Hamburger Straßennamen -
nach Personen benannt

Erhard-Dressel-Bogen

Billstedt (1996): Erhard Dressel (21.4.1943 Dägeling -16.11.1991), Sozialarbeiter in der Siedlung „Sonnenland“


Zur Benennung der Straße hieß es am 22.4.1997 im Hamburger Abendblatt: „Erhard Dressel [war] von 1971 bis 1991 als Sozialarbeiter tätig (..). Der 1943 in der Kemper Marsch geborene Erhard Dressel studierte in Hamburg Sozialpädagogik. Hier gehörte er zu den Aktiven im Sozialistischen Deutschen Studentenbund und war 1968 einer der Mitbegründer der ersten Hamburger Wohngemeinschaft, die sich damals nach dem Berliner Vorbild noch SDS-Kommune nannte. Erhard Dressel interessierte vor allem die Aufgabe, in einem ‚in sich geschlossenen Arbeiterwohngebiet‘ etwas aufzubauen. Dressel nahm sich am 16. November 1991 das Leben.“

Bodo Krien hat 2020 eine Biografie über Erhard Dressel ins Netz gestellt. Daraus soll im Folgenden zitiert werden:
Erhard Dressels „Vater starb drei Wochen vor seiner Geburt als Soldat bei der Blockade Leningrads. (…).“ 1)
Als Junge erkundete Erhard gerne die Umgebung. „Seine Mutter besaß einen kleinen Fotoapparat; gemeinsam wurde fotografiert und die Ergebnisse ausgewertet. Bevorzugtes Ziel seiner Streifzüge war der nahegelegene Truppenübungsplatz, der damals vom dänischen Militär belegt war. Später benutzte er seine Ortskenntnisse, um mit Sonnenländer Jugendlichen dorthin Ausfahrten mit unvergesslichen Nachtaufenthalten zu organisieren.“ 2)

Im nahegelegenen Legerdorf gab es eine KPD-Gruppe, die Kinderferienfahrten in die DDR organisierte. „Erhards Mutter, zu der er bis zuletzt eine enge Bindung hatte, war eine sehr aufgeschlossene Frau und unterstützte die Teilnahme ihrer beiden Söhne, die sich Jahr um Jahr mehr dafür begeisterten. Während der heißesten Phase des Kalten Krieges lernte Erhard in der noch jungen DDR, Menschen mit ganz anderen Ideen kennen, die ein besseres, sozialistisches Deutschland anstrebten. An der Entwicklung der DDR blieb Erhard seit dieser Zeit intensiv interessiert (…).

Eigentlich sollte Erhard Optiker werden, aber nach 3 Tagen monotonen Glasschleifens reichte es ihm. Danach einen Monat Landarbeit bei einem Bauern, ein paar Monate in einer Gärtnerei in Marburg, bis er schließlich seine Ausbildung als Rechtsanwaltsgehilfe in der Kanzlei Goldberg am Jungfernstieg begann. In der Kanzlei Goldberg ging es u. a. um Wiedergutmachungsansprüche jüdischer Opfer des Naziregimes, aber das Notariat war auch ein Treffpunkt zionistischer Kräfte.

Nach eigener Aussage wurde Erhard, der 1963 seine Ausbildung abgeschlossen hatte, wegen Weitergabe einschlägiger Informationen an das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) verurteilt, was faktisch einem Berufsverbot gleichkam. Arbeit fand er trotzdem in der Anwaltspraxis von F.J. Degenhardt in der Osterstrasse.

Um 1964 orientierte sich Erhard beruflich neu und ließ sich zunächst in Fürstenhagen bei Kassel zum Erzieher ausbilden und studierte dann nach einem praktischen Jahr in Hamburg Sozialpädagogik und begann ein Studium der politischen und Erziehungswissenschaften. U.a. beschäftigte er sich in dieser Zeit erfolgreich mit der Entwicklung und Herstellung von pädagogischem Kinderspielzeug.

Dressel-Spielbausteine fanden sich oft in den Spieleregalen von Kindertagesstätten.

Seit dem Schah Besuch 1967 gehörte Erhard zu den politischen Aktivisten an der Uni-Hamburg.
Nach einem kurzen Zwischenspiel in der neugegründeten KPD/ML und im SLZ/SALZ wurde Erhard Mitglied der DKP, der er bis zuletzt treu blieb. Im November 1971 begann Erhard seine Arbeit in Billstedt-Sonnenland. Ihn interessierte die Aufgabe in einem in sich geschlossenen Arbeiterwohngebiet, auch weil sie ihm die Möglichkeit politischer Arbeit bot“. 3)

Dieter Wagner berichtet über die Arbeit von Erhard Dressel in „Sonnenland“: „Erhards Berufsleben als Sozialarbeiter im Arbeiterstadtteil Billstedt und seinem sozialen Problemviertel Sonnenland war außerordentlich erfolgreich. 1979 wurde das Sonnenlandprojekt mit dem Hermine-Albers-Preis [siehe: Hermine-Albers-Straße] ausgezeichnet. Der Preis wurde von der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe verliehen. Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) ist ein Netzwerk bundeszentraler Zusammenschlüsse und Organisationen der freien und öffentlichen Jugendhilfe in Deutschland, Die AGJ wird von den zuständigen Ministerien der Bundesländer finanziert.-
Zusammen mit mir schrieb Erhard 1981 das im Beltz-Verlag publizierte Buch Wohngebietsbezogene Sozialarbeit in einem Arbeiterviertel. Das Buch war in Fachkreisen stark nachgefragt und vermittelte zahlreiche Impulse für fortschrittliche Sozialarbeit. Es war auch eine Grundlage für Seminare, die Erhard als Dozent an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in der Saarlandstraße in Hamburg gab. (…).

Das Wohngebiet Sonnenland liegt am Stadtrand im Osten Hamburgs. Hier wurden zwischen 1962 und 1965 803 Wohneinheiten des sozialen Wohnungsbaus hochgezogen, in denen zu einem großen Teil einkommensschwache kinderreiche Arbeiterfamilien mit überwiegend geringem Bildungsniveau lebten. Seit Ende der 60er Jahre verunsicherte eine weit über dem Durchschnitt liegende Kinder- und Jugendkriminalität die im Sonnenland und Umgebung lebenden Menschen. Im Volksmund hieß das Sonnenland ‚Tal der Gesetzlosen‘.

Es war im Wesentlichen das Verdienst von Erhard, dass sich das Sonnenland-Projekt von einem wenig erfolgreichen Projekt mit schwierigen, meist wegen Körperverletzung verurteilten jugendlichen Rockern zu einem ganzheitlichen Projekt der wohngebietsbezogenen Sozialarbeit entwickelte. Die offene Jugendarbeit im bestehenden Jugendzentrum wurde sukzessiv ausgeweitet auf Gruppenaktivitäten, u. a. auf Erlebnisfahrten an Wochenenden mit Zelten und Paddelbooten…

Ein weiterer Schritt war die Entwicklung von präventiven Angeboten für Kinder verbunden mit der Einbeziehung der Eltern. Es folgten der Aufbau von Kinder-Jugendlichen- und Erwachsengruppen (Frauengruppe, Mietergemeinschaft, Jugendinitiative, Elterngruppe und einer Seniorengruppe) , die Freizeit gemeinsam verbrachten und sich alle erfolgreich für die Verbesserung der Lebenssituation im Wohngebiet durch die Organisation von Festen, Nachbarschaftshilfe, Diskussions- und Kulturveranstaltungen und für die Verbesserung der Infrastruktur wie z.B. die Gestaltung von Hauseingängen und Außenanlagen einsetzten und regelmäßig Gespräche mit der SAGA, Behördenvertretern, Kommunalpolitikern und Bürgerschaftsabgeordneten führten.

Das Sonnenland entwickelte sich von einem sozialen Brennpunkt zu einem in Hamburg und der BRD anerkannten Gemeinwesen Arbeitsprojekt. Politiker und Fachleute aus dem In- und Ausland kamen zu Besuch. Parallel hatte Erhard einen Lehrauftrag an der HAW in der Saarlandstraße über Gemeinwesenarbeit. Erhard war der ‚Architekt‘ des Projekts Sonnenland.“ 4)

Dieter Wagner und Bodo Kriehn, enge Freunde und Arbeitskollegen von Erhard Dressel schreiben unter der Überschrift „Persönliches“ auch über die Ursachen, die zum Tod von Erhard Dressel führten. So berichten sie u. a.: „„Erhard war ein mutiger Mensch. Erhard hatte den Mut, sich trotz aller Nachteile zu seinen politischen Auffassungen zu bekennen, den Mut entgegen gesellschaftlichen Normen ein ihm eigenes Privatleben zu führen (…). Aber Erhard war gleichzeitig ein ängstlicher Mensch. Erhard hatte Angst vor Ärzten und Krankheit, Angst vor Einsamkeit und dem Altwerden und die Angst, sich andern zu öffnen.

(…) Als Kommunist unterstützte er viele Aktionen für mehr Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Umso mehr litt Erhard unter den politischen Entwicklungen, unter dem Versagen und den Fehlern der kommunistischen Bewegung, die z. T. auch seine Fehler waren. Und Erhard war, trotz großer Erfolge, durch die oft mit Frustrationen verbundene 20jährige Sozialarbeit in Sonnenland erschöpft. Hinzu kam eine Augenerkrankung. Er war nicht mehr in der Lage zu lesen, zog sich in dunkle Räume zurück, auch psychiatrische Hilfe blieb erfolglos. Es hatte sich eine schwere Depression entwickelt, aus der Erhard keinen Ausweg mehr sah“.5)