Thedestraße
Altona-Altstadt (1951): Reimer Thede (16.8.1834 Lütjenwestedt- 16.11.1889 Altona), Leiter der Knabenschule in Altona.
Vorher hieß die Straße Bürgerstraße.
Heinrich Deiters, ein ehemaliger Schüler von Reimer Thede, schrieb 1931 eine kleine Borschüre über seinen ehemaligen Lehrer, woraus im Folgenden zitiert werden soll: „Lütjenwestedt bei Hanerau-Hademarschen ist (…) ein kleines Dorf (…). Dort wurde Reimer Thede am 16. August 1834 als zweiter Sohn eines Schlachters geboren. Die Erwerbsverhältnisse der Eltern waren sehr bescheiden und wurden durch die insgesamt neun Kinder nicht gebessert. Die Mutter, Catharine geb. Sievers, war die Tochter eines Lehrers und hatte den Wunsch, ihre Söhne gleichfalls für den Lehrerberuf zu interessieren. Der älteste Sohn wurde Schlachter wie sein Vater und Reimer hatte vorläufig auch mehr Freude an der Beschäftigung mit Vierbeinern als an der mit jungen Zweibeinern. Er musste als Kind schon wie auch seine Brüder als Hofjunge bei den Bauern arbeiten (…). Der Winter war die einzige Zeit, die einen regelmäßigen Schulbesuch möglich machte. Im Sommer war die Landarbeit wichtiger. Die Mutter verstand es aber, ihren Kindern auch im Sommer regelmäßig Stunden geben zu lassen und der Lehrer Hansen förderte Reimer und den jüngeren Bruder Hans so weit, dass Reimer beim Tode seines Vaters als siebzehnjähriger die Stelle eines Unterlehrers in Schrum und dann in Langwedel ausfüllen konnte. (…)
Endlich ging es auf das Seminar in Segeberg. (…). Leicht ist es der Mutter nicht geworden, die Mittel für das Seminar aufzubringen und für den Unterhalt haben die Lütjenwestedter Bauern manche Wurst und manches Pfund Butter beigesteuert. Dazu mussten ihm in Segeberg die wöchentlichen drei Freitische zu Mittagessen verhelfen. In diesen Jahren hat Reimer nichts als Arbeit und oft Hunger kennen gelernt.
Im Herbst 1858 verließ er das Seminar (…). Die nächsten Jahre sehen ihn an verschiedenen Stellen als Hilfslehrer und dritten bis zweiten Lehrer in Itzehoe 1858-60, dann ein halbes Jahr in Kiel, in Rendsburg 1860-62 und wieder in Kiel. Bis dahin war er an Privatschulen tätig. Erst als 30jähriger, 1864 konnte er in den Volksschuldienst übertreten. IN diesem Jahre übernahm er die landlehrerstelle in Krumstedt bei Meldorf. Vier Jahre wirkte er an dieser Stelle, bis er 1868 auf seine Bewerbung hin nach Altona kam. (…)
Der Grund seines Fortgehens war neben einem ausgeprägten Ehrgeiz das Streben, für Mutter und Schwestern mit sorgen zu können, was bei dem schmalen Einkommen auf dem Lande unmöglich war. Allzu glänzend waren die Einkünfte ja auch in Altona nicht, erreichte er doch erst 1876 als Hauptlehrer an der Bürgerschule ein Gehalt von Mark 2060 (…). Umsomehr muss man die persönliche Bedürfnislosigkeit anerkennen, das er es mit diesen Mitteln verstand, seine Familie wirkungsvoll zu unterstützen.
Nacheinander sehen wir ihn in folgenden Stellungen:
1868-69, 1. Knaben-Bürgerschule
1869-71, 2. Mädchen-Bürgerschule
1871-76, 3. Knaben-Freischule
1876-77, 4. Knaben-Bürgerschule
1877 wieder 1. Knaben-Bürgerschule, diesmal als Hauptlehrer.
Im Jahre 1881 meldete sich der nun 47jährige zur Prüfung an Mittel- und höheren Töchterschulen. (…) Im September 1881 legte Reimer Thede diese Prüfung ab und meldete sich sofort zum Rektorexamen, dass er ein Jahr später, ebenfalls in Tondern, bestand. (…)
Im Juni 1882 bewarb sich Thede um die Stelle als Schulleiter. (…) [ in einer Knaben-Freischule] (…).
Man muss sich klar machen, dass in den Freischule nur Kinder ganz unbemittelter Altonaer Aufnahme fanden. Wer es irgend konnte, der schickte sein Kind in eine Bürger- oder Mittelschule. (…) Als es nun soweit war, dass er Schulleiter werden konnte, da zog es ihn zu den Ärmsten und Hilfsbedürftigen. Es ist bezeichnend für seine Art, ein Schulamt auszufüllen. Aus schwierigstem Material, ungenügend ernährten und gekleideten, durch die Mitarbeit in irgend einem Betriebe oft nicht ganz ausgeschlafenen Jungen Menschen zu bilden, die es getrost mit den Schülern anderer Anstalten aufnehmen konnten. Die auf gewissen Gebieten, Deutsch, rechnen, andern sogar voraus waren. Man braucht sich nur vorzustellen, unter welchen Verhältnissen der Arbeiter damals wohnen und werken musste. Kinderreiche Familien wohnten in engen Räumen. (…) Sanitäre Einrichtungen gab es garnicht. Ebenso keinen Schutz für Jugendliche. In der ganzen Schule war kaum ein Junge, der nicht auf irgend eine Art mit zum Broterwerb beitragen musste. Jeder Streik, jede Aussperrung wirkte sich durch den Mangel sozialer Hilfen in den Familien zum Erschrecken aus. So kamen die meisten überarbeitet und in irgend einer Weise auch sonst benachteiligt in die Schule. Aus diesem Material formte Thede. (…)
Am 1. Oktober 1882 erhielt er diesen von ihm begehrten Posten als Schulleiter der 3. Knaben-Freischule (…). Diesen Posten hat er auch nicht mehr verlassen, bis am 16. November 1899 ein Schlaganfall seinem Wirken ein Ende setzte.
Die Umwandlung der Freischulen sowie Bürgerschulen in Volksschulen, die um 1890 erfolgte, hat Thede mitgemacht. 1899 erhielt er eine Ordensauszeichnung als äußerstes Zeichen der Anerkennung. (…)
Es darf nicht wunder nehmen, dass er ganz das Kind seiner Zeit war. Aufgewachsen in kleinen, dörflichen Verhältnissen unter Leitung einer Mutter, der das Einordnen und Unterordnen Familientradition war. Als junger Mensch dann schon Schullehrer unter Aufsicht der geistlichen, denen er sich durch Erziehung und das Bewusstsein der eigenen Unfertigkeit willig unterordnete. Später dann die scharfe Zucht des Seminars, die irgendwelche Seitensprünge auch auf geistigem Gebiete unmöglich machte. So wuchs er auf in dem damals herrschenden System der absoluten Zucht- und Lernschule. Auch der Lernschule. Was man nicht wortgetreu herunterrabbeln konnte, das nicht gelernt. Ob der Schüler dabei die Materie auch innerlich erfasst hatte, kam im allgemeinen wohl erst in zweiter Linie. Und da ist Thede trotz aller äußeren Beschränkung dennoch eigene Wege gegangen. Trotz allen Festhaltens am hergebrachten versuchte er, seine Schüler zu eigenem denken und eigenem Urteil zu erziehen. (…)
Die Zeit zwischen 1848 und 1890 zeitigte ja einen Staatsbürger mit einer ganz bestimmten Einstellung zu seiner Umwelt und zum Staat. Besonders nach 1870 wuchs unter den militärischen Erfolgen ein sehr gehorsames und in jeder Beziehung artiges Geschlecht. ZU den Menschen, die in der Achtung vor der Obrigkeit lebten, gehörte Thede absolut. Das bürgerliche Gesetz und das Moralgesetz waren die unbedingt sichern Regulatoren allen Tuns. Für alles, was damals gleichzeitig und gewissermaßen aus der Tiefe gären wollte, dürfte er kaum ein Verstehen gehabt haben. Das ist ihm gegen menschliche und göttliche Ordnung gegangen. Diese Einstellung muss nach seinem Herkommen als ganz selbstverständlich angenommen werden. (…)
Mit unermüdlichem Eifer stand er vor der Klasse und er erkannte die Fähigkeiten des Einzelnen genau. Das gab ihm auch die Möglichkeit, jeden so zu fördern, wie es wünschenswert erschien. (…)
Übermut versucht ja immer, dem Lehrer irgendwie ein Schnippchen zu schlagen. Das wurde bei Thede garnicht erst versucht. Er hätte den Tollkühnen ja doch sofort durchschaut. Und das konnte unangenehm werden. Wer sich nicht entschließen konnte, die Arbeit interessant zu finden, der wurde das Opfer eines geradezu wuchtigen Zornes. Die Stunden bei Reimer Thede waren Arbeitsstunden von wirklicher Intensität. Selbst wir ganz ‚Guten‘ legten oft bei Schluss die Sachen erleichtert unter den Tisch. Die Schleiferei war Gott sei Dank mal wieder vorbei. Frage und Antwort – Schlag auf Schlag. Wehe, wenn etwas nicht klappte. Dabei wurde in jener Zeit allergrößter Wert auf wörtliche Widergabe des Gesagten gelegt. (…)
Vorbereitung für das Leben, das hieß für Reimer Thede Deutsch und Rechnen. (…)
Als Kind seiner Zeit ist auch Thede nicht losgekommen von dem Überlieferten. Ihm lag auch garnicht das eifernde Neue. Gehorsam im Kleinen, treu sein den Aufgaben, verantwortlich sein sich selbst und der Welt, das war ihm inneres Wesen. Und so, wie er selber treu war seinem Amt und gehorsam seinen Vorgesetzten, so verlangte er restlose Hingabe von seinen Lehrern und unbedingten Gehorsam von den Kindern. Nicht immer sind die Lehrer mit ihm einverstanden gewesen. Gar zu oft kehrte er gegen sie den Autokraten heraus anstatt ‚Erster unter Seinesgleichen‘ zu sein. Die Anbringung von Glasscheiben in den Klassentüren ist ihm, und vielleicht mit recht, als unangebrachtes Mittel zur Spionage angerechnet worden. (…)
Nichts war ihm so im innersten Grunde zuwider wie widersetzliches Benehmen, Rüpeleien usw. Bezeichnend ist ein langes Rechtfertigungsschreiben, das er auf die Beschwerde eines Vaters im Jahre 1876 seinem Schuldirektor vorlegte. (…)‘Gerate ich in die unangenehme Lage, irgend einen Knaben, von welchem mir körperliche Schwächen nicht bekannt sind, in ernster Weise mit einem Stock züchtigen zu müssen, so fordere ich denselben zunächst auf, sich zu bücken und kommt der betreffende dieser Aufforderung sofort nach, so erhält er für ein Vergehen mittleren Grades ja nach seinem Vorleben einen bis drei kräftige Schläge. Schwerere Vergehen als Schullaufen, Diebstahl und grober Unfug in der Klasse und auf der Straße werden jedoch wesentlich schärfer bestraft. Sträubt sich aber ein Knabe, die ihm zugedachte Strafe willig entgegenzunehmen, so ergreife ich ihn und züchtige ihn dann nach Gebühr.‘
Jawohl, so war er. Das heißt, die Gebührenordnung bestimmte er dann selber. Dieser Junge hatte sich jedenfalls gesträubt, die ihm zugedachte Strafe willig entgegenzunehmen. Die Mutter, die Thede ermpört zur Rede stellen wollte, wies er hinaus, weil sie während des Unterrichts kam. Darauf ließ der Vater den Jungen von einem Arzt untersuchen (der belanglose Striemen feststellte) und reichte Beschwerde ein. Später kam der Vater um klein beizugeben und bat um Ersatz des Talers, den er für das Attest ausgegeben hatte. Natürlich ohne Erfolg. (…)
Zu berwundern ist, dass er das große Geschick hatte, die Kinder nicht zu verwirren, sie auch nicht als ewig zürnender Rächer mühsam in Bann zu halten, sondern durch Beispiel und unermüdliche Treue freiwillige Einordnung zu erreichen. Und so, wie er den Kindern half., über eine böse Stunde hinwegzukommen, so half er auch den Eltern. Es hat sich wohl niemand ohne Erfolg um Rat an ihn gewandt. Er prüfte die Eignung eines Schülers für den gewählten Beruf, er prüfte die Aussichten die dieser Beruf dem Jungen bieten konnte und er überzeugte sich bei dem Lehrherrn von der Güte des Betriebes. Thede war ein nie müder Berater. So war er auch trotz der geringen Bezüge, die sein Beruf ihm brachte, seinen Schwestern eine Stütze. Die jüngste der Schwestern hat ihm bis zu seinem Lebensende den Haushalt versorgt. Er selber ist unvermählt geblieben. Wohl band ihn seit seiner Jugendzeit eine stille Zuneigung an die Erbin eines Bauernhofes in Lütjenwestedt. Beide Menschen waren sich innig zugetan. Aber Thede war nicht der Mann, sich sein Lebensglück gegen hergebrachte Formen zu erzwingen. Er als armer, ehemaliger Hofjunge und jetziger Lehrer hätte nie gewagt, seine Wünsche auf eine wohlhabende Bauerntochter geltend zu machen. Er und auch sie verzichteten als gehorsame Kinder einer Tradition. An seinem Grabe stand eine schwarzgekleidete Frau aus Lütjenwestedt und senkte den ersten Kranz in die offene Gruft, ihrem Jugenderlebnis nach. Am 19.November 1899, in herbstlichem Regen, folgte ihm eine große Schar seiner Freunde und Schüler auf dem letzten Wege. Drei Tage zuvor hatte ein Schlaganfall ihn aus dem vollen Leben gerissen. Zwei Tage stand der Tote aufgebahrt in der Schule an der Bürgerstraße und abschiednehmend kamen die Besucher. Schüler hielten nachts die Totenwache.“ 1)