Stenzelring
Wilhelmsburg (1969): Georg Stenzel (27.10.1877 Frankfurt a. M. – 23.1.1964 Hamburg, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer.
Nach dem Abitur 1897 am Realgymnasium in Frankfurt/Oder studierte Georg Stenzel bis 1900 an der Technischen Hochschule Aachen und wurde anschließend zum Dr. Ing. promoviert. Während seines Studiums in Aachen gehörte er dem schlagenden Corps Guestphalia an (ab 1904 Marko-Guestphalia). 1917 trat er als Geschäftsführer in den Dienst der damaligen Hamburgischen Gewerbekammer (später Handwerkskammer) und wurde 1923 deren Hauptgeschäftsführer.1)
Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten im Januar 1933 entließ der vom Nationalsozialistischen Kampfbund für den gewerblichen Mittelstand eingesetzte kommissarische Kammerpräsident Walter Kleist Stenzel im Mai 1933 fristlos ohne Pension.2) „Ein Trupp von Braunhemden“ war in sein Zimmer eingedrungen, „worauf dieser, ,ein aufrechter Mann’, ging.“3) Angeblich seien in Stenzels Büro Hunderte nicht erledigte Akten gefunden worden, außerdem in der Kasse der Handwerkskammer ein auf seinen Namen ausgestellter Schuldschein über ein Darlehen von 8000 Reichsmark, der in den Büchern nicht vorkam. Schließlich warf ihm die neue Leitung der Handwerkskammer noch vor, „ohne gesetzliche Befugnis Gelder aus dem Kammervermögen zu Darlehenszwecken an Handwerker verwendet“ zu haben, die zum großen Teil „als uneinbringlich“ erschienen. Tatsächlich hielt ihn die NSDAP für politisch unzuverlässig; er selbst gab in seinem Entnazifizierungsfragebogen an, 1932 die nationalliberale DVP und 1933 die SPD gewählt zu haben. Auch hätte er bereits 1931 und 1932 Angebote abgelehnt, in die NSDAP einzutreten, obwohl ihm dafür der Posten eines Senators versprochen worden war für den Fall, dass die NSDAP in Hamburg an die Regierung käme.4)
Mit seiner fristlosen Entlassung fand sich Stenzel nicht ab und wandte sich an den damaligen Reichstreuhänder der Arbeit für das Wirtschaftsgebiet Nordmark Friedrich Völzer mit der Bitte, sich „bei den staatlichen Parteistellen für ihn zu verwenden“. Reichstreuhänder der Arbeit waren im Zuge der arbeitnehmerischen und betrieblichen Gleichschaltung durch die Nationalsozialisten im Mai 1933 installiert worden; sie sollten bei Konflikten in Betrieben zwischen Unternehmern und Arbeiterschaft vermitteln. Völzer erreichte durch ein Gespräch mit dem Hamburger NS-Gauleiter und Reichsstatthalter Karl Kaufmann, dass die Angelegenheit vor ein „unparteiisches“ Schiedsgericht unter Vorsitz des von den Nationalsozialisten eingesetzten Landgerichtspräsidenten Waldemar Schmidt kam – allerdings ohne Ergebnis. Stenzel einigte sich dann doch direkt mit der Gewerbekammer zur Abgeltung aller von ihm gemachten Ansprüche auf ein Ruhegehalt. Für das tatsächlich erhaltene Darlehen sollte er dagegen eine Hypothek auf sein Grundstück in Blankenese aufnehmen. Das Ruhegehalt wurde bereits im Oktober 1933 durch eine allgemeine Anordnung des Hamburger Senats um etwa 30 Prozent heruntergesetzt. Erneut widersprach Stenzel. Die Gewerbekammer ließ ein Rechtsgutachten erstellen und machte mehrere Vergleichsvorschläge, die Stenzel nicht annahm, bis sich beide Seiten schließlich Ende 1938 verständigten.5)
Nach seiner Entlassung wurden Stenzel und seine Frau zudem auf Befehl seines Nachfolgers, des NSDAP-Mitglieds Stark, durch eine Auskunftei und die Gestapo bespitzelt. Der ehemalige Gestapokriminalsekretär Theodor Pelzer aus Altona bestätigte später im Entnazifizierungsverfahren, dass von der Gestapo Berlin der Auftrag kam, den Briefwechsel des Ehepaars mit ihren Kindern auf „staatsfeindliche Inhalte“ hin zu kontrollieren; außerdem fanden Hausdurchsuchungen statt und wurde Stenzels Ehefrau von der Gestapo verhört, weil sie sich in Briefen „bitter über die unerhörte Behandlung, die ihm widerfuhr“ beklagt hatte.6)
Während die Verhandlungen über die Höhe seiner Pension liefen, wurde Stenzel ab dem 1. März 1934 für zwei Jahre von der Hamburger Industrie- und Handelskammer als „wissenschaftlicher Berater“ beschäftigt, direkt gefolgt von einer Tätigkeit als technischer Berater, die er mehr als sieben Jahre lang bis zum 1. September 1943 ausübte.7)
1942 trat er – als Mitglied der Verbindung Marko-Guestphalia – in den NS-Altherrenbund (NSAHB) ein, eine von der NSDAP betreute Organisation.8) Der Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß hatte sie 1937 zum einzigen von der NSDAP anerkannten Zusammenschluss von Alten Herren der deutschen Hoch- und Fachschulen erklärt und ihr Hauptzweck bestand darin, die Tätigkeit des NS-Studentenbundes (NSDStB) an den Hochschulen zu unterstützen.
Im Dezember 1942 machte der inzwischen 65-jährige Stenzel eine Eingabe beim damaligen Vizepräsidenten der Industrie- und Handelskammer (seit Mai 1942 Teil der Gauwirtschaftskammer Hamburg) Dr. Harald Mandt, der gleichzeitig ein Blankeneser Nachbar war. Darin formulierte Stenzel seinen „Wunsch auf Rehabilitation und ordnungsgemäße Pensionierung auf Grundlage des 1933 bezogenen Gehalts bei gleichzeitiger Aufhebung des geschlossenen Vergleichs“. Das Ergebnis ist nicht bekannt. Er trat zumindest nicht in den Ruhestand, sondern wurde direkt im Anschluss an seine Beratertätigkeit ab September 1943 Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer sowie stellvertretender Geschäftsführer der Abteilung Industrie. Das Arbeitsverhältnis dauert bis kurz nach Kriegsende. Am 1. Oktober 1945 trat er mit fast 68 Jahren auf eigenen Wunsch in den Ruhestand.9)
Die Handelskammer Hamburg (ab 1942 Teil der Gauwirtschaftskammer Hamburg) arbeitete während der NS-Zeit eng mit dem Regime zusammen – eine Zusammenarbeit, „die sich trotz oder gerade wegen strukturell unterschiedlicher Interessen ergab[en] und zu einer extensiven Kompensation durch das NS-Regime und Einbindung der Hamburger Wirtschaft in dessen Verbrechen führte[n]“.10) So stand zwar die wirtschaftliche Autarkie, auf die das NS-Regime mit dem Vierjahresplan zum Erreichen der wirtschaftlichen und militärischen Kriegsfähigkeit abzielte, im Gegensatz zu den Exportinteressen der Hamburger Kaufleute. Doch sie arrangierten sich damit. Auch profitierten sie ebenso von der „Arisierung“, also der wirtschaftlichen Verdrängung und Existenzvernichtung der Jüdinnen und Juden im NS-Regime, wie vom Expansionsdrang des Regimes und tragen „tiefe Mitverantwortung für den Raubkrieg der Nazis“, so Detlef Garbe, Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.11) Außerdem führte die Kammer den „Arierparagrafen“ ein und schloss jüdische Mitglieder aus.
Kurz vor Kriegsende drängte die Gauwirtschaftskammer zudem auf Räumung des KZ Neuengamme und Fortschaffung der Häftlinge, um „Repressalien der Siegermächte“ zu vermeiden, sollten diese bei der Einnahme der Stadt auf halb verhungerte Häftlinge und Opfer von Gräueltaten stoßen”.12) „Tausende von Häftlingen kamen zu Fuß oder in Güterwaggons unter unmenschlichen Bedingungen in „Auffanglager“ wie Wöbbelin (5.000 Häftlinge), Sandbostel (9.000 Häftlinge) oder Bergen-Belsen (8.000 Häftlinge aus dem KZ Neuengamme). Diese drei Zielorte wurden zu Sterbelagern. Dort wurden die Häftlinge ohne Nahrung, ohne medizinische Versorgung und unter katastrophalen hygienischen Bedingungen sich selbst überlassen. In Neuengamme ließ die SS die Spuren der Verbrechen verwischen.“13)
Die Tatsache, dass Stenzel durch das NS-Regime rehabilitiert wurde, erklärten seine Frau und Dr. Mandt 1946 im Entnazifizierungsverfahren damit, dass er „unter Einsatz seines Lebens als einziger Beamter während der schweren Luftangriffe [im Juli/August, d. Verf.] 1943 in der Handwerkskammer seinen Dienst tat und damit für die Erhaltung der Hamburger Industrie und des Handwerks Großes leistete. In Anerkennung der selbstlosen Pflichterfüllung und in Erkennung des bisher dem Dr. Stenzel zugefügten Unrechts“ setzte ihn NS-Gauleiter Karl Kaufmann wieder in sein altes Beamtenrecht ein. „Parteipolitische Erwägungen irgendwelcher Art wurden hierbei nicht berührt.“14)
Nach Kriegsende beschlagnahmte die britische Militärregierung Möbel im Haus des Ehepaars Stenzel. Dabei sagte Stenzels Ehefrau einem britischen Offizier gegenüber, dass ihr Mann Parteigenosse gewesen sei, was sie im Rahmen des Entnazifizierungsverfahrens ihres Mannes wieder abstritt. Sie hätte dem Offizier gegenüber vielmehr geäußert, dass sie nicht verstünde, weshalb gerade bei ihnen Möbel beschlagnahmt wurden, „während die aktiven Nazis in der Nachbarschaft vollkommen unbelästigt blieben.“15) Stenzel legte dem Entnazifizierungsausschuss diverse Schreiben – auch von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern in der Blankeneser Nachbarschaft – vor, um sich zu entlasten und die Nichtmitgliedschaft glaubwürdig zu machen.16) Eine NSDAP-Mitgliedskarte für ihn lässt sich (Stand 2016) nicht finden.17)
Noch 1945 beendete er seinen selbstgewählten Ruhestand wieder, arbeitete erneut als Geschäftsführer für die Handwerkskammer und beteiligte sich an ihrem Wiederaufbau. Außerdem wurde er ehrenamtlich als staatlicher Schlichter in Arbeitskämpfen tätig. 1950 verlieh ihm die Stadt Hamburg ihre höchste Auszeichnung, die Bürgermeister-Stolten-Medaille.18)
Text: Frauke Steinhäuser