Hamburger Straßennamen -
nach Personen benannt

Jeanette-Wolff-Ring

Bergedorf, seit 1992, benannt nach Jeanette Wolff, geb. Cohen (22.6.1888 Bocholt – 19.5.1976 Berlin), Widerstandskämpferin, Bundestagsabgeordnete (SPD), führende Mitarbeiterin in verschiedenen jüdischen Organisationen Deutschlands. Motivgruppe: Verdiente Frauen


Siehe auch: Louise-Schroeder-Straße.
Siehe auch: Kurt-Schumacher-Allee, St. Georg, seit 1962: Dr. Kurt Schumacher (1895-1952), SPD Parteivorsitzender, SPD-Fraktionsvorsitzender, Mitglied des Reichstages, Mitglied des Bundestages.

Geboren wurde Jeanette Wolff als Tochter von Dina Cohen, geb. Wolf (1859-1938) und Isaac Cohen (1855-1929). Isaac Cohen, Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands und Anhänger August Bebels „hatte, statt sich den Sozialistengesetzen zu beugen, seinen Lehrerberuf aufgegeben. Beide Eltern handelten mit Textilien und zogen mit ihrer Ware über Land, um sie auf den Bauernhöfen der Region zu verkaufen. Nach Jeanettes Geburt eröffneten sie einen Laden in ihrer Wohnung (…) im Bocholter Armenviertel (…). Die Symbiose von Judentum und Sozialismus in ihrem Elternhaus prägte Jeanette Wolff zeitlebens. Von Mutter Dina [Mutter von acht Kindern] häufig mit Esswaren zu armen Wöchnerinnen entsandt, wurde zudem [Jeanette Wolffs] frauenpolitischer Sinn früh geschärft“. 1)

Nach dem Besuch der jüdischen Elementarschule ging Jeanette Cohen als Sechzehnjährige nach Brüssel, „wo bessergestellte kinderlose Verwandte ihr eine einjährige Kindergärtnerinnen-Ausbildung ermöglichten“. 1) Nach dem Examen arbeitete sie als Kindergärtnerin und später als Erzieherin in einer Unternehmerfamilie.

Auch politisch begann sich Jeanette Cohen zu engagieren und trat 1905 in Brüssel der Sozialdemokratie bei. Gleichzeitig wandte sie sich der Frauenpolitik zu, besuchte neben ihrer Erwerbsarbeit das Abendgymnasium, bestand das „außerordentliche Abitur“ und heiratete, bereits schwanger, 1908 den Gemüsehändler Philip Fuldauer (1887-1909). Ihre 1908 geborene Tochter starb im Alter von neun Monaten, wenige Wochen später verstarb auch der Ehemann. Ihre zweite Ehe ging Jeanette Cohen 1911 mit dem Diplomkaufmann Hermann Wolff (1888-1945) ein.

Noch „am Vorabend der Hochzeit [entschloss] sich Hermann Wolff zum SPD-Beitritt. Dass sich der mittelständische Unternehmer aus national-liberalem, jüdischen Elternhaus (…) aus Liebe sozialistischen Ideen öffnete, markiert aus Geschlechterperspektive einen eher untypischen Weg der Politisierung: Diesmal näherte sich nicht die Frau, sondern der Mann der politischen Überzeugung des Lebenspartners an“. 1)

Jeanette Wolff bekam drei Kinder, engagierte sich politisch unvermindert weiter und organisierte die Büroarbeit in der von ihrem Mann in Bocholt aufgebauten kleinen Textilfabrik. Während des Ersten Weltkriegs leitete Jeanette Wolff die Fabrik, ihr Mann war als Soldat an der Front. „Trotz ihres kriegsversehrten Mannes – Hermann Wolff war mit einer schweren Verwundung von der Front zurückgekehrt und bedurfte bis 1924 der Pflege - und der 1920 geborenen dritten Tochter Käthe - zog es Jeanette Wolff zu Beginn der Weimarer Republik noch stärker in die Politik.“ 1) 1919 wurde sie Stadtverordnete und Stadträtin in Bocholt. Außerdem war sie Vorstandsmitglied des SPD-Bezirks Westliches Westfalen. Damit gehörte die „Sozialistin religiöser Prägung“ zu den ersten deutschen Kommunal- und Regionalpolitikerinnen.

Seit 1920 in der Funktion eines Vorstandsmitgliedes des Zentralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und des Jüdischen Frauenbundes trat sie gegen den Antisemitismus ein.

Ihre Kinder bezog sie stets in ihr kommunalpolitisches Leben mit ein. Dadurch „vermied Jeanette Wolff die besonders von männlichen Politikern gezogene Grenze zwischen ‚Privatheit‘ und ‚Öffentlichkeit‘“. 1)

Gleich am Tag der Reichstagswahl, dem 5. März 1933, wurde Jeanette Wolff „als eine der ersten weiblichen Oppositionellen in sog. ‚Schutzhaft‘“ 1) genommen und erst zwei Jahre später entlassen. Sie betätigte sich fortan in der illegalen Parteiarbeit der von den Nationalsozialisten verbotenen SPD. Ihr Mann wurde als „führendes Mitglied der SPD“ und wegen angeblicher „Verbreitung unwahrer Gerüchte“ für einige Wochen in Duisburger Zuchthaus inhaftiert. Seine Firma durfte er nicht mehr betreten. 1938 kam er für ein knappes Jahr ins KZ-Sachsenhausen. „Eine Emigration schien auch jetzt nicht möglich: Die bekannte Regimegegnerin Jeanette Wolff durfte Deutschland nicht verlassen.“ 1) 1942 wurden Jeanette Wolff, ihr Mann und zwei ihrer drei Kinder ins Getto Riga deportiert. Ihr Ehemann und die zwei Kinder kamen im KZ um. Jeanette Wolff wurde 1945 aus dem KZ Stuthof befreit und kehrte mit ihrer Tochter Edith nach Berlin zurück.

Jeanette Wolff widmete sich fortan ganz der Politik. Für die Berliner SPD-Zeitung arbeitete sie als Hilfsredakteurin; kurze Zeit war sie auch Mitglied einer Spruchkammer zur Entnazifizierung. Gemeinsam mit Kurt Schumacher (siehe: Kurt-Schumacher-Allee) „berieten sie Maßnahmen gegen die geplante ‚Zwangsvereinigung‘ von SPD und KPD“. 1) Von 1946 bis 1952 fungierte sie als SPD-Stadtverordnete in Groß-Berlin. „Ihr entschlossener Einsatz gegen die Verfechter einer staatssozialistischen Diktatur machte Jeanette Wolff in ganz Berlin bekannt.“ 1) „Gemeinsam mit Kurt Schumacher, Annemarie Renger, Otto und Susanne Suhr, Ernst Reuter, Louise Schroeder [siehe: Louise-Schroeder-Straße], Klara und Paul Löbe und vor allem dem Freund Franz Neumann (1904-1974) war Jeanette Wolff von Berlin aus an der Errichtung der jungen deutschen Demokratie beteiligt.“ 1)

Besonders die Entnazifizierungspraxis lag Jeanette Wolff am Herzen. Hierfür wünschte sie eine Verbesserung. „Für wenig ergiebig hielt Jeanette Wolff (..) die Klassifizierung in NS-Tätergruppen: ‚Ob jemand das Volk mit dem Wort, mit dem Lied oder mit der Schrift vergiftet hat, oder ob jemand mit dem Dolch einen Menschen umgebracht hat - sie haben die Atmosphäre geschaffen, aus der die menschlichen und baulichen Ruinen entstanden sind (…)‘. Um aus eigener Kraft demokratisch zu werden, dürfe Deutschland die Entnazifizierung nicht allein den alliierten Behörden überlassen, sondern müsse sich selbst von der NS-Diktatur befreien. Doch vergebens: Die Mehrheit der nichtjüdischen Deutschen lehnte die Entnazifizierungs-Spruchkammern ab, teils wegen ihrer Distanz zu den ‚Besatzungsmächten‘, teil aus Furcht vor einer Aufdeckung ihrer eigenen NS-Verstrickung.“ 1)

Auf dem SPD-Parteitag 1949 in Berlin forderte „Jeanette Wolff ein neues Entschädigungsamt, das alle NS-Verfolgten gleich behandelte und Missbrauch durch Unberechtigte ahndete: ‚ (…) wir werden in der Lage sein, die Spreu vom Weizen zu scheiden, und dann wird das Märchen ad acta gelegt werden, dass nur die Kommunisten Kämpfer gegen den Nationalsozialismus gewesen wären‘“. 1)

1952 wurde Jeanette Wolff Abgeordnete des Deutschen Bundestages (Vertretung Berlins). Das Mandat hatte sie fast ein Jahrzehnt bis 1961 inne. Im Bundestag setzte sie sich hauptsächlich für die so genannten Randgruppen ein: Jugendliche, ältere Menschen, Kranke, NS-Opfer. Bereits 1948 forderte sie eine Frauenquote bei der Verteilung der politischen Mandate. Zum Thema Gleichberechtig sagte sie einmal: „(..) es gab eine ganze Anzahl von [Frauen], die sich gegen eine gesetzliche Gleichschaltung der beiden Geschlechter wandte. Manche taten es aus Gründen politischer Beeinflussung anderer, weil sie in glücklichen und materiell gesicherten Ehen lebten oder weil sie ohnehin zu Hause ‚die Hosen anhatten‘. Jene Frauen, die beruflich tätig waren und im Leben ihre eigenen Belange erringen mussten, erklärten sich alle für eine uneingeschränkte Gleichberechtigung.“ 1)

Besonders lag ihr daran, dass das Bundesentschädigungsgesetz voranschritt. Doch auch nach seiner Verabschiedung 1953 schleppte sich die Wiedergutmachung weiter hin, was Jeanette Wolff empörte. Wenn sie im Bundestag in ihren Reden auf dieses Thema zu sprechen kam, sprach sie häufig vor halbleeren Parlamentsrängen. „Oft musste sie sich mit Verharmlosungsargumenten gerade seitens konservativer Abgeordneter auseinandersetzen. In den ‚Wiedergutmachungsdebatten‘ scheute Jeanette Wolff dann auch keineswegs den Vergleich materiell abgesicherter pensionierter Hitler-Generäle mit bedürftigen NS-Opfern, die auf den Abschluss ihrer Anerkennungsverfahren warteten. In diesem Zusammenhang warnte sie vehement vor allem vor einem Wiederaufleben ehemaliger NS-Organisationen (…). Angesichts eines seit den neunziger Jahren ansteigenden Rechtsextremismus haben ihre 1955 dem deutschen Bundestag vorgetragenen Bedenken, ‚dass in Bezug auf die Abwehr neofaschistischer Elemente und der ewig Unbelehrbaren etwas zu wenig in der Bundesrepublik und seitens der Bundesregierung getan‘ würde, nicht an Aktualität verloren.“ 1)

Neben ihrer Abgeordnetentätigkeit für den Bundestag leistete Jeanette Wolff auch Gewerkschaftsarbeit. Nach ihrem Ausscheiden aus dem Bundestag im Jahre 1961 verstärkte sie ihre Verbandsarbeit. So war Jeanette Wolff Ehrenvorsitzende der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, Vorsitzende des Jüdischen Frauenbundes, Mitglied der Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin (zeitweise deren Vorsitzende). Als sie diesen Sitz aus Altergründen aufgab, übergab sie ihn an Hans Rosenthal, vielen bekannt als Fernsehentertainer. Sie war u. a. stellvertretende Vorsitzende des Direktoriums des Zentralrats der Juden in Deutschland, Vorsitzende der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Vorstandsmitglied der Liga für Menschenrechte sowie Rundfunkratsmitglied der Deutschen Welle.