Tschaikowskyplatz
St. Pauli (2009): Pjotr Iljitsch Tschaikowski (25.4./7.5.1840 Wotkinsk/Russisches Kaiserreich – 25.10./6.11.1893 St. Petersburg), Komponist.
Vorher war dieser Platz ein Straßenzug vor dem Holstentor.
„‘Stell Dir vor‘, schrieb Pjotr Iljitsch Tschaikowski am 28. September 1876 seinem jüngeren Bruder Modest. ‚Ich bin die Tage sogar aufs Land gefahren, zu Bulatow, dessen Haus nichts anderes ist als ein päderastisches Bordell. Es reicht aber nicht, dass ich dort war - ich habe mich wie eine Katze verliebt in seinen Kutscher!!! Also hast Du völlig recht, wenn Du schreibst, dass man den eigenen Schwächen nicht standhalten kann, allen Schwüren zum Trotz.‘
Dieser Brief wurde in der Sowjetunion jahrzehntelang unter Verschluss gehalten, wie auch 247 weitere Briefe, die auf Tschaikowskis Homosexualität schließen lassen. Der Kreml feierte ungern schwule Klassiker. Erst 1995 verschafften sich Musikwissenschaftler Zugang zum unzensierten Briefwechsel der Tschaikowski-Brüder, und das interessierte Publikum weiß seitdem einiges über das Intimleben des Genies. Womöglich mehr, als es manchem ‚Nussknacker‘-Fan lieb ist, und gewiss mehr, als es Tschaikowski selbst je lieb gewesen wäre“, 1) schreibt Tim Neshitov in seinem Artikel „Homophobie und Kunst in Russland: „Hier werdet Ihr nicht glücklich, Jungs“, in Süddeutsche Zeitung vom 5. 9.2013.
Pjotr Iljitsch Tschaikowski war der Sohn von Alexandra Andrejewna, geb. Assier und des Bergwerkinspektors Ilja Petrowitsch Tschaikowskij und hatte noch fünf Geschwister.
Auf seinen eigenen Wunsch hin erhielt Peter Tschaikowski bereits im Alter von vier Jahren Klavierunterricht. Seine erste Lehrerin war Maria Markowna Palschikowa, eine weitere „Fanny Dürbach (1822–1895), welche einen großen Einfluss auf Tschaikowskis Entwicklung ausübte und mit der er zeitlebens in Kontakt blieb.“ 2)
„Da die Eltern für ihren Sohn eine Karriere im Staatsdienst vorgesehen hatten“3), wurde Peter Tschaikowsky 1850 im Alter von zehn Jahren auf die Rechtsschule in Sankt Petersburg geschickt. Die Trennung von seiner geliebten Mutter fiel ihm sehr schwer. Er besuchte die Schule bis 1859. In dieser Zeit starb seine Mutter 1854 an Cholera. 1859 verließ Tschaikowski die Rechtsschule und arbeitete anschließend als Verwaltungssekretär im Justizministerium. „Eine musikalische Fortbildung während der Zeit gewährte er sich allein in privaten Klavierstunden (…).“ 4)
Musikalische Entwicklung
Obwohl Tschaikowsky einen großen Widerwillen gegen seine Arbeit im Justizministerium hegte, blieb er dort vier Jahre. „Zerstreuung findet er im kulturellen und gesellschaftlichen Leben der Hauptstadt; (…). Vom Herbst 1861 an besucht er N. Zarembas Musiktheorieklasse, eine der von A. Rubinštejn geleiteten Musikklassen der gegründeten Kaiserlichen Russischen Musikgesellschaft (…). Im Herbst 1863 beginnt Čajkovskij bei Zaremba das Studium der Formenlehre und bei A. Rubinštejn das der Instrumentation und Komposition. (…).
Am 5. Januar 1866 übernimmt Čajkovskij die ihm von A. Rubinštejns Bruder Nikolaj angebotene Stelle eines Harmonielehrers in den von der Moskauer Abteilung der Russischen Musikgesellschaft eingerichteten Musikklassen, dem späteren Moskauer Konservatorium.
Hier unterrichtet Čajkovskij in den Jahren 1866 bis 1878 Harmonielehre, Instrumentation und freie Komposition. In N. Rubinštejn, dem Direktor des Konservatoriums, findet er einen einflußreichen Förderer und Mentor, der in den Jahren 1866 bis 1880 die meisten seiner Orchesterwerke von der Ouvertüre F-Dur bis zur 4. Sinfonie uraufführt und in den von ihm geleiteten ‚Russischen Konzerten‘ bei der Pariser Weltausstellung 1878 u.a. das 1. Klavierkonzert (das er zunächst Ende 1874 in den Komponisten zutiefst verletzender Weise abqualifiziert hatte) und seine Ouvertüre zu Shakespeares The Tempest präsentiert.
Von eminenter Bedeutung wird die Freundschaft mit P. I. Jurgenson (…), der von 1867 an in seinem 1861 gegründeten Musikverlag die meisten Werke Čajkovskijs publiziert und in den 1880er Jahren Lizenzverträge mit D. Rahter (Hamburg und Leipzig) sowie F. Mackar (Paris) abschließt und damit wesentlich zur internationalen Verbreitung von Čajkovskijs Werken beiträgt. (…),“ 5) schreibt Thomas Kohlhase.
In den ersten Jahren in Moskau verdiente Tschaikowski kaum Geld.
„Als seine Einnahmen sich vergrößerten und besonders seine Kompositionen, die er trotz seiner schwierigen Lebensumstande mit großer Fruchtbarkeit in die Welt setzte, etwas abzuwerfen begannen, verbesserte sich seine Lebenshaltung: er richtete sich eine Zweizimmerwohnung ein, die er mehrmals wechselte, und hielt sich einen eigenen dienstbaren Geist, einen Burschen vom Dorf, der, Kammerdiener und Koch in einer Person, alle diese Dienste auf oft nicht unbeträchtliche materielle und gesundheitliche Kosten seines eigenen Herrn erlernte. (…).“6)
In Wikipedia wird über Tschaikowskiis Homosexualität wie folgt berichtet: „Zahlreiche Zeugnisse belegen, dass er zunehmend depressiv und neurotisch wurde. Seine geheim gehaltene Homosexualität war für ihn eine seelische Belastung. Gleichwohl hätte es 1868 fast eine andere Wendung in seinem Leben gegeben: Nachdem er die Sängerin Désirée Artot kennengelernt hatte, weihte er seinen Vater ein, sie heiraten zu wollen. Daraus wurde aber nichts, Freunde Tschaikowskis und die Mutter der Braut hintertrieben die Verbindung. 1869 gab Artôt einem spanischen Bariton das Ja-Wort.“ 7)
Seine Begeisterung für die Sängerin bezog sich allerdings mehr auf ihr musikalisches Können. Die beiden verlobten sich zwar, doch hielt das Verlöbnis nur wenige Wochen. Dennoch blieben die zwei noch lange befreundet.
Sehnsucht nach einem häuslichen Heim: Heirat mit einer Frau
„Je mehr die Jugend entschwand, je näher das ‚reife‘ Alter rückte, um so stärker wurde in Tschaikowskij, (…), die Sehnsucht nach einer gemütlichen Häuslichkeit. Er hatte die Gesellschaft seiner Dienstboten satt und sehnte sich nach einem Lebenskameraden, der imstande gewesen wäre, vor allem seine künstlerischen Bestrebungen, die gut neunundneunzig Hundertstel seines Wesens ausmachten, zu verstehen, dann aber auch nach einer weiblichen Hand, die sein gesamtes Hauswesen hatte in Ordnung halten können. Halb im Scherz, halb im Ernst äußerte er des öfteren (…), er sei entschlossen, ein altes Mädchen oder eine Witwe zu ehelichen, denn das Alleinsein könne er auf die Dauer nicht mehr aushalten. Ein junges Leben jedoch, das noch mit erwartungsvollen Augen nach dem Glück ausschaute, wollte er nicht an seines fesseln. Es müsse doch möglich sein, eine verständnisvolle Lebenskameradin zu finden, die frei von allen Ansprüchen auf glühende Leidenschaftlichkeit wäre. (…),“ 8) schreibt Oskar von Riesemann.
Und dann heiratete Tschaikowskii doch noch: Was war geschehen? 1877 erhielt Tschaikowskii einen Brief von einer ihm bekannten jungen Frau namens Antonina I. Miljukova (1849-1917), in dem sie behauptete, sie habe ihn bereits am Konservatorium getroffen. In weiteren Briefen drohte sie mit Selbstmord, falls er sie nicht treffen würde. Tschaikowski gab ihrem Drängen schließlich nach, auch weil er ein gewisses Verständnis für ihre verzweifelte Liebe hatte und Mitleid für sie empfand. Von Biographen wird vermutet, dass Tschaikowski auch der Gedanke gefiel, durch eine Ehe mit einer Frau nach außen hin von seiner Homosexualität ablenken zu können,“ 9) heißt es in Wikipedia.
Im Juli 1877 heirateten die beiden. Doch obwohl vor der Hochzeit beschlossen worden war, dass die Ehe auf geschwisterlicher Basis geführt werden würde und die Braut wusste, dass Tschaikowskii keine Gefühle für sie hegte, wurde die Ehe zum Desaster.
Tschaikowsky berichtete darüber wie folgt: „Am selben Abend [gleich nach der Hochzeit] reisten wir nach Petersburg ab, wo wir gegen eine Woche verbrachten, meine Verwandten und einige Bekannte besuchten. Schon in diesen Tagen wurde mir die ganze Tragweite des Geschehenen klar und die Hoffnungslosigkeit meiner Lage, aus der es keinen Ausweg gab. Ich hatte den aufrichtigen Wunsch und bemühte mich auch redlich, ein guter Ehemann zu sein, doch stellte es sich heraus, daß das meine Kraft überstieg. In den ersten Tagen unseres gemeinsamen Lebens bezeugte ich mich zu meinem Entsetzen davon, daß zwischen uns überhaupt keine Interessengemeinschaft bestand, daß Antonina Iwanowna alles das, worin und wofür ich lebte, völlig fremd war, obgleich sie sich offensichtlich bemühte, mich zu verstehen und mir angenehm zu sein. Ihre Geistesrichtung war eine ganz sonderbare, wie ich sie nicht für möglich gehalten hatte. Sie hatte von vielem gehört und wußte allerhand, doch fehlte ihr jede Fähigkeit, in ihrer Seele den Widerhall von etwas anderem als den banalsten Lebensbedürfnissen zu wecken. Nicht daß sie das alles nicht verstehen wollte — das Schreckliche war, daß sie nichts verstehen konnte, was nicht im Interessenkreis der elementarsten Daseinsfragen lag. (…). Die beginnende Sympathie verwandelte sich in Abscheu. Meine Lage wurde so unerträglich, daß ich unter dem Vorwande in den Kaukasus zu reisen, um Mineralbäder zu nehmen, schmählich die Flucht ergriff. Ich gab vor, daß ich unterwegs zu meiner Schwester ins Kiewsche Gouvernement fahren würde, und reiste allein. Antonina Iwanowna übertrug ich die Sorge, unsere zukünftige Wohnung einzurichten.
In den Kaukasus reiste ich nicht, sondern verbrachte einen ganzen Monat bei meiner Schwester, wo ich mich bald sogar wieder zur Arbeit aufgelegt fühlte. In Kamenka bei meiner Schwester atmete ich wieder frei und bemühte mich, Kräfte zu sammeln für den Kampf mit mir selbst. Leider war die Zeit meine Erholung zu kurz bemessen, ich mußte bald nach Moskau, um den Unterricht im Konservatorium wieder aufzunehmen.
Als ich in Moskau eintraf, fand ich die neue Wohnung beinahe fertig eingerichtet vor. Antonina Iwanowna hatte aus ihren eigenen Mitteln einige Möbel beigesteuert. In der Wohnung war alles bequem und sogar komfortabel, doch wurde mir dadurch die Unmöglichkeit eines Zusammenlebens unter den obwaltenden Umständen nur um so klarer. Antonina Iwanowna mit ihrem gleichmäßigen, ruhigen Verhalten der ganzen Umgebung gegenüber erschien mir noch beschränkter als früher, und ihre bloße Gegenwart wirkte in höchstem Grade bedrückend auf mich. Ich war mir vollständig bewußt, daß an allem nur ich allein schuld war, daß nichts in der Welt mir helfen konnte und daß es daher unerläßlich war, zu leiden, solange die Kräfte vorhielten, und vor allen anderen mein Unglück zu verbergen. Ich weiß nicht, wodurch dieses Bedürfnis der Heimlichkeit hervorgerufen wurde, ob es nur Selbstsucht war oder die Furcht, mir nahestehende Menschen zu betrüben und einen Schatten meines — wie es mir schien — Verbrechens auf sie zu werfen. Es war nur natürlich, daß ich infolge solch eines Zustandes zu der Überzeugung gelangte, daß nur der Tod mich befreien könne. Ja der Tod erschien mir das einzig Erstrebenswerte, doch konnte ich mich nicht zu einem unverhüllten Selbstmord entschließen, aus Furcht, meinem alten Vater und meinen Brüdern einen zu unbarmherzigen Schlag zu versetzen. Ich begann, über Mittel und Wege nachzudenken um weniger auffallend, gewissermaßen auf natürliche Weise aus dem Leben zu verschwinden; ein solches Mittel habe ich sogar versucht.
Obwohl seit meiner Rückkehr vom Gute der Schwester nicht mehr als eine Woche vergangen war, hatte ich doch schon jede Fähigkeit verloren, gegen die Schwierigkeit meiner Lage anzukämpfen. Ja, ich fühlte zeitweise deutlich, daß meine klare Erkenntnis sich zu verwirren begann. Tagsüber versuchte ich noch, zu Hause zu arbeiten, aber die Abende wurden völlig unerträglich. Da ich nicht wagte, meine Bekannten aufzusuchen oder ins Theater zu gehen, machte ich jeden Abend einen großen Spaziergang und durchstreifte zweck- und ziellos die abgelegensten, finstersten Straßen Moskaus. Das Wetter war unfreundlich und kalt, nachts fror es; in einer von solchen Nächten begab ich mich ans einsame Ufer des Moskaustromes, und es kam mir der Gedanke, mir eine tödliche Erkältung zuzuziehen. Zu diesem Zwecke, von niemand in der Dunkelheit gesehen, ging ich bis zur Brust ins Wasser und stand dort so lange, als ich das durchs eiskalte Wasser verursachte schmerzhafte Gefühl in allen Gliedern aushalten konnte. Ich ging in der festen Überzeugung wieder aus dem Wasser, daß mir der Tod infolge einer Lungenentzündung oder irgendeiner anderen Krankheit sicher sei. Zu Hause erzählte ich, daß ich mich an einem nächtlichen Fischzug beteiligt habe und dabei ins Wasser gefallen sei. Allein meine Gesundheit erwies sich als stärker als mein Wunsch zu sterben. Das eiskalte Bad verblieb ohne alle Folgen. (…).“10)
Es kam zur Trennung des Paares, aber nicht zu einer Scheidung, da die Ehefrau nicht in die Scheidung einwilligte.
Die Sicht der Ehefrau auf das Ehedesaster
1894 wurden die Erinnerungen von Antonina Tschaikowskaja, der Witwe von Peter Tschaikowsky „in der Pererburgskaja Gazela veröffentlicht und später in der Russkaja Muzykal'naja Gazela vom 20. Oktober 1913 (= Nr. 42/1913, Sp. 915 bis 927) nachgedruckt. Die Tatsache, daß sie weithin unbekannt geblieben sind, ist nach Ansicht des amerikanischen Tschaikowsky-Forschers Alexander Poznansky nicht zuletzt auf die Strategie von Tschaicowskys Bruder und Biographen Modest zurückzuführen, der, u.a. unterstützt von Nikolai Kaschkin, an der Wahrung eines ganz bestimmten Tschaikowsky-Bildes interessiert war und die Schuld für das Ehefiasko einzig und allein der Frau zuschieben wollte.“ 11)
Antonina Tschaikowskaja schreibt u.a. „Peter lljitsch, meinen künftigen Gatten, hatte ich bei meiner Schwägerin (d.h. der Frau meines älteren, vor sechs Jahren verstorbenen Bruders Alexander) kennengelernt. Bereits als Schüler der Rechtsschule war er regelmäßig Gast im Hause der Mutter meiner Schwägerin, der Generalkonsulswitwe Jekaterina Alexandrowna Chwostowa, denn ihr Sohn, der Bruder meiner Schwägerin, besuchte ebenfalls die Rechtsschule. In der Familie der Chwostows kannte man ihn also offensichtlich · bereits als Zwölfjährigen. (…)
Über vier Jahre war ich heimlich in ihn verliebt. Mir war ausgezeichnet bewußt, daß ich ihm gefiel, aber er war schüchtern und hätte mir nie einen Antrag gemacht. Ich gelobte mir, sechs Wochen lang tagtäglich für ihn an den Heiligenbildern am Spasski-Tor zu beten, und zwar bei jedem Wetter stets um sechs Uhr abends, wenn die Lampe für die Kerzen heruntergelassen wurde. Ich brachte meine Kerze, die man vor meinen Augen in die Lampe stellte, kniete nieder, als man die Lampe hochzog (hatte es geregnet, dann mitunter auch in eine Pfütze) und betete inständig. Nach sechs Wochen hatte ich mein Gelübde erfüllt. Nachdem ich noch zu Hause weiter gebetet hatte, faßte ich den Mut zu einem Brief, den ich dann der Post anvertraute und in dem ich ihm meine Liebe gestand, die über so viele Jahre unerwidert geblieben war. Er antwortete sofort, und es kam zwischen uns zu einem nicht uninteressanten Briefwechsel.
Meine Art zu schreiben hatte ihm immer gefallen, so daß er mich mehrmals hierfür auch vor anderen lobte. (…).
Eines Tages erhielt ich eine ganz knappe Nachricht von ihm: ‚Suche Sie morgen auf.‘ Und er kam wirklich. Er hat junge Damen stets mit seinem Charme beeindruckt, aber in jener Zeit war sein Blick besonders bezaubernd. Ganz beiläufig sagte er zu mir: ‚Bin ich nicht schon fast ein alter Mann? Möglicherweise wäre Ihnen ein Zusammenleben mit mir zu eintönig? ...‘ ‚Ich liebe Sie so sehr‘, antwortete ich, ‚daß mich allein schon die Möglichkeit glücklich machen würde, neben Ihnen zu sitzen, mit Ihnen zu reden und Sie ständig in meiner Nähe zu haben.‘
Wir saßen an jenem Tage etwa eine Stunde zusammen. ‚Geben Sie mir bis morgen Bedenkzeit‘, sagte er beim Hinausgehen. Am nächsten Tage erklärte er: ‚Ich habe alles überdacht und kann Ihnen folgendes sagen: Ich habe noch nie im Leben eine Frau geliebt und fühle mich einfach schon zu alt für eine stürmische Liebe. Dergleichen werde ich wohl niemandem gegenüber empfinden. Sie sind jedoch die erste Frau, die mir über alle Maßen gefällt. Wenn Sie sich mit einer stillen, stetigen Liebe zufriedengeben könnten, die eher der Bruderliebe ähnelt, so mache ich Ihnen einen Antrag.‘ Ich war natürlich mit allen Bedingungen einverstanden. Dennoch blieben wir zunächst sehr sittsam auf unseren Plätzen (wir saßen einander gegenüber) und sprachen kaum noch über unsere gemeinsame Zukunft. ‚Es ist Zeit für mich‘, sagte er, stand auf, warf sich den leichten Umhang über (es war im Juni), drehte sich auf eine ganz besonders charmante und elegante Art zu mir um, streckte mir beide Arme entgegen und rief: ‚Na, und nun? ...‘ Ich flog ihm sofort an den Hals. Diesen Kuß werde ich nie vergessen können. Unmittelbar darauf ging er. (…)
In der Folgezeit besuchte er mich tagtäglich, und zwar immer nachmittags.
Bei einem dieser Besuche sagte er (bis zur Trauung sagten wir ‚Sie‘ zueinander und er küßte nur meine Hand bei Begrüßung und Abschied): ‚Lassen Sie uns morgen ins Grüne fahren, irgendwohin, vielleicht in die Spatzenberge‘
Während er noch bei mir saß, hatte er es sich schon wieder anders überlegt: ‚Nein‘, sagte er, ‚ich will Sie nicht kompromittieren. Mir liegt daran, daß sich niemand herausnehmen kann, Ihnen irgend etwas Schlechtes nachzusagen, und ich will nicht mit diesem Ausflug zu solcher Nachrede Anlaß geben.‘ (…)
Eine Woche später bat er mich um Erlaubnis, seinen Bekannten auf einem Anwesen in der Moskauer Gegend zu besuchen. Er wolle so schnell wie möglich eine Oper komponieren, die er bereits in Umrissen im Kopf habe. Diese Oper war Eugen Onegin, die beste unter all seinen Opernschöpfungen. Sie ist deshalb schön, weil sie unter dem Eindruck der Liebe komponiert wurde, denn sie handelt direkt von uns beiden. Onegin - das war er selbst, ich - die Tatjana. Zuvor und auch später hat er Opern geschrieben, die, da sie nicht von der Liebe erwärmt sind, den Hörer kaltlassen und den Eindruck von etwas Unzusammenhängendem machen. Sie besitzen keine Geschlossenheit. Nur eine einzige seiner Opern ist von Anfang bis Ende gelungen. (…)
[Am Hochzeitstag]: Nach der Trauung fuhren Peter Iljitsch und sein Bruder Anatoli allein wieder in seine Junggesellenwohnung, ich hingegen zurück in die Wohnung von Gawriil Kuprianowitsch Winogradow, dem Direktor der Mädchengymnasien. Winogradow, (…) war extra angereist, um mich nach der Trauung als erster in seiner Moskauer Wohnung zu empfangen. (…) [Zum Hochzeitsessen]: Nach kurzer Zeit fuhr die Kutsche wieder vor, und wir fuhren ins Hotel ‚Eremitage‘. Als wir dort ankamen, wurde ich von zwei Lakaien förmlich aus der Kutsche gehoben und, von beiden Seiten untergehakt, zur Treppe geführt. Dort erwartete mich bereits Tschaikowskys Bruder Anatoli. Er reichte mir den Arm und brachte mich in einen großen, über und über mit Blumen geschmückten Salon, wo bereits alles vorbereitet war. Es wurde reichlich aufgetragen, aber ich habe kaum etwas angerührt. Ich hatte damals schon ein Vorgefühl von irgendetwas Ungutem, und mir fröstelte vor Angst. Später hörte ich von meiner Schwester, das Essen sei wie ein Leichenschmaus gewesen: von Heiterkeit keine Spur...
Nach dem Hochzeitsessen begab sich Peter Iljitsch wieder mit seinem Bruder in die Junggesellenwohnung, und mich brachte man zu den Winogradows. Gegen sieben Uhr abends bestiegen wir den Zug der Nikolajew-Eisenbahn, und ich fuhr mit meinem Gatten nach Petersburg.
Unsere Hochzeit hatte am 15. Juli 1877 stattgefunden, und Anfang November desselben Jahres hat er mich verlassen ... In der Zwischenzeit reiste er für anderthalb Monate zur Erholung, fuhr aber nicht zur Kur in den Kaukasus, wo er eigentlich hin wollte, sondern weilte die ganze Zeit auf dem Anwesen seiner Schwester...
Nach der Rückkehr von dort verbrachten wir noch drei gemeinsame Wochen. (…)
Alles in allem war ich nur zweieinhalb Monate mit ihm zusammen. Die ständigen Einflüsterungen, durch das Familienleben würde sein Talent ruiniert, brachten uns schließlich auseinander. Zunächst lieh er solchen Stimmen keinerlei Gehör, später aber begann er immer aufmerksamer und intensiver hinzuhören ... Der Verlust der Begabung wäre für ihn das Schlimmste gewesen. So begann er diesen Einflüsterungen immer mehr Glauben zu schenken, wurde verschlossen und schwermütig. Eines Tages sagte er mir, er müsse für drei Tage in irgendwelchen Angelegenheiten verreisen. Während ich ihn zum Postzug brachte, wirkte er völlig verstört und blickte ganz unruhig. Ich ahnte jedoch noch nicht im geringsten, daß Kummer ins Haus stünde. Das Unheil hatte sich aber bereits über mir zusammengebraut. Noch vor dem ersten Klingelzeichen, das die bevorstehende Abfahrt des Zuges anzeigte, klagte Peter lljitsch, er habe so etwas wie einen Frosch im Hals. Allein, unsicheren Schrittes, eilte er ins Bahnhofsgebäude, um Wasser zu trinken. Als wir dann ins Abteil stiegen, bekam sein Blick etwas Flehendes, und er konnte seine Augen nicht von mir abwenden. Beim zweiten Klingelzeichen umschlang er mich ungestüm, drückte mich lange und fest an seine Brust und küßte mich. Als er mich dann losließ, winkte er mit der Hand und sagte: ‚Nun geh! Gott beschütze Dich!‘ Danach ist er nie wieder zu mir zurückgekommen ... (…).“ 12)
Tschaikowskys Mäzenin
Zurück zu Tschaikowskys weiterem musikalischen Schaffen. Der „Unterricht am Konservatorium und Rezensententätigkeit schränken Čajkovskijs schöpferische Arbeit ein; das peinliche Ehefiasko verleidet ihm die alten beruflichen und gesellschaftlichen Kontakte, die er durch lange Auslandsaufenthalte vermeidet. Die Entscheidung, sich als freischaffender Künstler (er war der erste professionelle Komponist dieser Art in Rußland) zu bewähren, wird wesentlich durch das Angebot einer Jahresrente von sechstausend Rubeln ermöglicht, das ihm die reiche Witwe eines erfolgreichen Eisenbahnunternehmers, [verstorben 1876] Nadežda F. von Mekk (von Meck;[29.1./10.2.1831 Snamenskoje _ 1.1./13.1.1894 Nizza oder Wiesbaden], macht; sie hatte von Čajkovskijs finanziellen Problemen gehört und möchte ihn, dessen Musik sie tief berührt, helfen.
‚Sie sind mein guter Genius‘, schreibt ihr der Komponist am 22. Oktober 1881, ‚meine Stütze, meine Freundin, in einem höheren, geistigen, idealen Sinn.‘ Wenn sie seine Musik höre, bekennt sie ihm am 24. Juli 1889, segne sie ihn ‚jedesmal für das Gut, das Sie der Menschheit bringen, für den Trost, den Sie dem Leben bringen – meinem zum Beispiel, das so arm an Freude und Glück ist.‘ Ihr ungewöhnlicher Briefwechsel mit dem Komponisten (einem persönlichen Treffen gehen die beiden Briefpartner bewußt aus dem Wege) von Ende 1876 bis September 1890 (als N. fon Mekk die Beziehung abbricht – die plausibelste Begründung gibt A. Poznansky 1993, S. 515-520: auf Druck ihrer Kinder) umfaßt mehr als eintausendzweihundert Briefe (…). 13)
In Wikipedia heißt es über Nadeschda Filaretowna von Meck, geborene Frolowskaja. Sie: „entstammte einer musikliebenden Familie. Ihr Vater Filaret Frolowski war Großgrundbesitzer. Nadeschda erhielt früh Klavierunterricht und entwickelte sich zu einer passablen Pianistin. Außerdem erwarb sie sich umfangreiches Wissen in Literatur, Geschichte und Fremdsprachen.
Im Alter von 17 Jahren heiratete sie den aus Riga stammenden 28-jährigen Karl Georg Otto von Meck. Dieser war anfangs mit geringem Einkommen als Ingenieur des staatlichen Verkehrswesens tätig. Auf Betreiben seiner Frau hin, die ihn in geschäftlichen Dingen wesentlich unterstützte, gab er seine Beamtenstellung auf und verlegte sich auf den Eisenbahnbau, was sich als finanziell sehr erfolgreich erwies. 1876 verstarb Karl von Meck und hinterließ seiner 45-jährigen Witwe neben einem Haus in Moskau und einem Gut in Brailow (Ukraine) ein sehr großes Vermögen und die Kontrolle über zwei Eisenbahnlinien.“14)
Als Witwe widmete sie sich nun den geschäftlichen Dingen und der weiterhin der Kindererziehung. Während ihrer Ehe hatte sie 18 Kinder geboren, von denen sieben Kinder bereits im Kindesalter verstarben. Glücklich machte sie die Musik, besonders die von Tschaikowski. Und deshalb trat sie mit ihm in Kontakt und wurde seine Mäzenin. Doch 1890 kündigte sie die Brieffreundschaft mit dem Komponisten auf und stellte auch die finanzielle Unterstützung ein. Die Ursache für dieses Verhalten ist nicht klar. Nadeschda von Merck starb schwerkrank an Tuberkulose im Januar 1894, wenige Monate, nachdem Tschaikowski verstorben war.
Männerliebe
In der Zeit, als Tschaikowsky und Nadeschda von Menck ihre Brieffreundschaft pflegten, hatte Tschaikowsky „eine romantische Liebesbeziehung mit Josif Kotek, einem seiner ehemaligen Schüler am Moskauer Konservatorium, der als Privatmusiker bei Nadeschda von Meck angestellt war. In einem Brief an seinen Bruder Modest beschrieb Tschaikowski im Januar 1877 seine Gefühle ausführlich: „‘Ich bin so verliebt, wie ich es lange nicht war… ich kenne ihn schon seit sechs Jahren. Ich habe ihn immer gemocht und war einige Male dabei, mich zu verlieben. […] Jetzt habe ich den Sprung gemacht und mich unwiderruflich ergeben. Wenn ich stundenlang seine Hand halte und mich quäle, ihm nicht zu Füßen zu fallen […] ergreift mich die Leidenschaft mit übermächtiger Wucht, meine Stimme zittert wie die eines Jünglings und ich rede nur noch Unsinn.‘“ 15)
Iossif Iossifowitsch Kotek (25.10. / 6.11.1855 Kamjanez-Podilskyj – 4.1.1885 Davos) zog „nach dem Ende der Beziehung (…) 1882 nach Berlin, studierte dort (…) an der Königlich Akademischen Hochschule für ausübende Tonkunst. Anschließend lehrte er auch dort. 1884 erkrankte er an Tuberkulose und kehrte nach Davos zurück, wo er am 4. Januar 1885 verstarb.“ 16)
Die letzten Lebensjahre
Zwischen 1878 und 1885 führte Tschaikowskii ein unstetes Leben. Oft weilte er im Ausland oder auch bei seiner Schwester oder Bruder Anatolij. Und dennoch wünschte er sich immer einen stillen Ort, wo er konzentriert arbeiten konnte. 1885 fand er einen solchen in der Nähe von Moskau. Dennoch begab er sich immer wieder auf Reisen, auch als Dirigent seiner Werke. So kam er auch nach Hamburg.
„Die letzten Lebensjahre Čajkovskijs sind geprägt von Erfolgen, Ehrungen und internationalem Ruhm. Er wird korrespondierendes Mitglied des Königlichen Musikinstituts in Florenz (1888), der Gesellschaft zur Förderung der Tonkunst in Amsterdam (1891) und des Instituts de France (Académie des Beaux Arts), Paris (1892); (…). In Rußland wird Čajkovskij zu einem nationalen Heros. 1888 gewährt ihm Zar Aleksandr III. lebenslang eine jährliche Rente von dreitausend Rubeln (…).“ 17)
Er starb im Oktober 1893 im Alter von 53 Jahren an der asiatischen Cholera.