Boehringerweg
Moorfleet (1955): Dr. Albert Boehringer (11.8.1861 Stuttgart -11.3.1939 Nieder-Ingelheim), Fabrikant, Kommerzienrat, ließ die Siedlung, in der die Straße verläuft, erbauen
Albert Boehringer, studierter Chemiker und Sohn von Mathilde Spring, verh. Boehringer (1828 Stuttgart – 1902 Heidelberg) und Christoph Heinrich Boehringer (1820 Stuttgart-1882 Mannheim), war der Gründer des international agierenden Pharmaunternehmens Boehringer Ingelheim.
Im Folgenden Auszüge aus der Firmengeschichte und Auflistung einiger beruflicher Stationen von Albert Boehringer:
„Als 23-Jähriger übernahm er 1885 eine kleine Weinsteinfabrik im rheinhessischen Nieder-Ingelheim und legte damit den Grundstein für den heutigen Pharmakonzern Boehringer Ingelheim. (…).
1893 machte Albert Boehringer eine wegweisende Entdeckung, als er herausfand, dass sich Milchsäure mit Hilfe von Bakterien in industriellen Mengen herstellen lässt. (…) Für sein Unternehmen bedeutete das neue Verfahren einen unerhörten wirtschaftlichen Aufschwung, denn für Milchsäure gab es eine große Nachfrage seitens der Leder-, Textil- und Lebensmittelbranche sowie der Färbereien. (…)
Der Chemiker und Unternehmer war aber nicht allein auf Erfolg aus, sondern erkannte zugleich die Wertigkeit seiner Mitarbeiter für die Firma (…). So führte er 1902 eine so genannte Fabrik-Krankenkasse ein. Es folgten die Einführung eines Unterstützungsfonds für Ruheständler (1905), der Bau von Mitarbeiterhäusern (ab 1907), die Gründung der ‚Christoph-und-Mathilde-Boehringer-Stiftung‘ zur Unterstützung kranker Arbeiter (1909), die Einführung einer betrieblichen Altersversorgung (1912) und die Gründung der ‚Albert-und-Helene-Boehringer-Stiftung‘ für Kriegshinterbliebene (1915).
Neue Absatzmöglichkeiten gewann er ab 1905 durch die Extraktion von Morphin, Kokain und Codein, die er exportierte oder an Apotheken und Pharmahersteller verkaufte.
(…). Ab 1912 stellte C. H. Boehringer Sohn mit dem Schmerzmittel Laudanon erstmals selbst pharmazeutische Präparate her. (…).
Im Jahr 1923 expandierte das Unternehmen mit einem Zweigwerk in Hamburg-Moorfleet, in dem unter anderem Grundstoffe für Medikamente wie Koffein, Morphin und Kodein hergestellt wurden. (…). Drei Jahre später, 1927, trat Sohn Ernst Boehringer (1896-1965) der Firmenleitung bei.
(…) Albert Boehringer starb am 11. März 1939 im Alter von 78 Jahren in Ingelheim. Er hinterließ seinen Söhnen ein erfolgreiches Pharma-Unternehmen, das seinerzeit 1.500 Mitarbeiter beschäftigte.“ 1)
Albert Boehringer war seit 1890 verheiratet mit Helene, geb. Renz (23.4.1867 Genf – 16.2.1946). Das Paar hatte drei Kinder, zwei Söhne, geboren 1891 und 1896 und eine Tochter, geb. 1894. 2) Die beiden Söhne und der Schwiegersohn übernahmen später die Firma vom Vater/Schwiegervater.
Über die Firma Boehringer Ingelheim in der NS-Zeit schreibt Frank Schmidt-Wyk in seinem Artikel: „NS-Vergangenheit: Bei Boehringer Ingelheim wurden sowohl Juden gerettet als auch Zwangsarbeiter misshandelt“: „Drei Männer hatten in jener Zeit das Sagen beim Chemie-Unternehmen Boehringer Ingelheim - die Brüder Albert junior und Dr. Ernst Boehringer, Söhne des Firmengründers Albert Boehringer, sowie deren Schwager Julius Liebrecht - allesamt stramm nationalkonservativ gesinnt. Für die junge Weimarer Demokratie konnte sich keiner von ihnen begeistern. Für die Nazis allerdings ebenso wenig. (…) Als 1935 die Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen des Unternehmens anstanden - Hitler war zu diesem Zeitpunkt schon zwei Jahre an der Macht - ging das Jubiläum ohne jedes Nazi-Brimborium über die Bühne. Auch in der Festschrift: kein überflüssiges Wort über den ‚Führer‘ und den Nationalsozialismus. Ernst Boehringer hatte persönlich sämtliche Ergebenheitsadressen an die braunen Machthaber aus dem Entwurf für sein Vorwort herausgestrichen (…). Erst um das Jahr 1937 vollzogen Albert und Ernst Boehringer den (…) Schritt und traten der NSDAP bei. (…) Zwar machte die Führungsetage von Boehringer durchaus ihre Kompromisse mit dem Hakenkreuz - den fanatischen Antisemitismus des Regimes eignete sie sich jedoch nie an, unterwanderte ihn sogar: Mehrfach half die Unternehmensleitung verfolgten Juden. Und zwar aus rein altruistischen Motiven und nicht etwa, weil die betroffenen Juden dem Unternehmen von Nutzen waren. (…) Auch das gehört freilich zur Wahrheit: Rund 1.500 Zwangsarbeiter waren während des Krieges bei Boehringer eingesetzt, (…). Anfangs waren es vor allem belgische und französische Kriegsgefangene, die recht gut behandelt wurden. Das galt zunächst auch für Polen und Russen. Ab 1942 änderte sich allerdings das Bild: Die Lebensverhältnisse der überwiegend aus der Ukraine und Russland stammenden Zwangsarbeiter verschlechterten sich zusehends. In einem Barackenlager auf dem Werksgelände wurden die Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht, bekamen kaum etwas zu essen, mussten dennoch schwer arbeiten und waren zunehmender Brutalität seitens ihrer Bewacher ausgesetzt. Beim Wachpersonal handelte es sich zwar um Boehringer-Leute, die Dienstaufsicht oblag allerdings der Gestapo. (…) KZ-Häftlinge kamen bei Boehringer nicht zum Einsatz, wohl aber in den letzten Kriegswochen Strafgefangene aus Mainzer Gefängnissen - wofür, bleibt unklar.“ 3)
In der Boehringer-Zweigniederlassung Hamburg-Moorfleet arbeiteten eine Zeitlang Zwangsarbeiterinnen aus dem Arbeitshaus Farmsen. Sie wurden „täglich zum Werk Moorfleet auf einem Lastwagen unter strenger Bewachung gebracht (…). Im Arbeitshaus Farmsen wurden ehemalige Prostituierte und angeblich ‚asoziale‘ Frauen einer menschenunwürdigen ‚Erziehung‘ unterworfen. Diesen halb verhungerten Frauen sei stets und ungeachtet des Protestes der Aufseherinnen ein Frühstück offeriert worden sein, im Werk seien sie immer human behandelt worden.“ 4)
Und in einer Rezension von Gregor Schöllgen über die von dem Historiker Michael Kißener 2015 verfasste Publikation: „Boehringer Ingelheim im Nationalsozialismus. Studien zur Geschichte eines mittelständischen chemisch-pharmazeutischen Unternehmens“ heißt es zum Einsatz von Zwangsarbeitenden: „Sie alle trugen das Ihre dazu bei, dass Boehringer Ingelheim - auch während des Krieges und vor allem durch die Produktion von Arzneimitteln – ‚beträchtlich‘ wuchs und ‚gute Umsätze erzielte‘. So leistete auch dieses Unternehmen ‚seinen Beitrag zur Kriegführung ... und funktionierte damit als systemstabilisierender Faktor im NS-Regime‘. Diese Tatsache und das ‚seltene Glück‘, dass der Betrieb während des Krieges kaum in Mitleidenschaft gezogen worden war, sind eine entscheidende Erklärung für die rasante Entwicklung, die Boehringer nach 1945 genommen hat.“ 5)
1984 kam es bei Boehringer in Moorfleet zu einem der größten Umweltskandale in der Bundesrepublik Deutschland. Das Chemiewerk musste schließen. Ca. 1600 Arbeiterinnen und Arbeiter waren mit Dioxin vergiftet worden. Die Folge: Krebs, Nervenleiden, Nieren- und Leber-Schäden, Hautverätzungen, schwere Durchblutungsstörungen etc. Das Dioxin hatte sich im Boden, Grundwasser, in der Luft und in den Körpern der Boehringer-Mitarbeitenden festgesetzt. „Ein Abschlussbericht aus dem Jahr 2011 konstatiert für die untersuchten Boehringer-Arbeiter nüchtern eine ‚signifikant erhöhte Mortalitätsrate‘ sowie ‚ein erhöhtes Risiko an bösartigen Neubildungen‘ zu erkranken. Bei Frauen sei vor allem das ‚Risiko an Brustkrebs zu versterben, erhöht‘. Einer früheren Studie zufolge, die der Hamburger Senat 1991 veröffentlichte, erkrankten Arbeiter, die 20 Jahre bei Boehringer beschäftigt waren, doppelt so häufig an Krebs wie der Durchschnittsbürger.“ 6)
Bereits 1953 „waren bei Boehringer in Hamburg die ersten Arbeiter an der sogenannten Chlorakne, einer typischen Erscheinung einer Dioxin-Vergiftung, erkrankt. Boehringer lässt die Produktion vorübergehend stoppen, nimmt jedoch 1957 mit einem neuen, als unbedenklich beurteilten Verfahren die Produktion erneut auf. (…) Im Februar 2015 einigt sich das Unternehmen mit der Stadt und Umweltverbänden auf eine beschleunigte Sanierung ab 2016. Der Chemiekonzern gibt bis 2027 zunächst 6,2 Millionen Euro aus, die Stadt gibt einmalig 500.000 Euro dazu. Damit sollen zwei zusätzliche Brunnen errichtet werden, die das vergiftete Grundwasser hochpumpen, um es anschließend reinigen zu lassen. Bis 2054 soll das verunreinigte Grundwasser aus dem Boden entfernt sein. Anschließend soll der Schadstoff-Abbau für weitere 40 Jahre überwacht werden - bis 2094.“ 6)