Dorothea-Buck-Straße
Farmsen-Berne, seit 2022, benannt nach Dorothea Buck (5.4.1917 Naumburg a. d. Saale – 9.10.2019 Hamburg), Opfer des Nationalsozialismus, zwangssterilisiert, Gründerin des Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener, Bildhauerin. Lehrerin, Mitbegründerin des Bundes der Zwangssterilisierten und „Euthanasie“-Geschädigten e.V.
Siehe auch: Dorothea-Buck-Park, Schnelsen (2022)
Siehe auch: Kraepelinweg
Bevor diese Straße im Juni 2022 nach Dorothea Buck benannt wurde, hieß sie seit 2017 nach Emmy Püttjer. Der Amtliche Anzeiger vom 3.6.2022 gibt folgende Begründung für die Umbenennung der Emmy-Püttjer-Straße in Dorothea-Buck-Straße: „Die Wegefläche der derzeitigen Emmy-Püttjer-Straße befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen sogenannten Pflege- und Versorgungsheims Farmsen und führt direkt zum sogenannten Arbeitshaus. Hier wurden in der NS Zeit Menschen zwangsinterniert, zwangssterilisiert und in weitere Anstalten zur Euthanasie deportiert.
Es liegt bei Emmy Püttjer zwar keine formale NSDAP-Mitgliedschaft vor – bisher ist die NSDAP-Parteimitgliedschaft alleiniges Ausschlusskriterium bei der Benennung nach möglicherweise NS-belasteten Personen - , so dass das damalige Prüfungsergebnis durch Bezirk und Staatsarchiv bei der Benennung im Jahre 2017 als richtig anzusehen ist. Dennoch kann Emmy Püttjer als belastet angesehen werden, weil sie in leitender Funktion zwischen 1940-1947 im Turnverein Farmsen tätig war.
Die räumliche Nähe der nach Püttjer benannten Straße zu einem NS-Gedenkort erfordert eine Umbenennung.
Anwohner sind nach Angaben des Bezirks von der Umbenennung nicht betroffen. (…).“
Zu Emmy Püttjer siehe zum Schluss des Textes.
Dorothea Buck wurde am 05.04.1917 in Naumburg a. d. Saale als viertes von fünf Kindern geboren und wuchs dort in einer Pastorenfamilie auf. [1] Dorothea Buck schloss ihre Schulbildung mit der Mittleren Reife ab und besuchte danach die Frauenfach-Schule in Friedrichshafen, um sich auf den Beruf der Kindergärtnerin vorzubereiten. Schon in jungen Jahren wollte sie Kindergärtnerin werden und später selbstverständlich auch eigene Kinder haben.
Sie war 19 Jahre alt, als sie die erste Psychose erlebte. Sie sei davon überzeugt gewesen, dass es Krieg geben würde, dass sie einmal etwas zu sagen haben würde und die Braut Christi sei. Der Hamburger taz berichtete sie: „Braut Christi, das haben ja viele Betroffene, viele Verrückte haben religiöse Erfahrungen.“ Nach diesem ersten Schub gaben ihre Eltern Dorothea Buck in die von Theologen geleiteten Bodelschwinghschen Anstalten nach Bethel bei Bielefeld. Ihre Eltern sprachen mit ihr nicht über die psychische Erkrankung, was laut Alexandra Pohlmeier, einer guten Freundin und Filmemacherin, die 2008 eine Dokumentation über Dorothea Buck produzierte, „das einzige [war], womit sie sich nicht hat aussöhnen können.“
Die Behandlung der schizophrenen Patientin verlief unmenschlich und völlig kontraproduktiv. Dorothea Buck schilderte; „Mit dem ‚Königreich Gottes‘ wird Bodelschwingh seine Anstalt Bethel gemeint haben. Darum tragen alle Betheler Häuser biblische Namen. Auch die Wände der Krankensäle trugen Bibelsprüche. Als ich 1936 mit gerade 19 Jahren in Bethel eingewiesen wurde, stand auf der hellgrünen Wand meinem Bett gegenüber in großer Schrift das Jesuswort ‚Kommet her zu mir, Alle, die Ihr mühselig und beladen seid. Ich will Euch erquicken.‘ Aber was waren das für ‚Erquickungen‘ mit Kaltwasserkopfgüssen, Dauerbädern unter einer Segeltuchplane, in deren steifem Stehkragen mein Hals 23 Stunden – von einer Visite zur nächsten – eingeschlossen war. Mit der Fesselung in nassen kalten Tüchern, die sich durch die Körperwärme erhitzten. Diese quälenden ‚Beruhigungsmaßnahmen‘ unter dem Jesuswort an der Wand gegen unsere nur natürliche Unruhe, die wir viele Wochen lang untätig in den Betten liegen mussten, obwohl wir körperlich gesund waren, konnten wir nur als sträfliches Missverständnis der christlichen Lehre, als Zynismus oder sogar als ‚Hölle unter Bibelworten‘ verstehen.“ [2] Unter den Patienten waren Gespräche verboten und die Ärzte selbst sprachen erst nach einem Dreivierteljahr mit Dorothea Buck.
Aufgrund des nationalsozialistischen „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde Dorothea Buck am 18.09.1936 in Bethel zwangssterilisiert. Die Eltern waren vor die Entscheidung gestellt worden, der Zwangssterilisation zuzustimmen. Anderenfalls hätte Dorothea Buck nach ärztlicher Entscheidung in den Bodelschwinghschen Anstalten bis zu ihrem 45. Lebensjahr, also bis zur angenommenen natürlichen Geburtsunfähigkeit, verbleiben müssen.
Die Ärzte täuschten Dorothea Buck gegenüber die Operation als Blinddarmentfernung vor. Sie erfuhr erst durch eine Mitpatientin von der Sterilisation. Damit waren ihre Träume nach eigenen Kindern und der Erfüllung des Berufswunschs Kindergärtnerin geplatzt. Nach NS-Recht durften Zwangssterilisierte nur ihresgleichen heiraten und keine sozialen Berufe ausüben. [3] Sie fand für sich selbst Trost in dem Gedanken, die „Freiheit zum Selbstmord“ zu haben. [4]
1937 erlernte Dorothea Buck das Töpferhandwerk und von 1938 bis-1939 absolvierte sie eine Organisten-Ausbildung in Hahnenklee/Harz. 1941 besuchte sie die Frauenkunstschule des Verbandes der Gemeinschaft der Künstlerinnen und Kunstfördernden e.V. ( GEDOK) in Berlin und ab 1942 die private Städel- Kunstschule in Frankfurt/Main. Dabei verschwieg sie den Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt und die Zwangssterilisation, weil Sterilisierten in der NS-Zeit kein Zugang zu höherer Bildung gewährt wurde.
1943 wurde Dorothea Buck erneut in der Uniklinik Frankfurt/Main behandelt. Dort erfuhr sie von der systematischen Mordaktion des NS-Regimes an psychisch Erkrankten.
Dorothea Buck überlebte das NS-Regime. 1950 ging sie nach Empfertshausen (Thüringen), um als Voraussetzung für ein Kunststudium den Gesellenbrief als Holzbildhauerin zu erwerben. 1952-59 studierte sie an der Kunsthochschule in Hamburg. Danach arbeitete Dorothea Buck als Bildhauerin und war von 1969 bis 1982 als Lehrerin für Kunst und Werken an der Hamburger Fachschule für Sozialpädagogik I in der Wagnerstr. tätig.
Sie beendete ihre künstlerischen Aktivitäten wegen ihres Engagements in der Psychiatriebetroffenen-Bewegung und der Aufklärungsarbeit über die Psychiatrieverbrechen im NS-Regime: „Seit dem Ende der 50er Jahre arbeitete ich als Bildhauerin an öffentlichen Aufträgen, die nur durch Wettbewerbe zu gewinnen waren und hätte meine ungeteilte Aufmerksamkeit für meine Arbeit gebraucht. Doch die verdrängten Patientenmorde und die Unmenschlichkeit unserer Anstalten beeindruckten mich so tief, dass es mich immer wieder von der künstlerischen Arbeit weg an die Schreibmaschine drängte. In meiner künstlerischen Arbeit ging es mir um die Beziehungen der Formen und Gestalten zueinander; die Beziehungslosigkeit der Psychiater zu ihren Patienten widersprach allem Menschlichen, ohne das es für mich keine Kunst geben kann.“ [5]
Danach setzte Dorothea Buck sich vor allem für eine verständigere und menschlichere Psychiatrie ein. Ausgangspunkt waren ihre eigenen Erfahrungen aus fünf schizophrenen Psychosen und deren stationären Behandlungen in den Jahren 1936–59. Zusammen mit Prof. Thomas Bock vom Hamburger UKE entwickelte sie die Einrichtung von Psychoseseminaren, in denen Patientinnen und Patienten, Angehörige und in der Psychiatrie Beschäftigte gleichberechtigt in den Erfahrungsaustausch über psychiatrische Erkrankungen treten (Trialog). Heute wird dieser Trialog von der führenden psychiatrischen Fachgesellschaft als State of the Art anerkannt. [6] 1992 gründete Dorothea Buck mit anderen Betroffenen den Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener. Sie blieb bis zu ihrem Tod Ehrenvorsitzende des Verbandes.
1987 begründete Dorothea mit anderen den „Bund der Zwangssterilisierten und „Euthanasie“-Geschädigten e.V. Sie trug mit dazu bei, dass diese Opfergruppe des Nationalsozialismus vor dem Vergessen bewahrt worden ist. Dabei erinnerte sie an die Kontinuitätslinien der an den NS-Verbrechen beteiligten Eliten in der Bundesrepublik Deutschland und auch der DDR: „Dass aber 63 Jahre seit dem Ende des NS-Regimes 1945 vergehen mussten, um an die offiziell verschwiegenen und ausgegrenzten Opfer der Ausrottungsmaßnahmen erinnern zu können, liegt an der großen Täter- und Mittäterschaft der Psychiater, Theologen, aller höchsten Juristen, der Gesundheitsbehörden und Ministerien.“ [7] Sie schrieb ein Theaterstück über den hunderttausendfachen Mord an psychisch Kranken und Behinderten in der NS-Zeit. Ihre Skulptur „Mutter und Kind“ steht vor einer Schule in Hamburg-Wandsbek.
1990 veröffentlichte Dorothea Buck unter dem Pseudonym Sophie Zerchin, einem Anagramm des Wortes Schizophrenie, ihre Autobiographie „Auf der Spur des Morgensterns“. Später erfolgten weitere Veröffentlichungen mit ausgewählten Texten und Schriften.
Erst spät wurde Dorothea Buck auch von offizieller Seite geehrt. Sie erhielt das Bundesverdienstkreuz erster Klasse 1997 und 2008 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. 2017 würdigte der Hamburger Senat ihr Lebenswerk mit der Medaille für Treue Arbeit im Dienste des Volkes in Silber.
Seit 1996 ist ein Wohnangebot für Menschen mit psychischer Erkrankung in Bottrop nach ihr benannt. Auf deren Website heißt es: „Für Dorothea Buck sind das Verstehen der Krankheit, die Suche nach dem Sinn der Krankheit sowie die Begegnung auf Augenhöhe elementare Grundsätze für das Gelingen der helfenden Beziehung mit psychisch erkrankten Menschen. Dazu gehören das Unterstützen bei der Erkrankung und ihren Folgen, die therapeutische sowie die medizinische Begleitung, das Entwickeln von neuen Lebensperspektiven und das Stärken der Selbstbestimmtheit und Selbstständigkeit.“ [8]
Dorothea Buck errichtete 2011 mit ihrem geerbten kleinen Vermögen die Dorothea-Buck-Stiftung, um ihr Engagement für eine menschlichere Psychiatrie über ihr eigenes Wirken hinaus fortzusetzen. Die Stiftung unterstützt Psychiatrie-Erfahrene, eine EX-IN-Ausbildung (Experienced Involvement) zu machen, um damit als so genannter Peer, also selbst Betroffener, in der psychiatrischen Versorgung zu arbeiten. [9]
Zu ihrem 99. Geburtstag schrieb ihre Freundin Brigitte Siebrasse eine Hommage über Dorothea Buck: „Dorothea, die ja auch Pädagogin war, liebt (bis heute) das Monologisieren und schuf immer auch eine Atmosphäre direkter Ansprache. Pointen quittierte sie mit Gelächter. Da war sie immer das große Kind. Doch das Gründliche, Feierliche und Schwerfällige, Pathos und Monumentalität versucht sie zu verweigern. Sie verbindet Gewissenserforschung mit Charme, harte Anklage mit Freundlichkeit. Dorothea Buck ist wohl auch irgendwo in ihrem Wesen eine protestantische Anarchistin – und denkt nicht daran, das zu verheimlichen. Aber das Kindliche als Teil ihrer Persönlichkeit ist bis heute geblieben. … Dorothea ist die Ausnahmeerscheinung im sozialpsychiatrischen Gefüge. Alle Menschen begegnen ihr mit Respekt und Herzlichkeit, auch die Profis. Und selbst wenn die Profis sich manchmal über sie ärgern – Dorothea hat bei allen Kredit. Ihre Korrespondenzen mit Politikern, Psychiatern, evangelischen Kirchenfürsten füllen Aktenordner. Gelegentlich ausbleibende Antworten beirrten sie nicht, Risikobereitschaft muss sie mit auf die Welt gebracht haben. Sie ist ein intellektueller Instinktmensch und in ihrem persönlichen Lebensbereich erstaunlich bescheiden und genügsam. Kein Luxus, einfaches, gesundes Essen, keine Ausschweifungen. Dafür ein selbst angelegter Blumengarten.“ [10]
Dorothea Buck verbrachte ihre letzten Lebensjahre im „betreuten Wohnen“ des Hamburger Albertinen-Hauses. Sie wollte dort „das Lesen nachholen und ausruhen“. Zur Feier ihres 100. Geburtstages fand 2017 ein wissenschaftliches Symposium unter dem Titel „Auf der Spur des Morgensterns. Menschenwürde + Menschenrechte in der Psychiatrie“ statt, zu der Dorothea Buck per Skype aus dem Albertinen-Haus zugeschaltet wurde. Am 09.10.2019 ist Dorothea Buck verstorben.
Autor: Ingo Böhl
Emmy Püttjer (10.2.1905 Hamburg - 22.2.1964)
Geschäftsfrau, leitete von 1940-1947 als 1. Vorsitzende den Farmsener Turnverein von 1926 e.V.
August-Krogmann-Straße 18 (Heißmangelbetrieb)
August-Krogmann-Straße 13 (Wohnadresse)
Emmy Püttjer war Geschäftsfrau. Sie hatte einen Heißmangelbetrieb in August-Krogmann-Straße 18 in der Nähe des Farmsener Bahnhofes.
Bevor sie sich im Februar 1938 mit ihrem kleinen Heißmangelbetrieb selbstständig gemacht hatte, war sie zwischen 1930 und 1932 teils mittellos gewesen, teils hatte sie als Wanderdekorateurin versucht, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Von 1932 bis 1938 war sie dann als Arbeiterin in der Firma Langnese beschäftigt gewesen. [11]
Emmy Püttjer, die ledig und kinderlos blieb, widmete sich in ihrer Freizeit dem Farmsener Turnverein von 1926. Als sie 1940 als 1. Vorsitzende die Vereinsführung übernahm [12] – sie selbst gibt in ihrem Entnazifizierungsfragebogen an, dass sie bereits 1939 Vereinsführerin gewesen sei [13] -, „konnte sie schon nicht mehr wirksam die Schrumpfung der Mitgliederzahlen verhindern. Als maßgebliche Gründe werden die staatspolitisch bedingte Bevormundungen durch die Nationalsozialisten benannt. Diese sollen die sportlichen Aktivitäten im Verein stark behindert haben. Durch zwangsweise Mitgliedschaften der jungen Männer in den NS-Organisationen kamen die Aktivitäten in politisch unabhängigen Sportvereinen wie dem FTV zu kurz.“ [14]
Über die Verflechtung des Sports in der Zeit des NS-Regimes mit der Ideologie des Nationalsozialismus schreibt Wolf-Dieter Mattausch: „Der Prozeß der ‚Neuordnung des deutschen Sports‘ im Dritten Reich begann (…) mit der Zerschlagung der sozialistischen Arbeiter-Turn- und Sportbewegung (…) und der mehr oder weniger erzwungenen Selbstauflösung der Dachverbände des bürgerlichen Sports in Deutschland. Gleichzeitig wurden die Sportverbände im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie indoktriniert und der Ausschluß der jüdischen Sportler aus den meisten Sportverbänden vollzogen, ohne daß die politische Führung dies hätte nachdrücklich fordern müssen. (…)
Der in sich widersprüchliche Prozeß der ‚Neuordnung‘ des deutschen Sports durch die Nationalsozialisten dauerte bis 1936 an. Sportverbände, die nicht in Einklang mit der nationalsozialistischen Ideologie zu bringen waren, wurden verboten. (…).
Die Hitler-Jugend (HJ betrieb im Rahmen der nationalsozialistischen Erziehung intensive körperliche Ausbildung (…). Das Gesetz über die HJ aus dem Jahre 1936 erklärte sie zur ‚Staatsjugend‘ und übertrug ihr die körperliche, geistige und charakterliche Erziehung der gesamten deutschen Jugend. Das bedeutete, daß die Vereine des NSRL [Nationalsozialistischer Reichsbund für Leibesübungen, siehe dazu weiter unten] keine Jugendlichen unter 14 Jahren betreuen durften. (…) Nur die freiwillige Sportbetätigung von HJ-Mitgliedern oberhalb dieses Alters verblieb bei den Vereinen (…). Gleiche Regelungen galten für den Bund Deutscher Mädel (BDM) (…).“ [15]
Folgt man den wissenschaftlichen Ausführungen des Historikers Mattausch, dann fungierte Emmy Püttjer in einem "gleichgeschalteten" Sportverein als 1. Vorsitzende. Diese Funktion bekam sie, nachdem sie 1938 Mitglied des nationalsozialistischen Reichsbunds für Leibesübungen geworden war.
Emmy Püttjer trat in der NS-Zeit nicht der NSDAP bei. Sie war von 1934 bis 1938 Mitglied der DAF (Deutsche Arbeitsfront), von 1941 bis 1945 Mitglied der NSV (nationalsozialistische Volkswohlfahrt), bis 1942 Mitglied im Deutschen Frauenwerk und von 1938 bis 1945 Mitglied im nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen. [16]
Der Nationalsozialistische Reichsbund für Leibesübungen wurde 1938 „zur totalen Gleichschaltung des Dachverbandes des dt. Sports (…) als Nachfolgeorganisation des Dt. Reichsbundes für Leibesübungen“ [17] geschaffen. Er stand „unter politischer Verantwortung der NSDAP (…). So wurde der NSRL von einer durch die NSDAP ‚betreuten‘ zu einer von ihr kontrollierten Organisation. Gleichzeitig entfiel damit auch die juristische Selbständigkeit der Vereine, deren Vermögen in das Eigentum der NSDAP überging. Die Gründung des NSRL beseitigte außerdem das ohnehin nur noch formale Recht, die Vereinsführer zu wählen.“ [18]
Aus diesem Zitat wird deutlich, dass es keine demokratische Wahl der VereinsführerInnen mehr gab. Demnach muss E. Püttjer von den Verantwortlichen des NS-Sport-Systems als unverfänglich und systemkonform angesehen worden sein, ansonsten hätte sie diesen Vorsitz wohl nicht bekommen. Diese Annahme ergibt sich m. E. auch aus dem folgenden Zitat des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages, der sich mit der Entwicklung der Deutschen Turnerschaft beschäftigt hat, dem Dachverband der bürgerlichen Turnvereine in Deutschland. Aus dem Zitat geht nicht nur hervor, dass es keine demokratischen Wahlen der Vereinsvorsitzenden mehr gab, sondern es wird auch verdeutlicht, dass die Vorsitzenden mit dem NS-Regime konform gehen mussten. Nach 1933 wählten die Vereine "ihre Vorsitzer, die jedoch der Bestätigung durch die Gauvertreter bedürfen. Die von dem Gauvertreter bestätigten Vereinsvorsitzer bilden selbständig ihre Vereinsvorstände. Alle diejenigen, die Führer berufen oder bestätigen, tragen die Verantwortung dafür, dass sie nur solche Turner berufen und bestätigen, die vollkommene Gewähr dafür bieten, dass sie sich dem neuen nationalen Einheitswillen freudig und aus innerem Drange einzuordnen vermögen."
"Marxisten", nach dem Verständnis der Deutschen Turnerschaft in der NS-Zeit waren das Kommunisten und Sozialdemokraten: "durften nur noch eingeschränkt Mitglieder der Deutschen Turnerschaft bleiben Ferner wurden alle Männer und Frauen, 'die nach ihrem bisherigen öffentlichen Auftreten für diese neue nationale Regierung nicht tragbar sind' von der Ämterübernahme in der Deutschen Turnerschaft ausgeschlossen" (Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages zum Thema: Die Entwicklung der Deutschen Turnerschaft von 1933 bis 1936. 2005, S. 19.). Außerdem mussten die Turnvereine ihre jüdischen Mitglieder ausschließen. Selbst wenn der Farmsener Turnverein keine jüdischen Mitglieder hatte, galt die Vorgabe, sie auszuschließen bzw. keine aufzunehmen.
In der Festschrift des Farmsener Turnverein heißt es, dass der Verein während der NS-Zeit beim Turnfest in Breslau teilgenommen hat. Daran zeigt sich u. a. die Verflechtung mit der NS-Ideologie. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages schreibt zum Turnfest in Breslau: "Die in Breslau stattfindende Veranstaltung, deren Träger die DRL und Reichssportführer von Tschammer und Osten waren, stand unter der Losung 'Ein Volk in Leibesübungen'. Mit den bisherigen Traditionen der Turnerfeste der Deutschen Turnerschaft wurde bewusst gebrochen. Die ganze Veranstaltung war von nationalistischen Inhalten und Insignien durchdrungen, bei der auch SA, SS, Reichswehr und Hitlerjugend ihren Programmbeitrag beisteuerten." (S. 19) In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach den anderen Auftritten des Farmsener Turnvereins während der NS-Zeit - so bei den Farmsener Heimatwochen. Wer war hier Veranstalter? Zu welchem Zweck wurden in der NS-Zeit solche Heimatwochen durchgeführt?
Die Festschrift des Farmsener Turnvereins geht auch auf das Frauenturnens ab 1935 ein, welches – wie es in der Festschrift heißt: "wieder einen Aufschwung [erhielt], Zwar geriet das Geräteturnen sehr ins Hintertreffen. Frau M... machte nämlich bühnenreife Gymnastik, die beim Gauturnfest in Coventgarten und bei den Farmsener Heimatwochen vorgeführt wurden." In der NS-Zeit wurde Gymnastik für Frauen favorisiert. Damit sollten Frauen die freie und natürliche Beherrschung des Körpers und graziöse Bewegungen erlernen Auch wurde in der NS-Zeit der Gymnastik ein metaphysischer Rassebegriff eingeschrieben. "Nur der rassisch Einwandfreie kann Gymnastik einwandfrei ausführen." Vor diesem Hintergrund avancierte die Gymnastik in der NS-Zeit zu einer bevorzugten Betätigung.
In all dieses war E. Püttjer in ihrer Funktion als erste Vorsitzende involviert und hatte es mitzutragen. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages kommt zum Aspekt des "Mitmachens im Sinne der NS- Ideologie" zum folgenden Ergebnis: "In der Deutschen Turnerschaft hat es in der Zeit bis zur ihrer Auflösung 1936 keine Formen des aktiven oder passiven Widerstandes gegen die neuen Machthaber gegeben. Die einst größte Organisation der bürgerlichen Sport- und Turnbewegung in Deutschland äußerte keinen Einspruch oder Widerspruch zur Politik der Nationalsozialisten. Das betraf sowohl den Umgang der Nationalsozialisten mit anderen Verbänden, wie zum Beispiel die Ausschaltung der Sport- und Turnverbände der Arbeiterbewegung, als auch das Verhalten der eigenen Organisation in Bezug auf die Nationalsozialisten. Wie andere Verbände der deutschen Sport- und Turnwesens hat die Deutsche Turnerschaft ihre frühe und aus Eigeninitiative gestartete Angleichung an die nationalsozialistischen Machthaber, wie zum Beispiel die schnelle Einführung des 'Arierparagraphen' und des 'Führerprinzips', mit der eigenen Auflösung 'quittiert' bekommen, auch wenn die Spitze der Deutschen Turnerschaft sich von der politischen Machtübertragung an die Nationalsozialisten im Jahr 1933 grundlegend andere Perspektiven für die eigene Organisation erhofft hatte. Die Verbände und Vereine der Sport- und Turnbewegung insgesamt haben keinen erkennbaren Widerstand gegen die aktive Annäherung ihrer Verbandsspitze an die Nationalsozialisten geleistet. Zum Teil hat es Fälle gegeben, in denen die von der Verbandsspitze geforderte Austrittsaufforderung an jüdische Mitglieder bedauert wurde. (...) Mit ihrem Verhalten gegenüber den Nationalsozialisten und ihrer eigenen Mitgliedschaft hat die Deutsche Turnerschaft nicht nur Menschen geschadet, sondern sich auch eine schwere Hypothek für den Wiederaufbau des Sports nach 1945 auferlegt. (Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages aus dem Jahre 2005. Thema: Die Entwicklung der Deutschen Turnerschaft von 1933 bis 1936. unter: www.bundestag.de/resource/blob/413386/5ad88ced90fc07192ae73a142bec492f/WD-1-212-05-pdf-data.pdf
E. Püttjer konnte als Funktionsträgerin nur im Sinne des NS-Regimes wirken. Denn wie im obigen Zitat des Sporthistorikers Mattausch deutlich wird, gab es keine politisch unabhängigen Sportvereine mehr. Das NS-System funktionierte auch in diesem Bereich flächenübergreifend "perfekt". Dass E. Püttjer noch bis 1947, also auch nach der Befreiung vom Nationalsozialismus, als 1. Vorsitzende fungierte, ist angesichts der angewandten Verfahren bei der Entnazifizierung kein Indiz dafür, in Opposition zum NS-Regime gestanden zu haben.
Emmy Püttjer war auch Mitglied der Deutschen Arbeitsfront. Die Deutsche Arbeitsfront wurde im Mai 1933 gegründet und war ein rechtlich der NSDAP angeschlossener Verband „mit ca. 23 Mio. Mitgliedern (1938) die größte NS-Massenorganisation. Als Einheitsgebilde ‚aller schaffenden Deutschen‘ konzipiert, schuf ihr Reichsleiter Robert Ley ein vielgliedriges, bürokratisch aufgeblähtes Organisationsimperium, mit dem er nahezu alle Felder der nat.soz. Wirtschafts- und Sozialpolitik einzudringen trachtete. Entscheidender Einfluß auf materielle Belange in diesem Bereich blieb der DAF jedoch verwehrt, vielmehr musste sie sich auf die allgemeine Betreuung und weltanschauliche Schulung ihrer Mitglieder beschränken.“ [19].
Das Deutsche Frauenwerk: „Zusätzlich zu der streng nat.soz. ausgerichteten NS-Frauenschaft wurde im Oktober 1933 das Dt. Frauenwerk (DFW) geschaffen, das als Sammelbecken für gleichgeschaltete bürgerliche Frauenbewegungen und einzelne Mitglieder diente. Obwohl das DFW als eingetragener Verein mit eigenem Vermögen über einen anderen Status als die NS-Frauenschaft verfügte, waren beide Organisationen v. a. personell eng miteinander verflochten. An der Spitze des hierarchischen Aufbaus beider stand seit 1934 die Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink. (…).“ [20]
Die NS-Volkswohlfahrt (NSV) war mit „17 Mio. Mitgliedern (1943) nach der Dt. Arbeitsfront die größte (…) NS-Massenorganisation.(…) Ihren Anspruch auf Monopolisierung der gesamten freien und öffentlichen Wohlfahrt konnte die N. zwar nicht realisieren, doch gelang es ihr, die in der freien Wohlfahrtspflege tätigen Verbände zurückzudrängen bzw. gleichzuschalten (…). Angesichts der ihr zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel (Mitgliedsbeiträge, Spenden, staatliche Zuwendungen) war es ihr n möglich, in alle Bereiche der Wohlfahrt zu expandieren (…). Aufgrund ihrer scheinbaren Ideologieferne war die Arbeit der N. populär und die Mitgliedschaft erschien auch für diejenigen, die dem Regime eher zögernd oder kritisch gegenüberstanden, aber aus Opportunitätsgründen in eine Parteiorganisation eintreten wollten, akzeptabel. Tatsächlich war die Arbeit der N. von rasse- und erbbiologischen Selektionskriterien bestimmt (…).“ [21]
Emmy Püttjer konnte nach der Befreiung vom Nationalsozialismus die Mitgliederzahl wieder steigern. Noch bis 1947 fungierte sie als dessen 1. Vorsitzende.