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nach Personen benannt

Wilhelm-Lehmbruck-Straße

Billstedt (1976): Wilhelm Lehmbruck (4.1.1881 Meiderich – 25.3.1919 Berlin), Bildhauer und Graphiker.


Über Wilhelm Lehmbrucks Kunst schreibt der Kunsthistoriker Georg Syamken, indem er Lehmbrucks Bild „Mutter und Kind“ (1917/18) interpretiert: „In der äußerst kurzen Arbeitsperiode Wilhelm Lehmbrucks gehört diese Doppelgestalt – von einer Gruppe kann man nicht mehr reden – bereits zum Spätwerk. (…) Die birnenförmig ausladende Schädelkalotte der Mutter mit ihrer vollrunden Entsprechung im Kinderkopf, die Elemente der Trennung wie des Zusammenwachsens von Groß- und Kleinformen und ihrer malerischen Verschleifungen führen von dem erlernbaren Kanon menschlicher Anatomie hinweg. Es kommen Gleichnisse zustande, etwa von Pilzgruppen, die eine gemeinsame Wurzel haben, oder von Baumstümpfen. (…).“ 1)
Lehmbruck zählt zu den bedeutendsten deutschen Bildhauern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dazu beigetragen hat seine Ehefrau Anita Lehmbruck, geborene Kaufmann 1879-1961), die das künstlerische Lebenswerk ihres Mannes erhalten und der Öffentlichkeit im Wilhelm-Lehmbruck-Museum der Stadt Duisburg zugänglich gemacht hat.

In Wikipedia heißt es über Lehmbrucks Herkunft: „Lehmbruck wurde als viertes Kind einer Bergarbeiterfamilie geboren. Nach der Volksschule besuchte er bis zum Tod seines Vaters im Jahre 1899 auf Empfehlung seines Lehrers die Kunstgewerbeschule Düsseldorf. In dieser Zeit verdiente er mit Illustrationen wissenschaftlicher Bücher und mit Dekorationsarbeiten seinen Lebensunterhalt. 1901 begann er an der Düsseldorfer Kunstakademie ein Studium unter Karl Janssen, dessen Meisterschüler er wurde. Im Jahr 1906, nach Abschluss seines Studiums, wurde er Mitglied des Vereins der Düsseldorfer Künstler und der Socété nationale des beaux arts in Paris, an deren jährlichen Ausstellung im Grand Palais er ab 1907 teilnahm.“ 2)

Im Alter von 27 Jahren heiratete er 1908 die damals 29jährige Anita Kaufmann. Das Paar bekam ein Jahr später das erste Kind.

Lehmbruck erhielt Förderung durch Kunstsammler. So konnte der junge Vater 1910 mit seiner Familie nach Paris ziehen, „wo er im Herbst des gleichen Jahres erstmals am fortschrittlichen Salon d‘ Automme teilnahm“. 3) Und er konnte zum Beispiel, ebenfalls durch Hilfe eines Kunstsammlers, seine Werke 1912 im Folkwang Museum ausstellen – was sicherlich auch für den Sammler lukrativ war. „Darüber hinaus wurden Werke von Lehmbruck in Ausstellungen in Berlin, Köln, München, Düsseldorf und 1913 in der Armory Show in New York gezeigt.“ 4)

Im selben Jahr, als Werke von ihm in New York gezeigt wurden, wurde in Paris das zweite Kind geboren. „Ein Jahr später kam es in der Galerie Paul Levesque in Paris zur ersten großen Ausstellung, die ausschließlich seinen Werken gewidmet war.“ 5)

In der Neuen Deutschen Biografie steht über den weiteren Werdegang von Lehmbruck: „Der 1. Weltkrieg zwingt L., Paris zu verlassen. Er siedelt nach Berlin-Schöneberg (später Friedenau) über und versucht dem drohenden Kriegstod zu entgehen, wird dem Sanitätsdienst zugewiesen. In den Kriegsjahren wird er von dem Kaufmann S. Falk (Uniformstoffe) in Mannheim unterstützt. 1916 findet in der Mannheimer Kunsthalle die erste Kollektiv-Ausstellung seiner Werke in Deutschland statt. (…). In Berlin entsteht das erste Hauptwerk eines gewandelten Expressionismus: Der ‚Gestürzte“, in einer Gebärde die Trauer über die Gefallenen veranschaulichend, vereint zugleich mythisch Ikarus und Linos. L. hatte sich schon 1911 aus Opposition gegen nationalen Heroismus nicht an dem Wettbewerb für das Bismarck-National-Denkmal bei Bingerbrück beteiligt, auch jetzt schafft er kein konventionelles Krieger-|Denkmal, das die Toten als Helden feiern müßte. Der ‚Gestürzte‘ ist vielmehr ein übernationales Mal des Krieges, da er keine (deutsche) Uniform trägt, sondern wie Golls ‚Requiem‘ für alle Gefallenen Europas steht. L. kann Ende 1916 wie viele Kriegsgegner in die Schweiz übersiedeln; in Zürich findet er Kontakt zu dem Sozialisten L. Rubiner (…) und zum Pazifistenkreis um René Schickele, Leonhard Frank, Otto Flake, A. Ehrenstein und Fr. v. Unruh. Er porträtiert plastisch die Freunde (…). Sein zweites Hauptwerk der Kriegszeit entsteht 1917/18 mit dem ‚Sitzenden‘, auch ‚Der Freund‘ genannt, einem nackten Jüngling, der die Kriegstoten betrauert. (…).“ 6)

Ein Pendant zum „Sitzenden“ ist „die Betende“. Diese Skulptur „zeigt die Frau im Kriege (…) für den Frieden betend (…).“ 7). Gleichzeitig ist sie „ein allegorisches Bildnis der Elisabeth Bergner. L. hatte die junge Schauspielerin 1918 in Zürich durch A. Ehrenstein kennengelernt, besuchte ihre Darstellungen in Strindbergs ‚Rausch‘ im Zürcher Stadttheater, zeichnete und modellierte ihren Kopf.“ 8) Andere Quellen berichten, dass Lehmbruck in sie unglücklich verliebt gewesen sein soll. 9) Ein Jahr bevor er Elisabeth Bergner kennengelernt hatte, war er Vater seines dritten Kindes geworden.

1919 wurde Lehmbruck Mitglied der Preußischen Akademie der Künste.

Lehmbruck litt an Depressionen. Dazu heißt es in der Neuen Deutschen Biografie: „Verzweiflungsanfälle über innere und äußere Spannungen (Spartakuskämpfe) führen zur Behandlung durch den Arzt und Analytiker Iwan Bloch, doch konnte dieser den Selbstmord nicht verhindern. Nach seinem Tode wird sein ‚Sitzender‘ (Trauernder) in Duisburg-Kaiserberg öffentlich aufgestellt.“ 10) In der NS-Zeit galten seine Werke als „entartet“.

Zu Lehmbrucks Werk heißt es in Wikipedia: „Lehmbrucks bildhauerisches Werk dreht sich hauptsächlich um den menschlichen Körper. Es ist sowohl vom Naturalismus als auch vom Expressionismus beeinflusst. Die meisten seiner Skulpturen drücken Leid und Elend aus und sind anonymisiert, es sind also keine individuellen Gesichtszüge oder Ähnliches erkennbar. (…)“. 11)

Über Lehmbrucks große Skulpturen schieden sich die Geister. Dazu schreibt Teresa Ende in ihrer Dissertation „Wilhelm Lehmbruck. Geschlechterkonstruktionen in der Plastik“: „Es sind vor allem Lehmbrucks überlebensgroße Frauen- und Männerfiguren, die von Beginn an sowohl harsche Ablehnung als auch größte Zustimmung erfahren haben und seither immer wieder in verschiedenen erzieherisch-moralischen, politischen oder ethisch-pazifistischen Sinnzusammenhängen angeführt wurden, die auffällig oft an die Wahrnehmung und Konzeption von Geschlecht gekoppelt sind. Während sich zeitgenössische Betrachter etwa bei der Stehenden an ‚die Gelassenheit der Antike‘ erinnert fühlten oder von ‚hellenischer Grazie‘ sprachen, wurde die Kniende als ‚Neandertalerin‘ und ‚Beleidigung für den Geschmack der Männer‘ bezeichnet, für hässlich, ‚deformiert‘, ‚pathologisch‘ und ‚nicht sonderlich menschlich‘ befunden und mit einer ‚betenden Heuschrecke‘ verglichen; (…).

Bereits diese willkürlich herausgegriffenen kontroversen Äußerungen über Lehmbrucks Figuren führen vor Augen, dass Kunst, Kultur und Gesellschaft in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts allenthalben von Vorstellungen idealtypischer Weiblichkeit und Männlichkeit sowie ihren Antipoden durchdrungen waren. Aufbauend auf den Lehren der zeitgenössischen Medizin, Ethnologie, Physiognomik und Psychoanalyse sowie kunsttheoretischen und künstlerischen Debatten über die Stellung der ‚alten‘ Kunst und die Notwendigkeit und Gestalt einer ‚neuen‘ Kunst wurden zeitgenössische Kunstwerke vielfach mit Vorstellungen des menschlichen Körpers, von Schönheit und Hässlichkeit, Natur und Kultur verbunden. Damit bildeten Körpererscheinung und -darstellung auf der einen und Geschlechterrollen und -zuweisungen auf der anderen Seite ein wechselseitiges Verweissystem, das wiederum in die Kunst übersetzt wurde sowie in die Bewertung von Kunst und Künstlern einging. (…).“12).

Beeindruckend klar legt Teresa Endes das Verständnis von Weiblichkeit und Männlichkeit um die und nach der Jahrhundertwende dar, in der Lehmbruck seine Schaffenszeit hatte. Teresa Ende spricht von einem ambivalenten Blick auf die Geschlechter. Es gab ein Nebeneinander: „von im 19. Jahrhundert wurzelnden Geschlechtervorstellungen und andererseits von modernen Auflösungserscheinungen starrer Rollenklischees. Diese Tendenz äußerte sich in der Kunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts, etwa wenn die Frau im Typus der Femme fatale als dominant oder bedrohlich imaginiert wird. Auch das Männerbild in der Kunst erfuhr entsprechende Verschiebungen: Vielfach wurden effeminierte männliche Figuren gestaltet, die in Haltung, Gestus und Körperideal als übersensibel, sinnend oder leidend gekennzeichnet sind. Auf der einen Seite wurden tradierte Rollenvorstellungen und -erwartungen aufgeweicht oder aktiv hinterfragt, (…). Auf der anderen Seite bestanden die alten Geschlechterstereotypen bis in die Kreise der künstlerischen Avantgarde hinein fort und wurden im Rahmen eines neuen männlich-modernistischen künstlerischen Selbstverständnisses unter anderen Voraussetzungen fortgeschrieben oder ganz bewusst reinstalliert. Gerade in der in grundlegender Veränderung begriffenen Gesellschaft musste Männlichkeit immer wieder beglaubigt und gefestigt werden.(…).“ 13)

Wilhelm Lehmbruck und andere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geborene Künstlerinnen und Künstler, wie zum Beispiel Emy Roeder, Milly Steger, Georg Kolbe, schufen „in Abwendung von der im 19. Jahrhundert dominierenden Salonplastik“ 14), so Teresa Ende, „zunehmend zeitlose, nach innen gewandte Akte, die trotz ihrer Nacktheit ‚keusch‘ wirken sollten. (…) Auf der Suche nach ‚Ausdruck‘ und Sichtbarmachung der ‚Idee‘ „des heutigen Lebens‘, so Kolbe 1912, gestalteten sie weder modische Menschen in zeitgenössischer Kleidung noch genrehaft-erotische Figuren, sondern versuchten in Aktfiguren ‚reine[r] Form‘ das Wesentliche hervorzuheben, das heißt ‚ohne soziale oder gesellschaftliche Rangabzeichen‘ ein Charakterbild vom modernen Menschen zu geben, in bewusster Abgrenzung von der Mehrzahl der akademischen, historisch und literarisch aufgeladenen Figuren des vorangegangenen Jahrhunderts.“ 15)

Die Künstlerinnen und Künstler wie Wilhelm Lehmbruck wollten mit ihren Skulpturen „seelische Zustände mittels bestimmter Haltungs- und Bewegungsmotive“ 16) darstellen. Dazu Teresa Ende: „‚Beseelung‘, das heißt die Vermittlung inneren Lebens, war das künstlerische Ziel einer großen heterogenen Gruppe von Bildhauern in ganz Europa, zu der nicht nur Kolbe, Lehmbruck etc. gehörten, (…)

Im Bestreben um vermeintlich objektive Wahrheitsfindung über den ‚Charakter des Männlichen und Weiblichen‘ wird in ihnen Geschlechterdifferenz als grundlegende, alles Denken, Gestalten, Wahrnehmen und Wissen strukturierende Kategorie entworfen. Nach diesem Paradigma können Lehmbrucks weibliche Figuren als Gestalten des Seins und Verharrens ohne Entwicklung und Bewegung verstanden werden, die als stillgestelltes ‚Bild‘ vor den Augen des Betrachters in erster Linie ruhige Zuständlichkeit als künstlerische, das heißt vom Künstler gemachte Parallelwelt zu Natur und Realität entfalten. Die männlichen Figuren hingegen stellen danach Entwürfe programmatischer Transzendenzgestalten mit eigenen Denk-Räumen dar, denen stets ein Moment der Weiter- und Höherentwicklung oder des Übergangs innewohnt. Diese (…) genderspezifische Verteilung von Passivität und Aktivität entspricht den zeitgenössischen Rollenvorstellungen der Geschlechter. (…).“ 17)

Auf Lehmbrucks Kunstwerke bezogen kommt Teresa Ende zu dem Ergebnis, „dass der Künstler durch die konzeptionell unterschiedlichen Bilderfindungen und Darstellungsweisen von weiblichen und männlichen Figuren dualistisch konstruierte Zuweisungen an Frauen und Männer – Passivität versus Aktivität, Verharren versus Entwicklung, Materie versus Form, innen versus außen etc. – fortschreibt. Damit wird in seinen Figurationen der relationale Charakter der Konstruktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit deutlich, die nur in parallelen Konzepten der zwei Geschlechter konstruiert werden können: In der Unterschiedlichkeit ihrer Mittel und gleichzeitigen Bezogenheit aufeinander als Folie und Anti-Folie wird eine Geschlechterpolarität konstruiert und inszeniert, wie sie auch zeitgenössische Texte über Männlichkeit und Weiblichkeit bestimmt.“ 18)

Und weiter schreibt Teresa Ende: Lehmbruck unternahm „in seiner Kunst 1913/14, mit der Großen Sinnenden und dem Emporsteigenden Jüngling, den Versuch (…), neue synthetische Ideale von Frau und Mann zu gestalten in Form spezifischer Kunst-Visionen der ‚neuen Frau‘ und, mehr noch, des ‚neuen Mannes‘.“ 19)