Tessenowweg
Winterhude (1977): Heinrich Tessenow (7.4.1876 Rostock-1.11.1950 Berlin), Architekt
Siehe auch: Gropiusring
Heinrich Tessenow war der Sohn von Louise Tessenow, geb. Voß und des Zimmermanns Johann Tessenow mit eigener Zimmerei, in der Heinrich Tessenow eine Lehre als Zimmermann absolvierte. Kay Kappel schreibt 2016 in der Neuen Deutschen Biographie über den Werdegang von Heinrich Tessenow: „Es folgten der Besuch der Baugewerkschulen in Neustadt (Meckl.) 1896 und Leipzig 1897, dann eine Tätigkeit als Eisenbahnbau-Assistent in Danzig. 1899–1901 studierte T. Architektur an der TH München (…). Nach kurzer Atelierpraxis bei Martin Dülfer (1859–1942) übernahm T. Lehrtätigkeiten an den Baugewerkschulen in Sternberg 1902 und Lüchow 1903, im Jahr darauf an den Saalecker Werkstätten von Paul Schultze-Naumburg (1869–1949) und an der Handwerks- und Kunstgewerbeschule in Trier 1905–09.“ 1)
In der Zeit, als Tessenow in Lüchow tätig war, heiratete er 1903 im Alter von 27 Jahren die damals 23-jährige Lehrerstochter Elly Mathilde Charlotte Schülke. (geb. 1880, vermißt 1945 auf der Flucht aus Neubrandenburg). Zwei Jahre später wurde 1905 die erste Tochter geboren.
Nun Ehemann und Vater schritt die Karriere voran. Tessenow wurde Assistent von Martin Dülfers an der TH Dresden. „1910–13 arbeitete er für die Deutschen Werkstätten bzw. die Gartenstadt Hellerau bei Dresden (Wohnhäuser, Festspielhaus, Möbelentwürfe). 1913–19 lehrte er an der Wiener Kunstgewerbeschule (1914 Prof.titel).“ 1) 1915 wurde Tessenow erneut Vater einer Tochter. „1918/19 war T. Mitglied im revolutionären Arbeitsrat für Kunst, zudem von der bayer. Räteregierung als Leiter des Bauwesens vorgesehen, 1919 gründete er in Hellerau eine Handwerkergemeinde. (…).“ 1) Im selben Jahr kaufte Tessenow für seine Frau und die beiden damals 14 und 4 Jahre alten Töchter ein Haus in Neubrandenburg in der Neutorstraße 22, wo er sich selbst aber kaum aufhielt. (siehe zum Haus, unter: www.nur-beton.de/bauwerke/tessenow-haus/)
Kai Kappel schreibt in der Neuen Deutschen Biographie weiter über Tessenows Arbeit als Architekt: „Seit 1902/03 zeigte T. Interesse am Wohnungsbau für Arbeiter und Kleinbürger; hier leistete er wichtige Beiträge zur zeitgenössischen ‚Reformbaukunst‘.
1911–12 schuf er ein Hauptwerk der Reformkultur, die international beachtete Bildungsanstalt für rhythmische Gymnastik Emile Jaques-Dalcroze in Hellerau: eine axialsymmetrische Anlage, im Zentrum der große Festspielsaal als stützenloser Einraum, dessen Portiken in reduktiven klassizistischen Formen gehalten sind. In seiner Schrift ‚Handwerk und Kleinstadt‘ (1919) reagierte T. auf den Krieg und eine überspezialisierte industrielle Produktion: Beeinflußt durch John Ruskin, William Morris und Ebenezer Howard plädierte er für eine Rückkehr zum mittelalterlichen Handwerksgeist und für ein Leben in überschaubaren Stadteinheiten von 20 000 bis 60 000 Einwohnern (…). Durch seine sachlich-schlichten Wohnhausentwürfe für untere und mittlere soziale Schichten und die Oberleitung über die Versuchssiedlung Fischtalgrund in Berlin-Zehlendorf beeinflußte T. den Siedlungsbau der Weimarer Republik und auch der NS-Zeit. Er empfand sich als Mittler zwischen Traditionalisten und Avantgardisten, (…). T. stand dem Nationalsozialismus distanziert gegenüber und erhielt 1933–45 nur wenige Bauaufträge. Auf Betreiben seines langjährigen Assistenten Albert Speer (1905–81) beteiligte sich T. am Wettbewerb für das K. d. F.-Seebad Prora auf Rügen (1936), gestaltete zudem die Halle der Olympischen Kunstausstellung in Berlin (1936) und plante Siedlungen und Stadtteile in Magdeburg, Warnemünde, Mosigkau und Potsdam (1939–42). Diese blieben ebenso unrealisiert wie seine Aufbauplanungen für nord- und nordostdt. Städte (u. a. für Pasewalk, Neubrandenburg, Rostock, Demmin u. d. Lübecker Altstadt, 1946–47).“ 1)
Über Heinrich Tessenows politische Einstellung in der Zeit des Nationalsozialismus schreibt Ernst Klee: „Tessenow (…) hielt sich beharrlich von der Versuchung fern, Großbauten zu errichten.“ 2) Und Hans-Jürgen Treuteberg äußert: „Mit den Nationalsozialisten arbeitete Tessenow nicht zusammen. Er war nicht bereit, auf ihre gestalterischen Vorstellungen einzugehen. Obgleich sich Speer als sein Schüler betrachtete, gelang es Speer nicht, Tessenow in die umfangreiche Bautätigkeit der Nationalsozialisten einzubeziehen. Den Nationalsozialisten war Tessenows Ablehnung ihrer Architektur- und Stadtplanungsvorstellungen bekannt, da er dies nicht verschwieg.“ 3)
Im Magdeburger Biographischen Lexikon wird über Tessenows Förderer Wilhelm-Adolf Farenholtz berichtet. „In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre stand T. in engem Kontakt mit dem Präsidenten der Industrie- und Handelskammer Magdeburg Wilhelm-Adolf Farenholtz, auf dessen Veranlassung nach T.s Entwürfen in Magdeburg das Verwaltungsgebäude der Firma Vereinigte Ölfabriken Hubbe & Farenholtz (1935) sowie eine Fahnenhalle (Hindenburgehrenmal) für die neu errichtete Infanterie-Kaserne in der Nähe des Herrenkruges (1936–39) ausgeführt wurden. T. förderte auch in den 1940er Jahren den Bau von Stadtrandsiedlungen und lieferte u. a. einen nicht realisierten Entwurf für eine Wohnsiedlung der Junkerswerke in Magdeburg (1940–41).“ 4)
Tessenows Förderer Wilhelm-Adolf Fahrenholtz: „glaubte fest, daß nur auf den von der NSDAP aufgezeigten Wegen eine soziale und wirtschaftliche Konsolidierung Deutschlands möglich sei. Er engagierte sich daher schon Anfang der 1930er Jahre nachdrücklich für die NSDAP. 1933 wurde er Präsident der Industrie- und Handelskammer Magdeburg, später auch der Wirtschaftskammer Mittelelbe bis zu deren Umgründung in die Gau-Wirtschaftskammer Sachsen-Anhalt. Seit 1938 Wehrwirtschaftsführer, versuchte F. gemäß Hermann Görings Vierjahresplan die wirtschaftliche Autarkie Deutschlands zu fördern und erfolgreich ‚Erstes deutsches Rapsfett‘, synthetische Fettsäure, zu produzieren. F. galt in der Stadt als Exponent einer nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik. (…). Unabhängig von den kulturpolitischen Vorgaben der Nationalsozialisten förderte F. die moderne Kunst – Erich Heckel, Emil Nolde, Lyonel Feininger, Karl Schmidt-Rottluff, Christian Rohlfs (…) Sein Wohnhaus Duvigneaustraße (heute Jean-Burger-Straße) beherbergte eine große Sammlung sogenannter “entarteter Kunst” (weitgehend zerstört). (…) Das Bürohaus der Firma (1936/37) hatte Heinrich Tessenow geplant. F. betrieb auch Tessenows Mitarbeit beim Bau der Cracauer Kasernen.“ 5)
1941 wurde Tessenow „planmäßig pensioniert“ 6), schreibt Corinna Isabel Bauer in ihrer Dissertation über die Architekturstudentinnen in der Weimarer Zeit und die Tessenow-Schülerinnen. Außerdem erwähnt sie, dass Tessenow: „an den Vereinigten Staatsschulen (…) bereits zum 30.9.1933 gekündigt [worden war], was jedoch – so die Erkenntnisse Christine Fischer-Defoys – weder auf politisches Engagement zurückzuführen noch als Ablehnung seiner Architekturauffassung zu interpretieren ist,“ 7) sondern – so heißt es in der Fußnote 63 dieser Dissertation: „wegen seiner gleichzeitigen Professur an der TH als ‘Doppelverdiener’, der zugleich durch die aufgespürte ‘kommunistische Zelle’ in seiner Klasse an den VS in Mißkredit gefallen ist.“ 8)
Nach 1945 nahm er seine Lehrtätigkeit an der Berliner Universität wieder auf.
Tessenow und seine Einstellung zu Architektinnen und Frauen
Corinna Isabel Bauer hat sich in ihrer Dissertation aus dem Jahre 2003 mit Tessenows Schülerinnen beschäftigt, die an der TH Charlottenburg studierten, als Tessenow dort unterrichtete. Tessenow wurde 1926 an die TH Charlottenburg berufen. Bei ihm studierten zwischen 1926 und 1940 34 Studentinnen. 9)
Über Zugangsmöglichkeiten zum Architekturstudium und über studierende Frauen in diesem Fach äußert Corinna Isabel Bauer: „Als akademisches Fach an Technischen Hochschulen verankert, konnte Architektur ohne Abitur nur an Baugewerke- bzw. Kunstgewerbeschulen, vereinzelt an Akademien studiert werden. (…).. Wie bereits während der Kaiserzeit finden auch während der Weimarer Republik architekturinteressierte, selbstbewusste junge Frauen in Deutschland manches Mal höchst individuelle Wege ins Berufsfeld. Während die Studentinnen der Kaiserzeit noch deutlich nach Durchlässigkeiten, ‘Lücken’ in einem ihnen unzugänglichen System suchten, informieren sich die um die Jahrhundertwende geborenen Architekturaspirantinnen über das Spektrum an Studienmöglichkeiten, wählen - soweit möglich - Hochschule und -lehrer nach inhaltlichen Kriterien und individuellen Interessen aus. Abiturientinnen haben dabei die Wahl zwischen acht Architekturfakultäten an Technischen Hochschulen innerhalb des Deutschen Reiches. Ohne Abitur bleiben sie auf Akademien und Fachschulen angewiesen. (…) Die Gesamtzahl der in Deutschland ordentlich immatrikulierten Architekturstudentinnen an Technischen Hochschulen dürfte für den Zeitraum von 1919 bis 1933 nach meiner Schätzung ca. 500 betragen“ 10)
Die Studentinnen kamen aus dem Bildungsbürgertum. Vor Beginn des Studiums hatten sie ein Praktikum zu absolvieren, was schwierig zu bewerkstelligen war, da: „auf Baustellen arbeitende Frauen - und damit auch Praktikantinnen – (…) in den Bauhauptgewerken ein Kuriosum [war]. (…) Während des Praktikums musste - aufgrund der Ausnahmesituation - die Frage geeigneter Umkleide- und Sanitärräume gelöst werden. Im Unterschied zu Architekturstudentinnen der Kaiserzeit konnten sich die Architekturstudentinnen der Weimarer Republik jedoch schon sicher sein, dass es zwar ungewöhnlich, aber nicht mehr anstößig oder unanständig war, als bürgerliche Tochter für eine begrenzte Zeit auf einer Baustelle handwerklich zu arbeiten.“ 11)
Die Frauen, die bei Tessenow studierten, kannten seine Auffassung von Architektur und seine Schwerpunktsetzungen. Entschieden sich also bewusst für ein Studium bei ihm. Dazu schreibt Corinna Isabel Bauer: „Zweifellos war Tessenow den meisten StudentInnen schon zu Beginn des Studiums ein Begriff. Seine Präsenz an der Hochschule bietet den Vorteil, sich bereits vor Eintritt ins Seminar ein konkretes Bild von seiner Person wie von seiner Lehre machen zu können. Aufgrund eigener Publikationen wie der Publikation seiner Entwürfe in Fachzeitschriften ist Tessenow in den zwanziger Jahren aber auch einem weitaus größeren Kreis von Studierenden bekannt.“ 12)
Dem Architekturstudium von Frauen: „steht Tessenow während der Weimarer Republik (…) nicht offen ablehnend gegenüber. Seine Zurückhaltung in dieser Hinsicht fällt insbesondere im Vergleich zu früheren Äußerungen auf, denn bei der Gründung der Handwerkergemeinde Hellerau 1918 hatte er für den Ausschluss von Handwerksmeisterinnen plädiert und ein Werkstattverbot für Frauen durchgesetzt. [Doch] forderte er (…) nie öffentlich, ‚daß die Frau der Baukunst ganz fern bleiben muß.‘ Inwieweit Tessenow die in den Schriften des öfteren zu findenden Geschlechterpolaritäten auch im Seminarunterricht illustrierend einsetzte, bleibt fraglich. Dr. Otto Kindt, zeitweilig Assistent bei Tessenow, erinnert, dass dieser sich zu den ‚zu seiner Zeit bereits häufigen Diskussionen‘ nicht direkt geäußert habe. Seine Maxime im realen Geschlechterverhältnis blieb: ‚Sie [Frauen und Männer] müssen lernen, sich besser zu verständigen.‘ (…) An die ‘Damen’ gerichtete Botschaften Tessenows sind nicht überliefert. Und so harmlos die gut gemeinte Rede von ‘Herren Kollegen’ und ‘Mädchen’ geklungen haben mag, mit dieser Sprachregelung markiert Tessenow nicht nur den Unterschied zwischen ‘Mädchen’ und ‘Knaben’ oder ‘Damen’ und ‘Herren’, hier kennzeichnet er Studenten als zukünftige Kollegen, Studentinnen als adoleszent. Im retrospektiven Verweis der studierenden Frauen auf ein vorprofessionelles Niveau wie im Vorgriff auf einen noch nicht erlangten Berufsstatus der männlichen Studierenden spiegelt sich die Grenzziehung entlang des Geschlechts innerhalb der Profession wider. Hier kommt deutlich zum Ausdruck, dass ‘Mädchen’ - auch nach Tessenows Auffassung - eigentlich nicht zum und in das Berufsfeld gehören,“ 13) so Corinna Isabel Bauer.
Über Tessenows Einstellung zur Geschlechterfrage äußert Corinna Isabel Bauer: „(...) obschon mit zunehmendem Alter sowie in der konkreten Auseinandersetzung mit Studentinnen durchaus Zugeständnisse erkennbar sind, zeigt er sich weiterhin auch von der ‘Unterlegenheit des weiblichen Prinzips’ überzeugt - und damit von der Legitimität einer ‘naturgegebenen’ Geschlechterhierarchie. Dementsprechend hält er an tradierten Rollenzuschreibungen und dem ‚männlichen Gebiet der Baukunst‘ fest. ‚Nicht der Mann und nicht die Frau sondern die Verbindung beider ist hier das allgemein Entscheidende (..) auch für unsere Wohnlichkeit‘. Auf der Suche nach ‘Behausung’ und ‘Wohnlichkeit’ ironisiert er vermeintlich weibliche Denk- und Lebensformen als ‚häkeldeckchenhaft‘ und ‚kleinweltlich‘.“14)
Welche Lebensentwürfe aber verfolgten Tessenows Studentinnen? Dazu Corinna Isabel Bauer: „Auch wenn sich die meisten Tessenowstudentinnen bemühten, bürgerliche Konventionen nicht zu verletzen und familiäre Erwartungen zu erfüllen, so nutzten sie offenbar ihre habituellen Möglichkeiten, um deren Grenzen sowohl zu überschreiten wie zu ziehen. Und so sehr das Studium mancher TH-Studentinnen als verlängerte Adoleszenz unter elterlicher Aufsicht erscheint, die Mehrheit dieser Architekturaspirantinnen studiert nicht nur zielstrebig sondern ebenso selbstbewusst. Sie verbinden mit dem Architekturstudium die Erwartung, sich möglichst bald am realen Baugeschehen aktiv zu beteiligen. Diesen Studentinnen bietet das Seminar Tessenow klare Rahmenbedingungen des Kompetenzerwerbs. Die Berechenbarkeit dieses Studiums basiert ebenso auf einer erkennbaren, architektonischen Haltung wie auf einem überschaubaren Aufbau. (…) [Die Studentinnen] sahen den Sinn eines Architekturstudiums primär im Erwerb beruflicher Fähigkeiten und suchten bei ihm den Selbsttest als Planer- und Entwerferinnen, nicht unbedingt das große Experiment. Warum sollten diese Studentinnen an einem Lehrer zweifeln, der es offensichtlich gut mit ihnen meinte? Oder, soweit sie selbst von der Unterschiedlichkeit der Geschlechter überzeugt waren, geschlechtskodierte Themen zurückweisen, zumal ihre Qualifikation außer Frage stand? Heinrich Tessenow wusste auch ihre Studienleistungen zu würdigen. Dennoch ließ er kaum Zweifel darüber aufkommen, dass die fachliche Förderung von Studentinnen mit dem bestandenen Diplom ihren Abschluss erreicht habe. Und während er für die berufliche Entwicklung seiner Studenten auch weiterhin ein offenes Ohr hatte und bspw. zahlreiche Empfehlungen verfasste, lässt sich bisher kein vergleichbares Engagement für seine Studentinnen finden. Obschon auch manche seiner Diplomandinnen hinsichtlich einer Promotion immatrikuliert blieben, lässt sich keine Dissertation einer Studentin bei ihm nachweisen, während er Studenten durchaus auch promovierte.“ 15)