Bodelschwinghstraße
Alsterdorf (1908): Friedrich von Bodelschwingh (6.3.1831 Tecklenburg -2.4.1910 Bielefeld), Pastor, Gründer der „Anstalt“ Bethel
Siehe auch: Augustenpassage
Über Friedrich von Bodelschwinghs Herkunft und Werdegang heißt es in Wikipedia u.a.: „Er entstammte der alten westfälischen Adelsfamilie Boldeschwingh. Seine Mutter Charlotte war eine geborene von Dienst (27. November 1793 in Kleve -27. Mai 1869 in Dillenburg). Sein Vater Ernst von Boldeschwingh war preußischer Finanzminister in Berlin. (…).
Friedrich von Bodelschwingh war von 1842 bis 1845 Schüler am Joachimsthalschen Gymnasium. Er wollte erst Bergmann werden, machte aber nach dem Abitur von 1849 bis 1851 eine Ausbildung zum Landwirt. Er wurde Verwalter eines modernen Gutshofes in Gramenz, Kreis Neustettin, in Hinterpommern, wo er zum ersten Mal mit der Not der landlosen Bevölkerung konfrontiert wurde. Als Gutsverwalter war er dort bis 1854 tätig.
Sein Wunsch, Menschen zu helfen, wuchs, und er wollte in die Mission gehen. Seine Eltern überredeten ihn jedoch, zunächst Evangelische Theologie zu studieren. Er studierte in Basel, Erlangen und Berlin und wurde 1863 Pastor. In Basel legte er sein erstes theologisches Examen ab, nicht aber das zweite. (…) Seine erste Gemeinde war ab 1858 die Evangelische Mission unter den Deutschen in Paris.“ 1)
Friedrich von Bodelschwingh war verheiratet mit seiner Cousine Ida, geb. von Bodelschwingh (15.4.1835 Haus Heyde – 5.12.1894 Lemgo). Erzogen wurde Ida im christlichen Sinne mit dem Selbstverständnis, soziale Verantwortung zu übernehmen und Notleidende zu unterstützen. Sie erhielt Privatunterricht und erlernte das Klavier- und Orgelspiel. „Im Alter von 22 Jahren erkrankte Ida an einer schweren Depression. Ein langwieriges Magenleiden, das vermutlich nicht richtig behandelt worden war, brachte das sensible Mädchen aus dem seelischen Gleichgewicht. Auslöser für diese seelische Krise war aber auch die Tatsache, dass ihre Eltern die Verlobung mit einem jungen Offizier ablehnten. Es dauerte mehrere Monate, bis sich die Psyche des jungen Mädchens wieder erholt hatte. Ihre seelische Anfälligkeit begleitete sie jedoch zeitlebens.“ 2)
Als drei Jahre nach Idas seelischem Zusammenbruch ihr Cousin Friedrich zu Besuch kam, fand bereits einige Monate später die Verlobung der beiden statt. Friedrich B., der damals in Paris als Pastor für die deutschen Immigranten arbeitete, fühlte sich dort einsam und suchte deshalb eine Frau, die er ehelichen konnte. Schon länger dachte er dabei an Ida, die er schließlich schon seit Kindertagen kannte – und so heirateten die beiden 1861. Ida „war von allen ihren Geschwistern die Heiterste. Gerade weil sie von Jugend auf je und dann im Kampf mit der Schwermut lag, hatte sie, sobald der Angriff wieder überwunden war, etwas Befreites und Befreiendes. Da sie selbst viel gelitten hatte, sah sie schnell, wenn andere litten, und auch die Schwächen anderer entgingen ihr nicht. Aber je schärfer sie sah, je tiefer fühlte sie mit Gesunden und Kranken (…). Ida unterstützte ihren Mann, wo sie nur konnte. Vor allem bei Schreibarbeiten war Ida ihm zeitlebens eine große Hilfe, da ihr schriftliche Arbeiten sehr viel besser von der Hand gingen als ihrem Ehemann. Auch übernahm Ida die Verantwortung für die Kirchenmusik (…).“ 3)
Nach der Geburt des ersten Kindes erkrankte Ida an einer schweren Wochenbettdepression, genas aber nach einiger Zeit. Das Paar zog zurück nach Deutschland, wo Bodelschwingh eine Pfarrstelle in Dellwig bei Unna annahm.
Die Eheleute bekamen bis zum Jahre 1867 vier Kinder. Doch im Jahr 1869 passierte ihnen unendliches Leid. Alle vier Kinder erkrankten an Keuchhusten und Lungenentzündung und starben innerhalb weniger Tage. „Der Mutter fingen seit der Zeit die Haare an auszufallen und noch nach einem Jahr zitterte ihre Hand beim Schreiben. Oft stand sie schluchzend an den Gräbern und ihren Mann sah man eines Tages mit einem Brett und vier Pfählen zum Kirchhof gehen, um an der stillen Stelle, wo die vier Gräber lagen, eine kleine Bank zu machen, damit er dort mit der Mutter zugleich nachdenken könne, was Gott ihnen durch solches Leid sagen wollte.“ 3) Bis 1877 wurde das Paar Eltern von noch weiteren vier Kindern.
„1872 wurde [Boldeschwingh] Leiter der 1867 gegründeten Evangelischen Heil- und Pflegeanstalt für Epileptische bei Bielefeld. Die von ihm 1874 in Bethel (hebräisch: Haus Gottes) umbenannte Anstalt (…).“ 4)
Wenn Friedrich B. auf seinen vielen Reisen war, vertrat ihn seine Frau in „Bethel“, wofür er sehr dankbar war. So schrieb er ihr einmal von einer Reise: „Der liebe Heiland wolle (…) dir Gnade geben, mit Sanftmut und Liebe Dein Amt auszurichten, das in meiner Abwesenheit als die Pastorin und Seelsorgerin, oberste Beraterin und Trösterin unserer Elendsgemeinde auf Dir liegt.“ 5)
Ida Bodelschwingh hatte – gerade auch, weil ihr Mann sehr häufig auf Reisen war - eine Vielzahl von Arbeiten zu bewältigen. Neben der Haus- und Mutterarbeit machte sie Krankenbesuche, bearbeitete die Post, schrieb und verfasste die vielen Dankesbriefe an die Spender, organisierte während der Abwesenheit ihres Mannes die Predigtdienste und hielt ihn brieflich auf dem Laufenden, auch hinsichtlich seiner Patientinnen und Patienten. Diese Überforderung durch die viele Arbeit führte immer wieder zu Depressionsschüben. In solcher Stimmung half ihr die Musik, so setzte sie sich ans Klavier und spielte Bach. Ihr Ehemann versuchte, soweit es ihm möglich war, in solchen Zeiten keine Reise zu unternehmen und zu Hause zu bleiben, um mit seiner Frau in Wald und Feld viel spazieren zu gehen, damit sie wieder zur Ruhe kam.
1894 traten bei Ida Bodelschwingh Ausfallerscheinungen und Gedächtnislücken auf, die sich immer mehr verschlimmerten. Zuletzt befand sich Ida Bodelschwingh in einem Pflegeheim in Lemgo, wo sie 1894 verstarb. 6)
Bodelschwinghs politische Einstellung und Antisemitismus
Friedrich von Boldeschwingh war nicht frei von antisemitischem Gedankengut. Ihn „verbanden eine Freundschaft sowie gemeinsame kirchliche und politische Ansichten mit Adolf Stoecker (…). Bereits 1885 warb Bodelschwingh beim Kronprinzen Friedrich vergeblich um Verständnis für Stoeckers Antisemitismus, indem er schrieb, Stoecker kämpfe gegen ‚das beste Mark unseres Volkes aussaugende Börsenjudentum‘.“ 7)
Felix Sassmannshausen schreibt in seinem für das Land Berlin verfassten Dossier zu Straßen- und Platznamen mit antisemitischen Bezügen in Berlin über Boldeschwinghs Haltung: „Boldeschwingh vertrat ein antisemitisches Weltbild, das er mit Adolf Stoecker teilte.“ 8) In seiner Handlungsempfehlung für den Umgang mit dem Straßennamen äußert Sassmannshausen: „Recherche, Umbenennung“. 8)
Das Stadtarchiv Bielefeld relativiert und schreibt: „Die ‚Soziale Frage‘ führte von Bodelschwingh auch an die Politik, insbesondere an die Positionen des Hofpredigers Adolf Stoecker (1835-1909) heran, solange sie eine christlich-soziale Grundströmung enthielten. Stoeckers radikalen Antisemitismus und den Radauantisemitismus der Straße dagegen teilte von Bodelschwingh nicht; es war – trotz massiv antisemitisch anmutender Äußerungen seinerseits – eher Bodelschwinghs konservative Ablehnung des Liberalismus, der mit dem Zerrbild des ‚feinsinnigen Judens‘ attackiert wurde. Als parteiloser Kompromisskandidat der Deutschkonservativen und der Christlich-Sozialen gelang von Bodelschwingh 1903 der Sprung in den Preußischen Landtag, wo er als größten Erfolg das Wanderarbeitsstättengesetz von 1907, die ‚Lex Bodelschwingh‘, erreichte.“9)
Im internetportal Westfälische Geschichte werden Bodelschwinghs hervorragende Errungenschaften in den damaligen politischen Kontext gestellt. Und so heißt es dort: „Am Lebensbild Friedrich von Bodelschwinghs ist (…) nicht nur das imposante und gelungene diakonische Werk aufzuzeigen, sondern hier kann auch die Tragik des sozialkonservativen Protestantismus im 19. Jahrhundert, dem Bodelschwingh zuzuordnen ist, erklärt werden. Während für Bodelschwingh die Struktur der preußisch-konservativen Gesellschaft nicht zur Disposition steht, scheint seine praktizierte Diakonie doch in den Dienst der Rettung einer überlebten Gesellschaftsordnung gestellt zu sein, die der damaligen Herausforderung des Sozialismus und eines humanistisch geprägten Liberalismus nur unzureichend entgegenwirken konnte. Gerade auch an Bodelschwingh läßt sich die Grenze einer Diakonieform festmachen, die auf Gesellschaft reagiert, aber nicht mehr selbständig agiert. Durchaus kritisch bemerkt Jürgen Albert, daß die Geschichte der Diakonie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in patriarchalischen Strukturen verhaftet blieb, die eine schichtenspezifische Verengung des Protestantismus bedeutet habe, ohne die Arbeiterklasse einzubeziehen. Dieses Versäumnis rechtzeitig aufzuheben sei der Diakonie nicht gelungen: ‚Die aktive Beteiligung aller getauften Glieder der Kirche und das hieß eben auch der Arbeiter am politischen und gesellschaftlichen Leben wäre ein diakonischer Prozeß von eminenter Bedeutung gewesen.‘
Das sozialpolitische Denken im Protestantismus und speziell auch bei Bodelschwingh blieb auf den Rahmen der staatlichen Fürsorge und Vorsorgepolitik der Schwachen beschränkt. Praktische Verbesserungen der sozialen Frage wurden nicht nur unterstützt, sondern auch gefordert, aber die soziale Frage als solche koppelten die Protagonisten der Diakonie von der Frage nach der politischen Mündigkeit im kaiserlichen Deutschland ab. Sowohl der bürgerliche Liberalismus als auch der proletarische Sozialismus waren Bewegungen, die sich längst nicht mehr auf die ökonomischen und sozialen Gebiete beschränken ließen. Die politische Emanzipation des Bürgertums und der Arbeiterschaft geriet in der ausgeprägten Klassengesellschaft mit ihren traditionellen Führungsgruppen des Adels, des Militärs, des Beamtentums und der Geistlichkeit zur Herausforderung. Für die konservative ‚Christlich-Soziale Partei‘ um den Hofprediger Adolf Stoecker (1835-1909), die fest in der monarchischen Ordnung stand und entschieden antiliberal, antisozialistisch und antisemitisch eingestellt war, stellte das Verlangen nach staatsbürgerlicher Gleichberechtigung eine nicht hinnehmbare Abkehr vom preußischen Obrigkeitsstaat dar. Bodelschwingh, der mit Stoecker freundschaftlich verbunden war und ihm in vielen politischen Fragen nahestand, stimmte zwar einzelnen sozialpolitischen Forderungen der immer stärker werdenden Sozialdemokratie zu, doch grundsätzlich lehnte er ihre demokratischen Forderungen und ihre Weltanschauung kategorisch ab.
Um die Ursachen einer wachsenden Unzufriedenheit der Arbeiterschaft zu beheben, forderte Bodelschwingh umfassende Hilfen für den ‚vierten‘ Stand. Eine sozial befriedete Arbeiterschaft sollte die Gefahr einer erneuten Revolution in Deutschland bannen und das Fundament der als ‚gottgegeben‘ angesehenen Monarchie stärken. In einem Schreiben an den Kronprinzen Friedrich Wilhelm heißt es 1885: ‚Es ist eine doppelte schmerzliche Gewißheit, die sich mir hier täglich aufdrängt. - Erstens, daß das sozialdemokratische Element hier rapide im Wachsen ist. Ich erfahre aus zuverlässigen Quellen, daß die solidesten Leute, die vom Lande kommen, in wenigen Wochen von den sozialistischen Lehren ganz durchdrungen sind. - Aber was mir viel schmerzlicher ist, ich erfahre auch, daß die Kirche in der Gestalt, wie sie im großen und ganzen die Lehren ihres göttlichen Stifters gegen diese Umsturzpartei ins Feld führt, derselben keinen Damm entgegensetzt. ... Gelingt es, daß in dreißig bis vierzig Jahren jeder fleißige Fabrikarbeiter vor seiner eigenen Hütte unter seinem Apfelbaum umgeben von seiner Familie sein Abendbrot essen kann, dann ist die Sozialdemokratie tot, und der Thron der Hohenzollern ist auf Jahrhunderte gesichert.‘
Bodelschwinghs Ziel, die sozialen Aufgaben vom Evangelium her zu lösen, stieß dabei auf Grenzen, denn seine sozialpolitischen Intentionen erfuhren durch die Oberschichten, die ihm sonst nahestanden, durchgängige Ablehnung. In einem im September 1889 verfaßten Brief an Pastor Ludwig Weber, der in Mönchengladbach in der christlich-sozialen Arbeit tätig war, wird deutlich, wie illusionär diese Vorstellungen in der praktischen Umsetzung waren: ‚Wir müssen uns Mut und Kraft erbitten, namentlich alle evangelischen Industriefürsten persönlich anzufassen, daß sie zu ihren Arbeitern heruntersteigen und mit ihnen gemeinsam überlegen, wie die gemeinsame heiße Arbeit für alle zum Segen gelenkt werden kann.‘ Aber nicht nur die Oberschicht zeigte die kalte Schulter, sondern auch diejenigen, denen geholfen werden sollte: Die Arbeiter.
Wie so viele engagierte Protagonisten des sozialen Protestantismus glaubte auch Bodelschwingh anfangs an die Chance einer sozialen Selbstreformation der Gesellschaft durch ein Entgegenkommen der besitzenden Stände. Die Notwendigkeit eines sozialpolitischen Engagements auf parlamentarischer Ebene erkannte er erst später, als das Prinzip der Freiwilligkeit rasch an seine Grenzen stieß.
Bodelschwingh wie auch die christlich-sozialen Anhänger Adolf Stoeckers hofften darauf, ‚mit Hilfe der Besserstellung des arbeitenden Volkes durch soziale Gesetzgebung des Staates und durch kirchliche Liebestätigkeit die proletarischen Massen wieder mit dem preußisch-deutschen Herrschaftssystem versöhnen zu können. So sehr ihnen beiden auf der einen Seite Sozialpolitik Gewissenssache und christliche Pflicht im Dienste der Schwachen gewesen ist, so war sie ihnen auf der anderen Seite doch auch politisch-psychologisches Mittel zur Überwindung demokratischer sozialistischer Tendenzen und damit Mittel zur Bewahrung und Rettung ihrer hierarchisch-patriarchalischen Ordnungswelt.‘ Diese Grenzen der Wirkungen Bodelschwinghs als Sozialpolitiker aufzuzeigen bedeutet nicht ein Abschwächen seiner vielfältigen sozialreformerischen Initiativen.“ 10)
Bodelschwingh und Kolonialismus
Boldelschwingh wird auch im Zusammenhang mit dem Thema Kolonialismus betrachtet. So schreibt Frigga Tiletschke in ihrer Dissertation „Afrika müssen wir auch haben!“ Die Bethel-Mission in Ostafrika 1885-1970“: „Missionsgeschichte war immer auch eine Geschichte von Macht und Herrschaftsverhältnissen. Der überlieferte Satz von Friedrich von Bodelschwingh d. Ä. ‚Afrika müssen wir auch haben!‘, (…) verweist mit seinem ‚haben müssen‘ auf seinen Anspruch missionarischer Herrschaft in Afrika. Die Missionare agierten dabei niemals außerhalb der realen politischen und sozialen Verhältnisse, in die die ‚Missionsobjekte‘, die Zielgruppen, und ihre Gesellschaften eingebettet waren. Sie waren - wie die Kirchen in Deutschland - immer auch Teil der Herrschaftsstrukturen, sei es der indigenen vorkolonialen, der kolonialen oder der postkolonialen Gesellschaften. Politische Macht und Herrschaft mussten – oft gewaltsam – aufgebaut, legitimiert und dauerhaft gesichert werden. Dies galt für die indigenen Gesellschaften und Königreiche genauso wie für die nationalen Staaten Europas, die sich zum ‚run on Africa‘ entschlossen hatten. Sowohl von wirtschaftlicher und militärisch-politischer Seite als auch von christlich-missionarischer Seite war dies ein risikoreiches und kostspieliges Unterfangen. Die Transformation der afrikanischen Gesellschaften erfolgte nicht nur durch die BM unter Einsatz aller Kapitalien, ökonomischer, kultureller und sozialer Art auf dem sozialen Feld der Missionsstationen und Missionsgemeinden. Koloniales Ziel war es, auch die Neuchristengemeinden zu Abbildern europäischer, effizient wirtschaftender bäuerlicher Betriebe wie Arbeitnehmergesellschaften zu formen, die sich als Lerngemeinschaften europäische Bildungsstandards aneigneten, die europäische Konsumgüter erstanden und mit dem Konsum sowohl europäische Wohn-, als auch Kleidungs- und Lebensformen nachahmten, um in Missionsgemeinden das christlich-europäische Vorbild zu leben. Dies alles sicherte die reale ökonomische, machtpolitische und symbolische Herrschaft in Afrika. Gleichzeitig war dieser Prozess aber auch Grundlage und Bedingung zur Entmachtung der Herrschaft und zur Aneignung der Macht durch die indigenen Christen. Die Beherrschten eroberten die Herrschaft durch Anwendung der von den Missionen eingeführten ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitalien. Sie übernahmen ihren Habitus und ihre Positionen im sozialen Feld. Damit wandten sie sich gegen die europäische Herrschaft und erzwangen ihre symbolische und reale Anerkennung im Prozess der Dekolonialisierung.“ 11)
Direkt auf Friedrich von Bodelschwingh bezogen schreibt Frigga Tiletschke in ihrer sehr lesenswerten Dissertation: „Nach Bodelschwinghs Vorstellungen sollte das Pflege-, Erziehungs- und Missionierungskonzept, welches in Bethel praktiziert wurde, nach Afrika verpflanzt werden und die Missionsstationen in ihrer für Bethel charakteristischen Verbindung von Diakonie und Mission zu Multiplikatoren von Bethel in Afrika werden. Diakonie galt dabei als wirksames Mittel für die Missionierung.“ 12)
Die Missionarinnen und Missionare waren vom christlichen Glauben als dem einig wahren Glauben überzeugt. „Diese Einstellung, im Besitz einer ewigen Wahrheit zu sein, erklärt den Blick der Missionare auf die Religionen der indigenen Völker Ostafrikas, auf die sie trafen. Hieraus resultieren aber auch die Probleme, die sowohl in den erweckungsbewegten Kreisen wie den indigenen Gesellschaften durch die unauflöslich verschränkten Gegebenheiten von Religion und Ritual, Kultur und Alltagspraxis, Weltbild und Weltverständnis entstanden. Die indigene Bevölkerung Afrikas, die sowohl mit religionsfernen deutschen Siedlern, Händlern und Militärs als auch mit frommen Missionsmitarbeitern konfrontiert war, machte jedoch keine Unterscheidung zwischen missionierender Religion und zivilisierender Herrschaft. Das Christentum war sichtbar die Religion der Herrschenden, die sich als siegreiche Kolonialmacht erwiesen hatten. Aus Sicht der Missionare war die Implementierung des Christentums mit der Implementierung von ‚wahrer‘ Kultur und Zivilisation untrennbar verbunden. (…) Der südwestafrikanische Theologe Lucas de Vries bezeichnete das Vorgehen der Missionare als ‚intellektuelle Aggression‘: ‚Sie unterwarfen die einheimische Jugend den im Abendlande entwickelten Erziehungsmethoden. So gerieten Asiaten und Afrikaner unter den Einfluß von Gedanken, die sie sich nicht zu eigen machen können und wollen. Zu alledem beteiligten sich die Missionsgesellschaften an der Gefährdung jener alten religiösen Einrichtungen, auf denen die antiken einheimischen Kulturen gegründet waren. Dies ist denn auch die gefährlichste aller Aggressionen, traf sie doch das Herz eines jeden Volkes, den Sitz seines materiellen und geistigen Fortschritts.‘
Diese Sichtweise wurde von keinem Missionar geteilt. In ihrem Blick auf die Afrikaner und die Interpretation ihrer religiösen Vorstellungen wie ihrer materiellen Lebensverhältnisse saßen diese in tiefer geistiger ‚Dunkelheit‘, gefangen in ‚Todesmächten‘. (…) Der indigene Glaube an die Beseeltheit der gesamten Natur und ihrer Erscheinungen und an die Macht der Geister der verstorbenen Ahnen, waren für die Missionare Beweis genug, es mit einem ‚Zerrbild der Religion‘ zu tun zu haben. ‚Dieser Glaube ist für die Eingeborenen ein Fluch, weil er sie verdummt und zu Sklaven der Furcht macht. Der Verstand ist verdunkelt, der Wille so irregeleitet, daß er mit dieser Nacht einverstanden ist.‘ Was den Afrikanern fehle, sei die Gottesgemeinschaft im christlich-evangelischen Sinne. ‚Geradezu grauenhaft ist die Todesmacht des Heidentums, das dem Menschen einzureden sucht, er verfüge in der Zauberei über allmächtige Kräfte und bedürfe daher weiter nichts.‘ Die indigenen Religionen präsentierten sich somit als verabscheuenswürdiges Gegenbild des christlichen Glaubens an ein ewiges Leben in einem paradiesisch imaginierten Jenseits.“ 13)
Aber es ging den Missionarinnen und Missionaren nicht nur um die Vermittlung des christlichen Glaubens., Damit einher ging auch die Erziehung zur Arbeit. Dazu Frigga Teletschke: „(…) die Arbeitserziehung (…) [zielte] auf die Herstellung von autarken Christengemeinden als kleinbäuerlich-handwerkliche Subsistenzbetriebe. Vorbild des Gemeindeaufbaus und -struktur waren die Bielefelder Anstalten, Bethel, Nazareth und Sarepta mit ihren ausgedehnten Ländereien, Gebäuden, Kirchen, Friedhöfen, Handwerks-, Handels- und Krankenbetrieben, die eine abgeschlossene Welt gelebter Frömmigkeit repräsentierten. Die Arbeitserziehung innerhalb des evangelisch-lutherischen Arbeitsethos prägte auch den Alltag und das Erziehungsprogramm Bethels in allen seinen Einrichtungen und wurde auf die Missionsstationen in Afrika verpflanzt. (…)“ 14) In diesem Sinne äußerte Friedrich von Bodelschwingh: „Die Kolonien unseres deutschen Vaterlandes haben uns nach allen Richtungen hin erweiterte Aufgaben gebracht, unter ihnen nicht die letzte, den in ihnen wohnenden Völkern neben der äußeren Civilisation auch die Botschaft zu bringen, die seit Bethlehems Nacht allen Völkern der Erde dient. Allein den umnachteten Stämmen in den deutschen Schutzgebieten ist mit dem bloßen Wort von der Liebe Gottes allein nicht nahe zu kommen. Es sind vor allem auch Taten der Liebe nötig. Zu diesen Liebestaten gehört vor allen Dingen neben der Krankenpflege auch die Anleitung zu mancherlei nützlichen Arbeiten in Ackerbau, Gartenkultur u. den verschiedenen Handwerken, welche alle den Eingeborenen nicht nur gezeigt, sondern auch vorgelebt u vorgearbeitet werden müssen, damit sie lernen, auch als Christen unabhängig von jeder Unterstützung ihr Brod (sic!) zu verdienen. Arbeit ist überall ja die Grundlage der Freiheit."15)