Tucholskyring
Bramfeld (1961): Kurt Tucholsky (9.1.1890 Berlin – 21.12.1935 Göteburg), Schriftsteller. Freimaurer.
Siehe auch: Ossietzkystraße
Siehe auch: Dänenweg
Schrieb unter den Pseudonymen: Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger und Ignaz Wrobel. Mitherausgeber der Wochenzeitschrift „Die Weltbühne“, Satiriker, Kabarettautor, Liedtexter, Lyriker. „Er verstand sich selbst als linker Demokrat, Pazifist und Antimilitarist und warnte vor rechten Tendenzen- vor allem in Politik, Militär und Justiz – und vor der Bedrohung durch den Nationalsozialismus.“ 1)
Gegen Krieg
Kurt Tucholskys Gedicht „Der Graben“ – Thema ist der Erste Weltkrieg - geschrieben im Jahr 1926, ist leider immer wieder aktuell- so auch im Februar 2022, als Russland der Krieg gegen die Ukraine eröffnete.
Als Tucholsky dieses Gedicht schrieb, war “Deutschland dem Völkerbund beigetreten. (…) Für Tucholsky war klar, dass die Völkerversöhnung nicht nur Sache der Politik ist, sondern vor allem das eigentliche Volk betrifft. (…) Mit dem Titel des Werks deutet Tucholsky schon darauf hin, dass der Krieg nicht in Köpfen von Generälen und Politikern stattfindet, sondern ganz direkt im Graben und auf dem Schlachtfeld. (…) [Tucholsky verdeutlicht], dass gewöhnliche Bürger dem Krieg zu Opfer fallen und dabei weder Jung noch Alt verschont bleibt. (…) Der Refrain fordert Widerstand gegen Adel und Staat, womit Tucholsky gleichzeitig auf die Kriegsinteressierten hindeutet. In der letzten Strophe werden die Forderungen dramatisiert, mit dem Ziel den Militarismus zu beenden und zu erinnern, dass dem Krieg nur Tote folgen und sonst keinen Sinn darin zu sehen ist. Im folgenden sechszeiligen Refrain erkennt man wieder das Motiv der dritten Strophe, indem Tucholsky zum Gedenken der Gegenseite und zum sich Versöhnen aufruft. Die Tatsache, dass er dabei von Vätern, Müttern und Söhnen spricht, zeigt die Verknüpfung zur ersten Strophe, diesmal jedoch mit einer positiven Aussage. (…).
Text
Mutter, wozu hast du deinen Sohn aufgezogen?
Hast dich zwanzig' Jahr mit ihm gequält?
Wozu ist er dir in deinen Arm geflogen,
und du hast ihm leise was erzählt?
Bis sie ihn dir weggenommen haben.
Für den Graben, Mutter, für den Graben.
Junge, kannst du noch an Vater denken?
Vater nahm dich oft auf seinen Arm.
Und er wollt dir einen Groschen schenken,
und er spielte mit dir Räuber und Gendarm.
Bis sie ihn dir weggenommen haben.
Für den Graben, Junge, für den Graben.
Drüben die französischen Genossen
lagen dicht bei Englands Arbeitsmann.
Alle haben sie ihr Blut vergossen,
und zerschossen ruht heut Mann bei Mann.
Alte Leute, Männer, mancher Knabe
in dem einen großen Massengrabe.
Seid nicht stolz auf Orden und Geklunker!
Seid nicht stolz auf Narben und die Zeit!
In die Gräben schickten euch die Junker,
Staatswahn und der Fabrikantenneid.
Ihr wart gut genug zum Fraß für Raben,
für das Grab, Kameraden, für den Graben!
Werft die Fahnen fort!
Die Militärkapellen spielen auf zu euerm Todestanz.
Seid ihr hin: ein Kranz von Immortellen -
das ist dann der Dank des Vaterlands.
Denkt an Todesröcheln und Gestöhne.
Drüben stehen Väter, Mütter, Söhne,
schuften schwer, wie ihr, ums bißchen Leben.
Wollt ihr denen nicht die Hände geben?
Reicht die Bruderhand als schönste aller Gaben
übern Graben, Leute, übern Graben -!“ 2)
Sein Leben
Im Januar 1934 verfasste Tucholsky für seine Einbürgerung nach Schweden seine Vita. Daraus soll im Folgenden zitiert werden:
„Eigenhändige Vita Kurt Tucholskys für den Einbürgerungsantrag zur Erlangung der schwedischen Staatsbürgerschaft
Kurt Tucholsky wurde am 9. Januar 1890 als Sohn des Kaufmanns Alex Tucholsky und seiner Ehefrau, Doris, geborene Tucholski, in Berlin geboren. Er besuchte Gymnasien in Stettin und in Berlin und bestand im Jahre 1909 die Reifeprüfung. Er studierte in Berlin und in Genf Jura und promovierte im Jahre 1914 in Jena cum laude mit einer Arbeit über Hypothekenrecht.
Im April 1915 wurde Tucholsky zum Heeresdienst eingezogen; er war dreieinhalb Jahre Soldat (…). Zuletzt ist T. Feldpolizeikommissar bei der Politischen Polizei in Rumänien gewesen.
Nach dem Kriege war Tucholsky unter Theodor Wolff, dem Chefredakteur des Berliner Tageblatt, Leiter der humoristischen Beilage dieses Blattes, des Ulk, vom Dezember 1918 bis zum April 1920.
Während der Inflation, als ein schriftstellerischer Verdienst in Deutschland nicht möglich gewesen ist, nahm Tucholsky eine Anstellung als Privatsekretär des früheren Finanzministers Hugo Simon an (in der Bank Bett, Simon & Co. in Berlin).
Im Jahre 1924 ging Tucholsky als fester Mitarbeiter der Berliner Wochenschrift Die Weltbühne und der Vossischen Zeitung nach Paris, wo er sich bis zum Jahre 1929 aufhielt. Er ist dort Mitglied der ‚Association Syndicale de la Presse étrangère‘ gewesen. (…).
Nachdem Tucholsky bereits als Tourist längere Sommeraufenthalte in Schweden genommen hatte (1928 in Kivik, Skåne, und fünf Monate im Jahre 1929 bei Mariefred), mietete er im Sommer 1929 eine Villa in Hindås, um sich ständig in Schweden niederzulassen. (…) Er bezog das Haus, das er ab 1. Oktober 1929 gemietet hat, im Januar 1930 und wohnt dort ununterbrochen bis heute. Er hat sich in Schweden schriftstellerisch oder politisch niemals betätigt. (…).
Tucholsky hat im Jahre 1920 in Berlin Fräulein Dr. med. Else Weil geheiratet; die Ehe ist am 14. Februar 1924 rechtskräftig geschieden. Am 30. August 1924 hat Tucholsky Fräulein Mary Gerold geheiratet; die Ehe ist am 21. August 1933 rechtskräftig geschieden. Tucholsky hat keine Kinder sowie keine unterstützungsberechtigten Verwandten, die seinen Aufenthalt in Schweden gesetzlich teilen könnten.
Tucholsky hat zu den bestbezahlten deutschen Journalisten gehört. Seit dem Jahre 1931 hat er so gut wie nichts publiziert. Seine in Deutschland befindlichen Vermögenswerte sind laut Bekanntmachung im Deutschen Reichsanzeiger vom 25. August 1933 beschlagnahmt worden (Verlagsrechte, Honorare pp.). Tucholsky hat ein Konto bei der Skandinaviska Kredit A. B. in Göteborg, seit er in Schweden ist, und ein Konto bei der Schweizerischen Kredit-Anstalt in Zürich, um über Geld auf Reisen verfügen zu können. (…).
Daß Tucholsky Angebote von Verlagen und Zeitschriften zur Zeit abgewiesen hat, hängt mit seiner literarischen Entwicklung zusammen. Tucholsky hat seine literarische Tätigkeit mit einer kleinen Geschichte ‚Rheinsberg – ein Bilderbuch für Verliebte‘ begonnen, das im Jahre 1912 in Berlin erschienen ist und heute im 120. Tausend vorliegt. An Büchern hat er bis heute ferner erscheinen lassen:
‚Der Zeitsparer‘. 1913. Vergriffen; ‚Fromme Gesänge‘. 1920. Vergriffen; ‚Träumereien an preußischen Kaminen‘. 1920. Vergriffen; ‚Ein Pyrenäenbuch‘. 1927. 11. Auflage; ‚Mit 5 PS‘. 1925. 26. Auflage; ‚Das Lächeln der Mona Lisa‘. 1928. 26. Auflage; ‚Deutschland, Deutschland über alles‘. 1929. 50. Auflage; ‚Schloß Gripsholm. Eine Sommergeschichte‘ 1931. 50. Auflage; ‚Lerne lachen ohne zu weinen‘. 1931. 20. Auflage.
Das ‚Deutschland‘-Buch ist im Neuen Deutschen Verlag in Berlin erschienen; ‚Rheinsberg‘ bei der Singer A. G. in Berlin – alle anderen Werke bei Ernst Rowohlt in Berlin.
Im Jahre 1913 hat Tucholsky seine feste Mitarbeit an der berliner Wochenschrift Die Weltbühne begonnen, die damals noch Die Schaubühne hieß; diese Mitarbeit erstreckte sich bis zum Jahre 1931. Dem im Jahre 1926 verstorbenen Herausgeber des Blattes, Siegfried Jacobsohn, verdankt Tucholsky alles, was er geworden ist. Nach dem Tode Jacobsohns hat er das Blatt kurze Zeit selber herausgegeben, um es dann seinem Gesinnungsfreunde Carl von Ossietzky abzutreten.
Tucholsky hat sich ferner als freier Mitarbeiter für den sozialdemokratischen Vorwärts in Berlin, für die sozialdemokratische Freiheit, den Simplicissimus und die Arbeiter-Illustrierte Zeitung betätigt; er hat gelegentlich im Verlage Ullstein am Uhu, an der Berliner Illustrirten Zeitung und an der Dame mitgearbeitet.
Neben der literarischen Arbeit hat sich Tucholsky vom Jahre 1913 bis zum Jahre 1930 Pazifist schärfster Richtung in Deutschland betätigt. Seine Betätigung in dieser Richtung bewegte sich im Rahmen der Gesetze – er ist nicht bestraft. Tucholsky hat in Deutschland und in Frankreich durch zahlreiche Vorträge für die deutschfranzösische Verständigung zu wirken versucht; er hat gegen die Kriegshetzerei gearbeitet, wo er nur konnte: mit feinen und leisen Mitteln in der Kunst und mit den gröbsten für die Massen. In diesem Kampfe ist es ihm um die Wirkung zu tun gewesen, und diese Wirkung ist bei Freund und Feind gleich stark gewesen. Da die öffentliche Meinung, wenn die Geschäfte nicht gut gehn, gern alles, was ihr nicht paßt, als ‚bolschewistisch‘ ansieht, so wurde Tucholsky mitunter als Kommunist bezeichnet. Das ist unrichtig: er war nach dem Kriege Mitglied der unabhängigen sozialdemokratischen Partei, und nach deren Verschmelzung mit der sozialdemokratischen Partei Mitglied der SPD. Andern Parteien hat er nicht angehört.
Solange sich Tucholsky an Deutschland gebunden fühlte, hat er als Deutscher und in Deutschland das, was er dort für nicht gut hielt, kritisiert. Seine publizistische Tätigkeit hat im Jahre 1931, also lange vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, ihr vorläufiges Ende gefunden. Trotzdem wurde ihm zwei Jahre später die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt. Die Aberkennung erfolgte wegen der pazifistischen Tätigkeit Tucholskys; sie hat ihren Grund ferner in einem Angriff, den Tucholsky im Jahre 1931 in Versen gegen einen der Führer der Nationalsozialisten gerichtet hat. Die Aberkennung geschah unter Angriffen des deutschen Propagandaministeriums auf Tucholsky, die jedes Maß, das unter zivilisierten Menschen üblich ist, überschritten haben. Eine Antwort auf diese Angriffe ist von Seiten Tucholskys nicht erfolgt.
Die Aberkennung der Staatsangehörigkeit beruft sich auf ein Reichsgesetz vom 14. Juli 1933. Tucholsky hat sich weder seit diesem Tage noch überhaupt zur Machtergreifung durch die Nationalsozialisten öffentlich geäußert. Die Aberkennung der Staatsangehörigkeit, die als Strafe gedacht ist, stellt also einen Rechtsbruch dar, einen Bruch des obersten Grundsatzes aller Strafjustiz: nulla poena sine lege.
Dr. Tucholsky ist im Begriff, seine schwedischen Sprachkenntnisse zu vervollkommnen. Er hat den Wunsch, die schwedische Staatsangehörigkeit zu erwerben, falls dies zulässig ist.“ 3)
Ein Jahr bevor Tucholsky seine Vita für das Einbürgerungsverfahren verfasste, hatten die Nationalsozialisten seinen Namen auf die erste Ausbürgerungsliste des NS-Regimes gesetzt, die „Weltbühne“ verboten und Tucholskys Bücher verbrannt.
Tucholsky, der 1929 nach Schweden gezogen war und in Hindas bei Göteborg eine Villa gemietet hatte, hatte schon vor 1933 „die mit Hitler heraufziehenden Gefahren [erkannt]. ‚Sie rüsten für die Reise ins Dritte Reich‘, schrieb er schon Jahre vor der Machtübergabe, und er machte sich keine Illusionen, wohin eine Reichskanzlerschaft Hitlers das Land führen würde. (…).
Über Tucholskys letzte Jahre und seine Gedanken über die Entwicklungen in Deutschland und Europa geben seine Briefe Auskunft, die seit Beginn der 1960er Jahre publiziert wurden. Sie waren unter anderem an Freunde wie Walter Hasenclever oder an seine letzte Geliebte, die Zürcher Ärztin Hedwig Müller, die er ‚Nuuna‘ nannte, gerichtet. Den Briefen an Nuuna legte er zudem lose Tagebuchblätter bei, die heute als Q-Tagebücher bekannt sind. Darin und in den Briefen bezeichnete sich Tucholsky gelegentlich als ‚aufgehörter Deutscher‘ und ‚aufgehörter Dichter‘. (…) Er gab sich auch nicht der Illusion vieler Exilanten hin, dass die Diktatur Hitlers bald zusammenbrechen werde. Mit realistischem Blick stellte er fest, dass sich die Mehrheit der Deutschen mit der Diktatur arrangierte und selbst das Ausland Hitlers Herrschaft akzeptierte. Er rechnete mit einem Krieg innerhalb weniger Jahre. (…),“4) heißt es in Wikipedia.
Wegen heftiger Magenbeschwerden war Tucholsky im November 1935 in stationärer Behandlung gewesen. Seitdem nahm er Barbiturate, um einschlafen zu können. Einen Monat später nahm er eine Überdosis „Veronal“. Er fiel ins Koma und wenig später verstarb er. Lange glaubte man, dass Tucholsky sich das Leben genommen hätte. Doch sein Biograph Michael Hepp „fand Anhaltspunkte für eine versehentliche Überdosierung des Medikaments, also eine unbeabsichtigte Selbsttötung.“ 5)
Tucholsky und die Frauen
Tucholskys Verhältnis zu seiner Mutter soll „zeitlebens getrübt [gewesen sein. Dagegen], liebte und verehrte er seinen Vater sehr. Alex Tucholsky starb bereits 1905. Doris Tucholski wurde im Mai 1943 in einem sogenannten Alterstransport in das KZ Theresienstadt deportiert und dort ermordet. (…).“ 6)
Und da Mütter meist an allem schuld sind, wenn die Kinder Schwierigkeiten im Leben bekommen – so die leichtfertige Meinung vieler Menschen - wird „für das Scheitern der beiden Ehen Tucholskys (…) schlechtes Verhältnis zu seiner Mutter verantwortlich [gemacht], unter deren Regiment er nach dem frühen Tod des Vaters gelitten habe. Tucholsky und seine beiden Geschwister beschrieben sie übereinstimmend als tyrannischen Typus der ‚alleinstehenden Hausmegäre‘. Dies habe es dem ‚erotisch leicht irritierten Damenmann‘ (Raddatz) unmöglich gemacht, auf Dauer die Nähe einer Frau zu ertragen.“ 7) Nun, dass Mütter bei der Erziehung ihrer Kinder Fehler machen, sei unbestritten. Doch diese Tatsache muss nicht zwangsläufig dazu führen, dass sie auch für das Fehlverhalten oder Scheitern ihrer erwachsenen Kinder stets die Schuldigen sind. So viel Macht und Einfluss auf das Leben ihrer erwachsenen Kinder sollten diese Kinder ihren Müttern nicht geben.
Tucholsky selbst verfasste ein sehr liebevolles Gedicht auf die Mütter:
„Mutterns Hände
Hast uns Stulln jeschnitten
Un Kaffe jekocht
Un de Töppe rübajeschohm –
Un jewischt und jenäht
Un jemacht und jedreht …
Alle mit deine Hände.
Hast de Milch zujedeckt,
uns Bobongs zujesteckt
un Zeitungen ausjetragn –
hast die Hemden jezählt
und Kartoffeln jeschält …
alles mit deine Hände.
Hast uns manches Mal
Bei jroßen Schkandal
Auch ‚n Katzenkopp jejeben.
Hast uns hochjebracht.
Wir wahn Sticker acht,
sechse sind noch am leben …
alles mit deine Hände.
Heiß warn sie un kalt.
Nu sind se alt,
nu bist zu bald am Ende.
Da stehn wa nu hier,
und denn komm wir bei dir
und streicheln deine Hände.“
Tucholsky war zwei Mal verheiratet. Im Alter von 30 Jahren heiratete er 1920 die Ärztin Else Weil (19.6.1889 Berlin – 11.9.1942 KZ Auschwitz-Birkenau). Sie war die Tochter von Franziska Weil, geborene Herzfeld und des jüdischen Kaufmanns Siegmund Weil. Nach dem Abitur studierte sie ab 1910 zuerst ein Semester Philosophie, dann Medizin. In dieser Zeit lernten sich Else Weil und Kurt Tucholsky kennen. Das im August 1911 verbrachte gemeinsame Wochenende in Rheinsberg diente als Vorlage für Tucholskys 1912 erschienene Erzählung „Rheinsberg: Ein Bilderbuch für Verliebte“, mit der ihm sein schriftstellerischer Durchbruch gelang. Als Figur der Claire hatte Else Weil bedeutenden Anteil am Erfolg der kleinen Geschichte und behielt den Spitznamen bis zu ihrem Tod. (…). . Revolutionär für diese Zeit betont der Autor auf bejahende, unbefangene und daher umso deutlichere Weise den ungewöhnlich hohen Bildungsstand und die berufliche Zielsetzung seiner Reisebegleiterin und löst sie damit aus dem gängigen Frauenbild jener Jahre heraus. Claire verkörperte damals ein neues Frauenbild und trat als fortschrittliche und emanzipierte Persönlichkeit auf,“8) ist im Wikipedia Eintrag zu ihr nachzulesen.
Ihr Studium schloss Else Weil 1916 mit dem Staatsexamen ab.1918 folgte die Promotion. „Als eine von nur 90 Frauen in Deutschland erhielt Else Weil 1918 die Approbation und arbeitete anschließend als Assistentin an der Hebammenlehranstalt im Krankenhaus am Urban.
Nach ihrer Promotion wurde Else Weil Assistentin in der Klinik für Frauenkrankheiten und Geburtshilfe der Charité (…). Ihre erste eigene Praxis richtete sie am 17. April 1918 in ihrer Wohnung in der Kaiserallee 79 in Berlin-Friedenau ein. Bei der Ärztekammer war sie von Oktober 1917 bis April 1923 als niedergelassene Ärztin gemeldet, hatte aber, nach eigenen Angaben, seit Beginn des Jahres 1923 ‚keine ärztliche Praxis‘ ausgeübt. Aus Empfehlungsschreiben geht hervor, dass sie in dieser Zeit in verschiedenen Firmen als Privatsekretärin tätig war“9)
In dieser Zeit hatte sie 1920 Kurt Tucholsky geheiratet. Gleichzeitig war ihm Mary Gerold (15.11.1898 Mordangen (Kurland) – 16.10.1987 Kreuth) wiederbegegnet, die er während des Ersten Weltkriegs kennengelernt hatte, „als sie als Hilfsdienstfreiwillige in der Artillerie-Fliegerschule Ost in Alt-Auz in Kurland eingesetzt war“. 10) Seitdem stand er mit ihr im intensiven Briefkontakt – auch als er bereits zu Else Weil gezogen war. Die Ehe der beiden hielt nur bis 1924, dann ließen sie sich scheiden.
Ab November 1932 arbeitete Else Weil wieder als Ärztin. Doch nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 verlor sie wegen ihrer jüdischen Herkunft ihre kassenärztliche Zulassung. Sie musste aus finanziellen Gründen ihre Wohnung aufgeben und zog zu ihrer Großcousine Hilde Hoffnung. Fortan arbeitete sie als Stenotypistin.
Else Weil entschloss sich zur Emigration. „Über die Niederlande gelangte sie nach Frankreich und betreute in Paris die Kinder der befreundeten Familie Oppenheimer. Während dieser Zeit traf sie Friedrich Epstein wieder, einen Bekannten aus Berlin, und verbrachte die Exilzeit von nun an mit ihm gemeinsam. Im September 1939 wurden Else Weil und ihr Freund als Staatenlose von der französischen Regierung erstmals interniert, jedoch nach kurzer Zeit wieder frei gelassen. Nach dem Einmarsch der Deutschen im Mai 1940 flohen beide in die unbesetzte Zone. Es folgten mehrere kurze Internierungen im Camp de Gurs“.11)
Zu einer Emigration in die USA kam es nicht mehr. „Im Sommer 1942 wurde Else Weil als staatenlose Frau in Marseilles, in Les Milles und im Sammellager Drancy interniert. Als Nr. 49 ist ihr Name auf der Deportationsliste des 30. Transportes von Drancy in das KT Auschwitz-Birkenau aufgeführt. Nach 72 Stunden Fahrt erreichte der Transport am 11. September 1942 das Vernichtungslager. Else Weil starb entweder auf dem Transport oder in einer der Gaskammern. Als Todesdatum wurde später der 31. Dezember 1945 festgelegt. (…).“ 12)
Über Else Weil äußerste Kurt Tucholsky einmal: „Die Frau war mir damals über - man hat das nicht gern als Mann“ - und zeigt damit, dass er in diesem Punkt nicht anders dachte als die vielen anderen, in patriarchalen Denkstrukturen verhafteten Männer seiner Zeit.
Auch konnte er nicht treu sein, schreiben viele Rezensenten und Rezensentinnen und übernehmen damit unhinterfragt einen Moralbegriff, der auch Besitzansprüche auf die oder den Geliebte(n) beinhaltet. Kurt Tucholsky sagte über seinen Hunger nach neuen Liebschaften: „So süß ist keine Liebesmelodie, so frisch kein Bad, so freundlich keine kleine Brust wie die, die man nicht hat.“ Und an anderer Stelle: „Immer an eine Frau gebunden? So sollen uns alle Lebensstunden verrinnen? Ohne boshafte Feste? Liegt nicht draußen das Aller-beste? Mädchen? Freiheit? Frauen nach Wahl? Gesagt, getan!“
Seine zweite Ehe ging Tucholsky im August 1924 ein, nachdem seine Ehe mit Else Weil drei Monate zuvor geschieden worden war. ein. Getrennt hatten sich Else und Kurt Tucholsky bereits im Juni 1923.
Die Auserwählte war die oben schon vorgestellte Mary Gerold. „Zwei Wochen nach der Hochzeit brachen die frisch Vermählten nach Paris auf, wo er als Korrespondent für die Vossische Zeitung, Die Dame und Die Weltbühne arbeitete. Tucholsky aber fühlte sich schon bald von der hektischen und steinernen Pariser Innenstadt genervt und sie zogen in einen grünen Pariser Vorort. Hier trieb ihn das Hundegebell schier in den Wahnsinn. Sie wechselten nach Fontainebleau in einen ruhig gelegenen alten Kardinalsitz mit 15 Zimmern. Die Totenruhe aber drängte ihn in die lebendige Innenstadt zurück. Einen Monat später, 1926, zog er aus beruflichen Gründen wieder nach Berlin und Mary saß allein in ihren 15 Zimmern. Er bekniete sie, zu ihm zu kommen und beklagte sein Alleinsein. Dabei hatte er längst die Schönebergerin Lisa Matthias kennen gelernt, die ihn in seiner Einsamkeit tröstete. Wieder entwickelte sich eine Dreiecksbeziehung. Er genoss das Zusammensein mit Lisa und konnte doch von Mary nicht lassen. Als sie 1927 endlich in Berlin ankam, schimpfte er auf die widerliche Stadt, die ihn depressiv mache und er zog nach Kopenhagen. Mary folgte. Von dort ging es in die dänische Provinz. Mary folgte. Im Spätsommer 1927 entschied er sich, wieder nach Paris zurückzukehren. Mary folgte. Während sie erneut auf Wohnungssuche war, genoss er seine Freiheiten mit Lisa, reiste mit ihr durch Deutschland und zu den Loire-Schlössern. Nachdem die neue Pariser Wohnung gefunden war, bewohnte Mary sie überwiegend allein. Ihr Mann blieb abwesend. Im November 1928 erkannte sie endlich, dass es wohl niemals ein gemeinsames Leben geben werde und zog die Notbremse. Sie schickte ihm einen Abschiedsbrief und bestieg den Zug Richtung Berlin. Hier fand sie eine gut bezahlte Stelle als Prokuristin in einer Kreuzberger Druckerei. Immerhin besorgte Tucholsky ihr eine neue Wohnung in der Friedenauer Künstlerkolonie in der Laubenheimer Straße. Von nun an gingen sie getrennte Wege.“ 13) Sie ließen sich aber erst 1933 scheiden und blieben weiterhin in Kontakt. Kurz vor seinem Tod setzte er sie als Alleinerbin ein und schrieb ihr einen Brief, in dem er über seine Beziehung zu ihr äußerte: „‚Hat einen Goldklumpen in der Hand gehabt und sich nach Rechenpfennigen gebückt; hat nicht verstanden und hat Dummheiten gemacht, hat zwar nicht verraten, aber betrogen, und hat nicht verstanden.“ 14)
„Mary Gerold baute unter dem Namen Mary Tucholsky nach 1945 in Rottach-Egern (…) ein Kurt-Tucholsky-Archiv auf, das sie jahrzehntelang mit großer Hingabe betreute. (…) Ihr Anliegen war in erster Linie, der Nachwelt das schriftstellerische Werk Tucholskys zu bewahren und vorzuführen. Sie gab aber auch die an sie gerichteten Briefe Tucholskys zunächst in gekürzter, später in vollständiger Form heraus. Ihre eigenen Briefe dagegen sind bis über ihren Tod hinaus unveröffentlicht, mit Ausnahme einiger Zitate in einer Monografie von 1993 und teils umfangreichen Zitaten in den Kommentaren in der Tucholsky-Gesamtausgabe.
Nach ihrem Tod gingen die Rechte an Tucholskys Werk auf die Kurt-Tucholsky-Stiftung in Hamburg über, die Mary Gerold 1969 zusammen mit Fritz J. Raddatz gegründet hatte. (…).“ 15), ist in Wikipedia Eintrag zu Mary Gerold nachzulesen.
Eine weitere wichtige Frau in Tucholskys Leben war die Journalistin Lisa Matthias (22.12.1894 Berlin – 2.11.1982 Ängelholm/Schweden). Die Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns und dessen Ehefrau hatte mit 19 Jahren nach Moskau geheiratet. 1915 kam sie aber mit ihrem deutschen Ehemann nach Berlin zurück. Dort wurden auch die zwei Kinder geboren. 1920 starb der Ehemann.
Ihre zweite Ehe ging sie mit dem Soziologen und Schriftsteller Leo Matthias ein. Dieser schrieb auch für die „Weltbühne“ und so lernte Lisa Matthias 1927 auch den damaligen Weltbühne-Herausgeber Kurt Tucholsky kennen - auf einem Künstlerball. „Ihre Autobiographie beginnt daher mit den Worten: ‚Ich bin mit Kurt Tucholsky vom 27. Januar 1927 bis Herbst 1931 so intim befreundet gewesen, wie man das als Frau mit einem Mann sein kann. Ich war ihm – seinen eigenen Worten nach – Mutter, Wiege, Kamerad. Während dieser Jahre sind viele seiner besten Arbeiten entstanden. Seine Sammelbände, die‘„Sommergeschichte‘ Schloß Gripsholm, die mir gewidmet ist. Auf der ersten Vorsatzseite steht: ‚Für IA 47407‘ – das war meine Autonummer. (…).16)
Auch Lisa Matthias schrieb ab 1927 für die „Weltbühne“.
Lisa Matthias ging mit Tucholsky ins Exil nach Schweden. Dieses Land hatte er 1929 gewählt, als er sich immer mehr durch die Nationalsozialisten bedroht fühlte. „Zunächst verbrachten sie einen märchenhaften Sommerurlaub im nordschwedischen Läggesta und dem nahe gelegenen Schloss Gripsholm. Zwei Jahre später lag ‚Schloss Gripsholm. Eine Sommergeschichte‘ in den Buchhandlungen. Es war die schwedische Variante von Rheinsberg. Dann mietete Tucholsky in Hindås, nahe Göteborg, ein komfortables Haus am See. Da Lisa recht oft zu ihren Kindern nach Berlin reiste, suchte Tucholsky Abwechslung in Form einer Schwedischlehrerin. Sie hieß Gertrude Meyer [1897-1990] und kam zweimal pro Woche zu ihm ins Haus. Aus dem theoretischen Unterricht wurde bald praktizierte Liebe. Lisa Matthias blieb fortan in Berlin und dachte gern an ihre Zeit und ihr Lachen mit Tucholsky zurück,“ 17) heißt es in dem Artikel „Hunger nach Liebe“.
Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten emigrierte auch Lisa Matthias, da sie sich als Jüdin und ehemalige Gefährtin Tucholskys ebenfalls in Deutschland nicht mehr sicher fühlte. Auch sie zog nach Schweden. „Dort baute sie in den Folgejahren den Bibliophilen Verlag auf, der sich auf die Übersetzung französischer und deutscher Klassiker spezialisierte. (…). Mit ihrer Autobiographie, die 1962 in Hamburg erschien, zog Matthias den Zorn des deutschen Feuilletons auf sich. Der frühere Weltbühne-Mitarbeiter und damalige Herausgeber des Berliner Tagesspiegels, Walther Karsch, echauffierte sich darüber, dass Tucholsky in ‚weniger als Unterhosen‘ geschildert werde. (…)“ 18) „Matthias schilderte in ihren Erinnerungen Tucholsky als einen beziehungsunfähigen Erotomanen, der sie, selbst eine Geliebte, mit mehreren Frauen gleichzeitig betrogen habe. (…). Auch Tucholskys erste Frau Else Weil bestätigte, dass er es mit der Treue nicht sehr genau genommen habe. Von ihr ist der Satz überliefert: ‚Als ich über die Damen wegsteigen musste, um in mein Bett zu kommen, ließ ich mich scheiden.‘ Tucholskys zweite Frau Mary Gerold äußerte sich dagegen nie über das Privatleben ihres Mannes.“ 19)
Neben Gertrude Meyer gab es auch noch Hedwig Müller (1893-1973). Diese: „versuchte er sogar zu sich nach Schweden zu locken, doch die engagierte Ärztin wollte weiter in der Schweiz praktizieren. So blieb es beim regen Briefverkehr.“ 20)