Rumpelstilzchenweg
Schnelsen (1968), Märchenfigur.
Siehe auch: Grimmstraße
Ein Märchen der Gebrüder Grimm. „Ein Müller behauptet von seiner schönen Tochter, sie könne Stroh zu Gold spinnen, und will sie an den König verheiraten. Der König lässt die Tochter kommen und stellt ihr die Aufgabe, über Nacht eine Kammer voll Stroh zu Gold zu spinnen, ansonsten müsse sie sterben. Die Müllerstochter ist verzweifelt, bis ein kleines Männchen auftaucht und ihr gegen ihr Halsband Hilfe anbietet und für sie das Stroh zu Gold spinnt. In der zweiten Nacht wiederholt sich das Gleiche und die Müllerstochter gibt ihren Ring her. Darauf verspricht der König dem Mädchen die Ehe, falls sie noch einmal eine Kammer voll Stroh zu Gold spinnen kann. Diesmal verlangt das Männchen von der Müllerstochter ihr erstes Kind, worauf sie schließlich ebenfalls eingeht. Nach der Hochzeit und der Geburt des ersten Kindes fordert das Männchen den versprochenen Lohn. Die Müllerstochter bietet ihm alle Reichtümer des Reiches an, aber das Männchen verlangt ihr Kind. Durch ihre Tränen erweicht, gibt es ihr aber drei Tage Zeit, seinen Namen zu erraten. Dann soll sie das Kind behalten dürfen. In der ersten Nacht probiert es die Königin mit allen Namen, die sie kennt; doch ohne Erfolg. In der zweiten Nacht versucht sie es erfolglos mit Namen, die sie von ihren Untertanen erfragt hat. Am Tag darauf erfährt sie von einem Boten, dass ganz entfernt ein Männchen in einem kleinen Haus wohnt, das nachts um ein Feuer tanzt und singt: Heute back ich, morgen brau ich, übermorgen hol ich der Königin ihr Kind; ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß! Die Königin fragt zunächst, ob Rumpelstilzchen ‚Kunz‘ oder ‚Heinz‘ heiße, und nennt dann erst den korrekt überlieferten Namen. So kann sie das Rätsel nun lösen, und Rumpelstilzchen zerreißt sich vor Wut selbst mit den Worten: ‚Das hat dir der Teufel gesagt!‘“ 1)
Eine Interpretation des Märchens in Bezug auf die Befreiung der Frau vom Patriarchat lautet: „Von Anfang an wird die Entwicklung der Müllerstochter von männlichen Personen bestimmt und erzwungen. Das Mädchen wird mit männlichen Erwartungen belegt, die sie einlösen muß. Ein individuell weiblicher Entwicklungsweg ist nicht möglich. Die früh geprägte Fremdbestimmtheit bewirkt die Bedürfnis- und Willenlosigkeit des Mädchens und ermöglicht Rumpelstilzchen, sich zunehmend in ihrem Leben auszubreiten. Am Ende beansprucht der Kobold ihr Kind. (…) Die Müllerstochter befreit sich aus dieser Hörigkeit und erwirbt sich eine eigene Lebensbasis. Sie rettet ihr Kind“ 2)
Heinz Röllecke interpretiert das Märchen auf ähnliche Weise: „Meine Tochter kann Stroh zu Gold spinnen (damit stößt sie der verlogene Vater ins so gut wie sichere Verderben) – wenn du es nicht kannst, musst du sterben (damit bedroht sie der noch mächtigere König mit schlimmster, unverdienter Strafe) – übers Jahr musst du mir zum Lohn dein Kind geben (damit erpresst der übermächtige Dämon die Hilflose). Wir haben eine junge Frau vor uns, die nicht nur restlos von der Männerwelt abhängig zu sein scheint, sondern die den sich dreimal ins Unermessliche steigernden Pressionen scheinbar völlig wehrlos ausgeliefert ist – ein leider nur zu getreues Spiegelbild der familiären und gesellschaftlichen Rolle, die der Frau jahrhundertelang undiskutiert hierzulande zudiktiert wurde. Auch die Elemente, die man sozusagen zum Schutz in dieses üble Rollenspiel eingebracht hatte: Beschützerfunktion des Vaters, des Königs oder jenseitiger Mächte – auch das pervertiert hier ins krasse Gegenteil: die Beschützer werden zu schlimmsten Bedrängern und Verfolgern. Das Märchen liebt die Drastik und treibt sie auch hier auf einen unüberbietbaren Höhepunkt. – Der Fort- und Ausgang der Geschichte ist bekannt: ‚Nun besann sich die Königin die ganze Nacht und schickte einen Boten über Land, der sollte sich erkundigen weit und breit.‘ Das heißt doch wohl: sie nimmt ihr Schicksal selbst in die Hand. Sie sucht jetzt endlich keine Zuflucht mehr hinter ihrem Herrn Vater, ihrem Eheherrn oder Herrn Rumpelstilz – und schon ist die Erlösung von allen Pressionen geglückt. Die Märchenheldin spürt das und kostet das aus: in subtilster Ironie lässt sie nun den Hauptvertreter der männlichen Gegenspieler genauso zappeln wie er seinerzeit sie. Drei Nächte hindurch war er die Katze um den heißen Brei geschlichen, hatte den Mitleidigen gespielt, bis er mit seinem Ansinnen herauskam. So konfrontiert sie ihn nun am dritten Ratetag erst mit zwei absichtlich falsch geratenen Namen, obwohl sie den rechten schon weiß. Höchster Triumpf der Frau im Märchen, von der literarischen Gattung gefeiert, von der Erzählerin sichtlich genossen, von Millionen Hörerinnen erfreut zur Kenntnis genommen – aber auch angewandt? – oder nur verinnerlicht? Das sind weitreichende Fragen, mit denen ich hier bewusst provozierend schließen möchte.“ 3)