Hamburger Straßennamen -
nach Personen benannt

Max-Klinger-Straße

Billstedt (1971): Max Klinger (18.2.1857 Leipzig - 4.7.1920 Großjena), Bildhauer, Radierer, Maler.


Der damalige Direktor der Hamburger Kunsthalle, Werner Hofmann, schrieb 1986 im Katalog zur Ausstellung „Eva und die Zukunft“ über Max Klinger: „Vor genau hundert Jahren beschäftigten sich Max Klinger und Villiers de I’sle-Adam mit Eva und die Zukunft. Beide entwarfen Perspektiven, die in uralte Wunsch- und Angstträume zurückreichen, also den konkreten Hintergrund der gesellschaftlichen Probleme verleugneten und die ‚ewige Eva‘ in das Spannungsfeld von Schicksalsmächten stellen.

Der dreiundzwanzigjähriger Klinger mochte sich der Einschränkung bewußt sein, die seine sechs Radierungen dem Eva-Problem gaben, weshalb man den Zyklus im Zusammenhang mit anderen Blättern sehen sollte, in denen der Künstler sich der ganzen Breite des Rollenrepertoires bemächtigt, welches die Frau in der bürgerlichen Klassengesellschaft zu spielen hat. Es reicht von der Dirne über das Luxusweibchen bis zur hehren Muse, von der Arbeiterin zur Allegorie. Auf allen diesen Ebenen ist sie nicht selbstbestimmendes Objekt, sondern Subjekt der Männerwelt, gedeutet von einem Mann, dessen Scharfblick die privaten mit den öffentlichen Konflikten verbindet.

Mit moritatenhafter Direktheit schildert Klinger in drei Blättern des Zyklus ‚Dramen‘, wie ein Säufer Frau und Kind in den Freitod treibt (‚Eine Mutter‘) und als zeichnender Reporter hält er die Empörung der Unterdrückten in imaginären Straßenkämpfen fest (‚Märztage‘). Hier wie dort denunziert er die brutale Gewalt der Machthaber. Die drei politischen Reportagen sind nach Klingers Aussage nicht Kommentar, sondern ‚Zukunftsmusik‘: ‚Ich habe nie an die Revolution von 1848 gedacht! 1883 habe ich die Sachen componiert! Damals war die Zeit der schärfsten Sozialdemokratie mit revolutionärem Hintergrund in ganz Deutschland. (…) Das war der Mutterboden meiner Fantasie. Nämlich die Jetztzeit (…).‘

Welche Zukunftsmusik klingt im Eva-Zyklus (1880) an? Die sechs Radierungen gelten als verschlüsselter, gleichwohl eindeutig pessimistischer Kommentar zur Geschlechterfrage. Dokumente einer männlich-zwiespältigen Sehweise, (…) ‚Eva‘' ist die erste der unzähligen Frauengestalten des Künstlers, die alle im Konflikt mit der Männerwelt stehen. (…).“ 1)

Max Klinger widmete sich mit seinen Bildern auch dem Thema der „gefallenen“ Frau. Dazu schreibt Friedrich Gross zur Radierung „Gefesselt“ von Max Klinger, auf der eine liegende nackte Frau zu sehen ist, die von Männern umringt wird: „Die vom Dämon der Sexualität und des Schicksals gepackte Dirne, deren Reize verwelkt sind, wird von einer alten Kupplerin den Lebemännern präsentiert und ihrem Spott ausgeliefert; viele ehemalige Freier ihrer Glanzzeit sind vermutlich darunter. Diese Entwürdigung der Frau als verbrauchte Ware offenbart die Heuchelei der wohlsituierten Herren, die die ‚gute Gesellschaft‘ mit ihrem strengen Sittenkodex repräsentieren. Der Darstellung Klingers ist das Blatt von Edvard Munch [siehe: Edvard-Munch-Straße] ‚Die Gasse‘ verwandt, das die Frau auf dem schmachvollen Weg durch die Gasse der Männer zeigt. Wie bei Klinger sind diese Herren durch ihre Fräcke und Zylinder als Mitglieder besserer Kreise gekennzeichnet. In ‚Gefesselt‘ verbindet sich das Phantastische, traumartige mit einer realistischen Sicht, die den Klassengegensatz andeutet. Das soziale Milieu der Dirne schildert der Künstler ohne Beschönigung im neunten Blatt des Zyklus ‚Auf der Straße‘: es ist eine Welt dunkler Hinterhöfe in der Nähe von Fabriken.“2)

Der Kunsthistoriker Friedrich Gross interpretierte auch die Radierung „Schande“ von Max Klinger: „Vor der nackten, von stechendem Sonnenlicht bestrahlten Mauer des Stadtparks schleicht die ihr Gewissen zermürbende Frau dahin, begleitet von einem tiefdunklen Sündenschatten. Neben ihr geht die Schande, ein kräftiges Mannweib, das voller Hohn auf die ‚Verbrecherin‘ zeigt und deren Haltung nachahmt. Diese mit dem Stroh des Spottes, der Verachtung bekränzte Frau, die hämisch grinst, verkörpert die Selbstgerechtigkeit der Gesellschaft und erscheint als Feindin der Ausgestoßenen, deren Leid sie durch ihre Nähe vertieft. Von der Mauerbrüstung blicken die wohlanständigen Mütter, jungen Frauen und Damen herab, die sich im sicheren Bezirk üppiger Bäume befinden. Ihnen beschert der Anblick der ‚Verbrecherin‘ einen angenehmen Nervenkitzel. Klinger geißelt mit dieser Darstellung die doppelte Moral einer Gesellschaft, die die Prostitution förderte, in der Ehe die Frau in jeder Beziehung knechtete und die erotisch-sexuelle Liebe prinzipiell als unsittlich verdammte. Die asketische Moral der öffentlichen Meinung jener Zeit spiegelte am schärfsten die lutherische Sexual- und Familienlehre, die die sinnliche Lust streng an den Zweck der Kinderzeugung band und die Ehe als notwendiges Übel auffasste, damit schlimmere Unzucht verhindert werde. Die Frau wurde als Magd und Werkzeug ihres Eheherrn betrachtet. Es fällt auf, dass Klinger den gegenseitigen Beistand der Frauen, ihre Solidarität nicht kennt, sondern gerade die Härte, ja Feindseligkeit der Geschlechtsgenossinnnen hervorhebt. Diese Frauen haben die offiziellen Moralvorstellungen ihrer Herren, der Männer, verinnerlicht. (…).“ 3)