Hamburger Straßennamen -
nach Personen benannt

Paul-Dieroff-Weg

Niendorf (1991): Paul Dieroff (30.11 1928 Badenstedt bei Zeven -15.12.1944 Dachau), Schüler jüdischer Herkunft, Opfer des Nationalsozialismus. Stolperstein: Garstedter Weg 101.


Paul Gottfried Dieroff wurde als Kind von Carl Heinrich Dieroff und seiner Frau Bertha Louise, geb. Rothgießer (geb. 17.10.1889 in Hamburg), geboren. Berthas Mutter Rosa, geb. Aronstein, war die Mitbegründerin des Wäsche- und Aussteuer-Geschäfts „H. u. R. Aronstein" am Neuen Wall 12, die Familie war jüdisch. 1909, nach dem Tod ihrer Eltern, übernahm Bertha Rothgießer gemeinsam mit ihrem Bruder Otto das Geschäft. Der Bruder wurde 1915 als Soldat im Ersten Weltkrieg bei Wilna in Litauen getötet.

1911 hatte Bertha den nichtjüdischen und evangelisch getauften Buchhalter Carl Heinrich Dieroff geheiratet. Mit ihm zog sie 1914 nach Tostedt in der Nordheide. 1918 erwarben sie bei Badenstedt das Gelände einer alten Ziegelei, legten dort einen Obst- und Gemüsegarten an und lebten von dessen Ertrag. Ihr Sohn Paul kam 1928 zur Welt, 1930 starb Carl Heinrich Dieroff. 1932 heiratete die verwitwete Bertha Dieroff den Futtermittelhändler und Holzimporteur Wilhelm Freudenthal, der ebenfalls nichtjüdischer Herkunft war. Im gleichen Jahr wurde auch Paul Dieroff in Vilsen getauft, 1935 wurde er in Zeven eingeschult.

Weil Bertha Freudenthal Jüdin war, wurde ihr und ihrer Familie nach 1933 das Leben auf dem Lande schwer gemacht. Sie verkauften das Grundstück in Badenstedt und zogen 1938 in das damals noch ländliche Niendorf bei Hamburg. Dort, am Garstedter Weg 101, erwarben sie erneut ein Grundstück und errichteten erneut einen Gartenbaubetrieb. Ab Ostern 1938 besuchte Paul Dieroff die Volksschule Niendorf am Niendorfer Marktplatz. 1939 wurde er in die Mittelschule Lokstedt, am Sootbörn gelegen, umgeschult. Von Zeitzeugen wurde Paul Dieroff als netter, sensibler Junge bezeichnet, der zurückhaltend war und manchmal verängstigt wirkte. Er war aber auch einer der Klassenbesten und soll beim Jungvolk gewesen sein, der Organisation der Hitlerjugend für die 10- bis 14-jährigen Jungen. Dies deutet darauf hin, dass sein Status als „Halbjude" bzw. „Mischling ersten Grades" entweder anfangs nicht bekannt war oder dass diejenigen, die davon wussten, darüber hinwegsahen.

Im Frühjahr 1943 wurde Paul Dieroff in der Kirchengemeinde Niendorf konfirmiert. Bis in die 1940er-Jahre hinein scheint die Familie am Rande der Großstadt Hamburg ein zwar nicht völlig unbeeinträchtigtes, aber doch halbwegs „normales" Leben geführt zu haben. Zeitzeugen gaben an, sie hätten gar nicht gewusst, dass Pauls Mutter jüdisch war. Andere, die es wussten, kümmerten sich nicht darum, „man traf sich zum gemeinsamen Schulweg oder auch nachmittags im Hause". Familie Freudenthal galt als sehr harmonisch und kinderlieb, Nachbarn und Bekannte kamen gern zu Besuch. Wahrscheinlich setzten mit den zahlreichen judenfeindlichen Erlassen nach 1938 auch die ersten Schikanen gegen die in „privilegierter Mischehe" lebende Bertha Freudenthal, ihren Sohn und ihren Ehemann ein. 1939 ließ das Ehepaar das Grundstück, das bis dahin auf beider Namen eingetragen war, auf den „arischen" Wilhelm Freudenthal übertragen, um es einem möglichen Zugriff der NS-Behörden zu entziehen.

Eine sehr unrühmliche Rolle spielte in dieser Zeit ein Ehepaar aus der Nachbarschaft, dessen Grundstück vom Rebhuhnweg aus im hinteren Teil des Gartens an das der Freudenthals grenzte. Nach dem Krieg kam es zu einem Prozess gegen die Eheleute. Aus diesem Kontext sind Zeugenaussagen überliefert, die in einer Broschüre, die Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule Niendorf zusammengestellt haben, zitiert werden:

„Eines Tages traf ich Frau H. am Garstedter Weg. Sie hielt mich an und warf mir meinen Kontakt zu Frau Freudenthal vor. Sie sagte wörtlich: ‚Wie können Sie mit einer Jüdin sprechen? Sie wissen wohl nicht, wohin Sie gehören? Nehmen Sie sich in Acht!‘ Dabei drohte sie mir mit dem Finger. Ich habe ihr geantwortet: ‚Das geht Sie gar nichts an. Außerdem ist mir das ganz egal. Juden sind auch Menschen.‘ – Darauf drohte sie mir: ‚Sehen Sie sich vor!‘ Und ich antwortete: ‚Dass Sie so schmutzig sind, das kann ich gar nicht begreifen.‘ Ich kann mich noch sehr gut erinnern, welche Angst ich nach diesen Drohungen vor Frau H. hatte. Immer, wenn ein Auto vor unserer Tür hielt oder ich nur das Klappen von einer Autotür hörte, dachte ich, ich sollte abgeholt werden." „Ich hörte, dass Frau Freudenthal und Paul von Frau H. denunziert wurden. Herr und Frau H. hatten mit allen Nachbarn Streit. Er hatte viel Dreck am Stecken. Da flogen die Teller durch die Gegend. Auch schlug er seine Frau."

Im Frühjahr 1943, wahrscheinlich Ende März, kam es zur Eskalation. Bertha Freudenthal hatte gemeinsam mit ihrem Sohn ein „Vergehen" begangen, für das beide teuer bezahlen mussten. Die beiden hatten nicht nur ein Kino besucht (was Juden verboten war), sondern waren auch erst nach 20 Uhr zu Hause angekommen, obwohl für Juden eine nächtliche Ausgangssperre ab 20 Uhr galt. Dies war den H.s nicht entgangen und sie denunzierten Bertha Freudenthal bei der Gestapo. Sie wurde am 1. April 1943 in die Gestapostelle Rothenbaumchaussee 38 vorgeladen. Dort nahm man sie fest und brachte sie in das Gestapo-Gefängnis Fuhlsbüttel. In der Haft wurde ihr mit der Deportation in ein Vernichtungslager gedroht, wenn sie sich nicht von ihrem Ehemann scheiden ließe.

Am 30. April 1943 wurde die Scheidung vollzogen. Über die Zeit, in der seine Frau in Haft war, berichtete Wilhelm Freudenthal später gegenüber dem Amt für Wiedergutmachung: „Ich wurde von Frau H., Niendorf, unserer Nachbarin, verfolgt. Bei der Gestapo hatte sie gemeldet, ich wäre Jude. Durch Beschaffung einer Ahnentafel mußte ich nachweisen, daß ich arisch war. Da meine Frau in Haft und ich allein war, hatte ich eine Hausangestellte zur Hilfe angenommen. Ich ging pflichtgemäß zur Polizei, um die Hausangestellte anzumelden. Das brauchen Sie nicht mehr, wurde mir dort gesagt. Das hat Frau H. schon getan, Sie brauchen nur noch die Strafe zu zahlen für die zu späte Anmeldung. H. und Frau wohnen noch heute in ihrem Haus und treiben ihr gemeines Spiel weiter."

Am 5. Mai 1943 wurde Bertha Freudenthal gemeinsam mit ihrem Sohn auf den Transport nach Theresienstadt geschickt, wo sie am 7. Mai ankamen.

Der damals 15-jährige Paul, der als „Mischling ersten Grades" eigentlich gar nicht hätte deportiert werden dürfen, hatte bis dahin die Mittelschule am Sootbörn besucht. Warum er den Transport mit antreten musste, ist unklar. Es gibt dazu widersprüchliche Aussagen von Zeitzeugen: Paul habe seine Mutter nicht allein lassen wollen, aber auch, seine Mutter habe sich nicht von ihm trennen wollen.

In der Broschüre der Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule Niendorf wird nicht zu Unrecht darauf hingewiesen, dass die SS kaum geneigt gewesen sein dürfte, solche „Mitreisewünsche" zuzulassen. Es steht auch die Frage im Raum, welche Rolle Pauls Klassenlehrer W., der Stellvertretender Ortsgruppenleiter der NSDAP war, in diesem Drama gespielt hat. Gegenüber seiner Klasse zeigte er sich nach der Erinnerung von Mitschülern Pauls bestürzt über die Verhaftung von Bertha Freudenthal, nach einer anderen Aussage habe er der Klasse mitgeteilt, Paul sei „umgesiedelt" worden, eine weitere Stimme war der Ansicht, er selbst habe Bertha Freudenthal ebenfalls denunziert. Überliefert ist auch, dass Paul Dieroff am Tag vor der Deportation, also am 4. Mai, aus einem unbekannten Grund seinen Klassenlehrer zuhause aufsuchte. Erhalten ist außerdem der Schülerbogen von Paul Dieroff, den Lehrer W. schon am 2. Mai mit der Bemerkung geschlossen hatte: „Entlassen aus der hiesigen Schule am 1. Mai 1943 als Halbjude ins Protektorat".

In Theresienstadt hat Bertha Freudenthal bis Dezember 1943 Zwangsarbeit in einer Tintenfeder-Fabrik geleistet, danach arbeitete sie im Reinigungsdienst des Lagers.

Mit den so genannten Herbst-Transporten wurden 1944 tausende Jüdinnen und Juden nach Auschwitz verschleppt. Am 19. Oktober 1944 musste der noch nicht ganz 16-jährige Paul Dieroff den Transportzug nach Auschwitz besteigen. Zwei Tage zuvor war seine Mutter 55 Jahre alt geworden. Sie entging deshalb den Todestransporten und wurde im Mai 1945 durch die Sowjetarmee befreit.

Paul Dieroff blieb nicht lange in Auschwitz, sondern wurde am 27. Oktober weiter ins KZ Dachau deportiert. Dort überstellte man ihn ins Außenlager Kaufering, in dem besonders menschenunwürdige Zustände herrschten. Es gab kaum Nahrungsmittel und nicht einmal Baracken für die Häftlinge. Ende 1944 brach dort eine Typhus-Epidemie aus. Paul Dieroff, geschwächt durch die KZ-Haft, erlag der Krankheit. Sein Tod ist für den 15. Dezember 1944 standesamtlich belegt. (…)

Bertha Freudenthal verließ Theresienstadt am 26. Mai 1945 und kehrte zu ihrem Mann zurück. Das Ehepaar erwirkte die Annullierung der Scheidung und wurde am 30. Oktober 1945 wieder standesamtlich als verheiratet eingetragen. Bertha Freudenthal befestigte ein Plakat an ihrer Gartenpforte, auf dem sie auf das Schicksal ihres Sohnes aufmerksam machte: „Hier wohnte bis Mai 1943 Paul Dieroff Freudenthal, geb. 30. Nov. 1928. Durch Denunziation bei der Gestapo wurde er nach Theresienstadt verschleppt und kam im Dez. 1944 im KZ Dachau um." Sie setzte durch, dass gegen das Ehepaar H. ein Prozess angestrengt wurde. Er endete mit dem Freispruch des Ehemannes und der Verurteilung seiner Frau zu vier Monaten Gefängnis.

Die Zeit in Theresienstadt hatte die Gesundheit von Bertha Freudenthal stark angegriffen. Nach dem Krieg litt sie unter Ohnmachten, Rheuma, Zahnverlust und Schwerhörigkeit. Die Wohnsituation des Ehepaares Freudenthal war in den ersten Jahren nach dem Krieg prekär: Sie hatten bereits aus freien Stücken ein obdachloses Ehepaar aufgenommen, im April 1947 wurde ein weiteres Zimmer beschlagnahmt, 1948 sollten sie auch noch die Veranda abtreten.

Bertha Freudenthal engagierte sich in der VVN und versuchte, für das eigene erlittene Unrecht, den Verlust ihres Sohnes und ihrer Schwester, und die durch die Verfolgung entstandenen materiellen Verluste Wiedergutmachungsansprüche geltend zu machen. Dies dauerte bis weit in die 1960er-Jahre hinein und gelang nur teilweise. Am 13. März 1969 ist Bertha Freudenthal in Hamburg gestorben.

Text: Ulrike Sparr, Text entnommen www.stolpersteine-hamburg.de