erscheint ihr konstruiert: „Doch noch ein weiterer Aspekt mag zum Tod von Schmidt beigetragen haben. Er, der sich nie einzwängen lassen wollte, für den die geistige und persönliche Freiheit ein Lebensprinzip war, wurde hinter Gitter gestellt, in eine Zwangsjacke gepresst, wurde im Dauerbad gehalten und man versuchte, seinen Willen zu brechen. Er wehrte sich mit allen ihm noch verfügbare Kräften. Er schlug um sich, zerriss Bettlaken und Kleidung, spritzte und plantschte im Wasser wie wild, während sein Kopf nach wie vor von der Astronomie und der Technik erfüllt war. Seine letzten Sätze, kühl im Krankenreport vermerkt, sind seine Schreie durch die Krankenhausgänge: ,Ich bin ein Jünger der Finsterniss’.7)
Richard Schorr kümmerte sich um die Beerdigung, er nahm auch Schmidts Unterlagen aus dessen Wohnung an sich, angeblich um die persönlichen Papiere auszusortieren und alles andere in die Hamburger Sternwarte zu bringen. Die Archivierung verlief allerdings, so Barbara Dufner, „nicht ganz sauber“. Einige Unterlagen aus Schmidts Nachlass fanden sich nach Schorrs Tod in dessen Privatsammlung wieder, andere – darunter Patenturkunden – erreichten die Sternwarte erst Jahrzehnte später und „über Umwege“.8)
In Mittweida wurde 1955, zu DDR-Zeiten, eine Straße nach Bernhard Schmidt benannt (Bernhard-Schmidt-Straße). An dem Haus mit der Nummer 17, wo sich einst seine Wohnung und in einem Hinterhofschuppen seine Werkstatt befand, erinnert zudem eine Gedenktafel: „In diesem Hause lebte und arbeitete von 1901–1926 Bernhard Schmidt (geb. 1879, gest. 1935). Durch seine hervorragende Erfindung weitete er der Wissenschaft den Blick ins Weltall und erlangte Weltberühmtheit.“
In bundesrepublikanischen Hamburg-Bergedorf wurde interessanterweise im selben Jahr der Schmidtweg ihm zu Ehren benannt.
Bernhard Schmidts Grabstein wurde übrigens so auf dem Bergedorfer Friedhof aufgestellt, dass man ihn von der angrenzenden Sternwarte aus sehen kann.9)
Text: Frauke Steinhäuser