Stellbrinkweg
Bergedorf/Allermöhe (1995): Karl Friedrich Stellbrink (28.10.1894 Münster – hingerichtet 10.11.1943 Hamburg), Pastor in Lübeck, Gegner des Nationalsozialismus.
Siehe auch: Prassekstraße
Siehe auch: Hermann-Lange-Weg
Karl Friedrich Stellbrink war der Sohn von Helene Stellbrink, geb. Kirchhoff und des Steuersekretärs Karl Stellbrink. 1921 heiratete der damals 26-jährige Karl Friedrich Stellbrink die Lehrerin Hildegard Dieckmeyer (19.10.1895 Rahden (Westfalen) – 17.3.1970 Hamburg). Stellbrink war damals als Vikar in Barkhausen tätig. Nachdem er „für das geistliche Amt des überseeischen Dienstes ordiniert (…)“ worden war, wurde er einen Monat nach der Hochzeit „von der evangelischen Landeskirche Preußens zur seelsorgerischen Betreuung deutscher Siedler nach Brasilien geschickt.“1) Seine Ehefrau ging mit. Dort war er bis 1929 tätig und dort wurden auch die drei Kinder des Ehepaares geboren.
Martin Thoemmes schreibt über Stellbrink: „Fasziniert von den zunehmenden Erfolgen der Nationalsozialisten in Deutschland, kehrte der patriotisch-national gesonnene St. nach einem Heimaturlaub im Frühjahr und Sommer 1929 mit seiner Familie nicht nach Brasilien zurück, sondern bewarb sich um Aufnahme in den Kirchendienst in Thüringen. Er wurde mit der vikarischen Verwaltung des Kirchspiels Sirbis (Kirchenkreis Weida) beauftragt, und nachdem er im März 1930 in Eisenach eine Ergänzungsprüfung abgelegt hatte, wurde er Pfarrer in der thüringischen Gemeinde Steinsdorf. Im selben Jahr trat er der NSDAP bei, bald darauf wurde er auch Mitglied des Bundes für Deutsche Kirche, einer kleinen, national gesinnten evangelischen Bruderschaft. In Steinsdorf betrieb er intensive Jugendarbeit mit dem Ziel einer Verbindung von völkisch-bündischem Gedankengut mit dem christlichen Glauben. Im Juni 1934 wurde St. als Pastor an die Lübecker Luther-Kirche berufen, wobei seine Zugehörigkeit zur NSDAP und zum Bund für Deutsche Kirche eine Rolle spielte, da sie den Bemühungen der Nationalsozialisten in Senat und Kirchenleitung um eine ideologische Gleichschaltung der Kirche in Lübeck entsprach. St. entwickelte sich in Lübeck jedoch mehr und mehr zu einem Kritiker des Regimes, dessen Politik er trotz der anderslautenden offiziellen Bekundungen als kirchenfeindlich erkannte. Seine Kinder traten aus der Hitler-Jugend aus, da deren Treffen auch in der Zeit der Sonntagsgottesdienste stattfanden. Wegen seiner offen gepflegten Beziehung zu einem in der Nachbarschaft lebenden Juden wurde St. vor ein Parteigericht geladen; die Gestapo verwarnte ihn mehrfach wegen kritischer Äußerungen in seinen Predigten. 1936 war seine Unterschrift zwar noch auf einer Ergebenheitsadresse für den nationalsozialistischen Bischof Erwin Balzer zu finden, doch im Jahr darauf wurde er wegen Kritik an der Jugendarbeit der NSDAP aus der Partei ausgeschlossen.“1)
1941 lernte er den katholischen Kaplan J. Prassek (siehe: Prassekstraße) kennen, „der zusammen mit dem Vikar H. Lange und dem Adjunkten E. Müller an der Lübecker Herz-Jesu-Kirche eine gegen die nationalsozialistische Ideologie gerichtete Seelsorge betrieb. Mit Prassek und Lange verteilte St. Flugschriften und Predigten, in denen die ‚Euthanasie‘- und die Kirchenpolitik der Nationalsozialisten verurteilt wurden“1), so Martin Thoemmes.
1942 wurde Stellbrink von der Gestapo verhaftet und im Juni 1943 zum Tode verurteilt. Mit Prassek, Lange und Müller wurde Stellbrink ins Hamburger Gefängnis Holstenglacis überstellt und dort wurden die vier Geistlichen am 10.11.1943 enthauptet.
Martin Thoemmes schreibt: „St.s Kampf gegen die NS-Herrschaft war noch nach 1945 in der eigenen Kirche umstritten. Seine Ehefrau erhielt zwar 1945 die Rechtstellung der Witwe eines im Amt verstorbenen Pastors und eine entsprechende Versorgung, aber eine offizielle Rehabilitierung St.s durch den Kirchenrat erfolgte ebenso wenig wie eine Verwerfung des Todesurteils. Erst 1993 wurde St. von der Kirchenleitung der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche in aller Form rehabilitiert, und im selben Jahr wurde das Urteil des Volksgerichtshofes vom Landgericht Berlin vollständig aufgehoben.“ 1)
2018 setzte sich Markus Springer im Sonntagsblatt kritisch mit Stellbrink auseinander: „Der evangelische Pfarrer Karl Friedrich Stellbrink (1894-1943) war ein schillernder und widersprüchlicher Mensch. Seine Biografie wirft bis heute Fragen auf. (…).“2)
Schon bevor er nach Brasilien ging, „schloss er sich mehreren völkischen Verbindungen an: Er war im ‚Verein für das Deutschtum im Ausland‘ und Mitglied im ‚Alldeutschen Verband‘, einer Ansammlung ultranationalistischer Antisemiten und Rassisten, die schon seit den 1890er-Jahren für ein großdeutsches Imperium agitierte. (…)
Stellbrink, ‚deutscher Christ‘ der ersten Stunde, war schon seit 1921 überzeugt, dass jede biblische Geschichte ‚nach deutschem Empfinden zu messen (sei), damit das semitische Empfinden aus dem deutschen Christentum entweicht wie der Beelzebub vor dem Kreuz‘, wie es in einem programmatischen Aufsatz der Verbandszeitschrift hieß.
Auch der Wechsel Stellbrinks 1934 an die Lutherkirche Lübeck war kein Zufall. Unter den schnell heillos zerstrittenen ‚Deutschen Christen‘ war in der Kirche der Hansestadt deren radikalstes Spaltprodukt führend: die ‚Nationalkirchliche Bewegung Deutsche Christen‘. Sie strebte bei ‚Überwindung und Beseitigung alles jüdischen und fremdvölkischen Geistes in den kirchlichen Lehr- und Lebensformeln‘ eine Nationalkirche an, die nicht mehr evangelisch (oder katholisch) sein, sondern, dem vom NS-Chefideologen Alfred Rosenberg geforderten ‚fünften Evangelium‘ folgend, einen ‚arischen Christus‘ anbeten sollte. (…)
Die neue Gemeinde – die Lutherkirche wurde 1937 eingeweiht – sollte nach den Plänen von Stellbrink und seinem Amtskollegen Gerhard Meyer zu einer ‚deutschkirchlichen‘ Mustergemeinde werden.
Von ‚braunem Nebel‘ vor seinen Augen sprach Stellbrink aber bald selber. Vielleicht trugen die Erfahrungen rund um seine Schwester dazu bei, dass dieser sich 1937 lichtete. Stellbrinks drei Jahre jüngere Schwester Irmgard war seit Mitte der 1920er-Jahre psychisch krank. Nach einer Odyssee durch diverse psychiatrische Heilanstalten wurde sie 1938 zur Zwangssterilisation vorgesehen. 1944 starb sie an Tuberkulose, Hunger und unterlassener medizinischer Versorgung.“2)
Markus Springer stellt in seinem Artikel die Fragen: „Im Juni 2011 sprach die katholische Kirche die drei ermordeten Priester selig. Dass es sich bei der Gruppe christlicher Widerständler um ein ökumenisch gemischtes Team handelte, weist in die Zukunft und macht eine rein katholische Lesart dieses Widerstands unmöglich. Wie sollte man also katholischerseits mit dem evangelischen Mitstreiter der getöteten Priester umgehen? Man entschied sich für ein ‚ehrendes Gedenken‘. Aber ist ein leidenschaftlicher Antisemit die richtige Gesellschaft für Selige der katholischen Kirche? Und wie soll man andererseits damit umgehen, dass die ‚Ökumenebereitschaft‘ des Protestanten Stellbrink ihre Wurzeln im deutschchristlichen Traum von einer überkonfessionellen nationalsozialistischen deutschen Reichskirche hat?
Stellbrinks Schwester: Irmgard Heiss, geb. Stellbrink (1897-1944)
2020 kam das Buch: “Unerhörte Geschichte – frei, aber verpönt“ über Stellbrinks Schwester Irmgard Heiss heraus. Verfasst wurde es von Barbara Stellbrink-Kesy, der Großnichte von Irmgard Heiss. Sie schreibt über den Werdegang von Irmgard Heiss: „Als junge Frau aus bürgerlichem Haus hatte Irmgard in einer Zeit der Umbrüche ihre eigene Lebensperspektive gesucht. Sie galt als klug und war sehr musikalisch, wollte sich zur Künstlerin ausbilden lassen. 1916 war sie allein nach Berlin gegangen, statt die vorgesehene Lehrerinnenausbildung abzuschließen, und hatte wenig später ‚unter ihrem Stand‘ einen rätedemokratisch orientierten Bergarbeiter geheiratet. Die Familie geriet 1920 in Bochum in die Kämpfe um die Niederschlagung des Kapp-Putsches. Als ihr Mann 1923 in Untersuchungshaft geriet, suchte sie mit den zwei kleinen Kindern Unterstützung in ihrem Elternhaus und wurde abgewiesen. Bald wandten sich die Eltern mit der Frage an Ärzte, ob diese Frau denn noch normal sei. Nein, bestätigten eugenisch beeinflusste Psychiater: Sie sei minderwertig, gefährde den Volkskörper und müsse darum interniert werden. 1924 begann so bereits ihre Stigmatisierung als ‚minderwertige Psychopathin‘, die bald die Form einer Verfolgung annahm. Briefe der Eltern an ihren Bruder Fritz, der zwischen 1921 und 1929 in Brasilien als Pfarrer deutsche Gemeinden betreute, spiegeln deren Sicht. Gemeinsam mit seiner Frau Hildegard nahm Fritz nach seiner Rückkehr aus Brasilien 1930 Irmgards Söhne als Pflegekinder auf. In den Jahren 1933 – 39 mussten die Pflegeeltern versucht haben, die Kinder vor dem Zugriff der rassenhygienischen Erbuntersuchungen, möglicherweise gar vor der drohenden Zwangssterilisation nach dem ‚Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‘, zu bewahren. Denn Irmgard galt inzwischen als erbkrank. Über diese Dinge war auch damals ein absolutes Schweigegebot verhängt. Ich musste lernen, dieses Schweigen in den Dokumenten zu lesen.
2011 fand ich ihre Krankenakte im Landesarchiv NRW. 1940 geriet Irmgard demnach ins Fadenkreuz der Euthanasie. Wie durch ein Wunder überlebte sie die Vergasungsaktion T4, kämpfte ums Überleben, starb aber 1944 in der zweiten Phase der NS-Euthanasie an Hunger und Vernachlässigung – wie viele Tausende mit ihr. Ihr Bruder konnte ihr nicht helfen. Sie hat ihn um wenige Monate überlebt.
Einer ihrer Söhne starb mit 19 Jahren 1940 gleich zu Beginn des Frankreichfeldzuges. Die Spuren ihres zweiten Sohnes verlieren sich um 1948 im Magdeburger Raum.“ 3)
In den ins Netz gestellten Zusatzinformationen zum Buch setzt sich Barbara Stellbrink-Kesy mit der NS-Psychiatrie auseinander, durch die Irmgard Heiss den Tod fand. Unter der Überschrift „Irmgard Heiss als ‚Prototyp weiblicher Entartung“ schreibt die Autorin zum Beispiel: „Die Dokumente zeigen, dass meine Großtante Irmgard Heiss eine (..) [Liebes] Verbindung über die Klassenschranken hinweg eingegangen war. Als Tochter einer bürgerlichen Familie hatte sie es mit der Revolution gewagt, einen Bergarbeiter zu heiraten, der rätedemokratische Vorstellungen vertrat. Als ihr Ehemann 1924 in Untersuchungshaft geriet, begab sie sich, nachdem sie bei ihrer Familie keine Aufnahme fand, in ein frühes Frauenhaus. In dieser Situation erkrankt – (…) wurde neben einer Lungenentzündung auch eine Gonorrhoe (Tripper) festgestellt. Irmgard Heiss machte nun Bekanntschaft mit der ‚Ambivalenz der Moderne‘, denn sie erfuhr nicht nur Hilfe, sondern auch die erste folgenschwere Stigmatisierung. Gemäß der Reichsverordnung aus dem Jahr 1918 waren gesundheitliche Zwangsbehandlungen für Personen vorgesehen, ‚bei denen die Gefahr bestand, dass sie ihre Krankheit weiter verbreiten‘ (Meyer Renschhausen, 1999, S. 782). (…).“4)