Anna-von-Gierke-Ring
Bergedorf, seit 1992, benannt nach Anna von Gierke (14.3.1874 Breslau - 3.4.1943 Berlin), Kinderfürsorgerin, leitende Mitarbeiterin verschiedener Kinderfürsorge- und Jugendwohlfahrtsorganisationen. Mitglied der Nationalversammlung 1919. Motivgruppe: Verdiente Frauen
Siehe auch: Elisabeth-von-Thadden-Kehre und Elly-Heuss-Knapp-Ring
Siehe auch: Theodor-Heuss-Platz, Rotherbaum (1965): Theodor Heuss (1884-1963), Bundespräsident
Sie war die Tochter von Lili von Gierke, geb. Loening und deren Ehemann Otto von Gierke, Sozialpolitiker, Rechtshistoriker und Jurist sowie Begründer des Genossenschaftsrechts in Deutschland.
Anna von Gierke wuchs mit fünf Geschwistern auf. Nach dem Besuch der Höheren Töchterschule wurde sie in einem von Hedwig Heyl gegründeten Jugendheim in Berlin Charlottenburg als Helferin tätig. 1892 übernahm sie die Leitung eines Mädchenhortes und 1898 berief sie Hedwig Heyl zur Leiterin des Vereins „Jugendheim“. Zuvor hatte sich Anna von Gierke einige Zeit im Berliner Pestalozzi-Fröbel-Seminar in Kindergartenpädagogik und Hauswirtschaft weitergebildet.
Aus diesen Leitungsfunktionen „entwickelte sie eine umfassende sozialpädagogische Arbeit mit Horten für sozial gefährdete Jungen und Mädchen an den 17 Charlotter Gemeindeschulen, angegliederten Kindergärten und Kinderkrippen, einer Schulspeisung für insgesamt 1000 Kinder und Aus- und Fortbildungskursen für die rund 50 angestellten Mitarbeiterinnen, 200 ehrenamtliche Helferinnen und etwa 15 Schulpflegerinnen, die eine frühe Form der Schulsozialarbeit entwickelten. In den Ausbildungskursen legte sie einen besonderen Schwerpunkt auf die sozialen und politischen Fächer. Sie schuf so den eigenständigen Beruf der Hortnerin für die außerschulische Arbeit mit älteren Kindern und Jugendlichen, der 1914 staatlich anerkannt und dem der Kindergärtnerin gleichgestellt wurde.
1910 eröffnete sie auf einem von der Stadt zur Verfügung gestellten Grundstück eine Zentrale für die Kinder- und Jugendfürsorge in Charlottenburg, das ‚Jugendheim‘, in dem sie die von ihr geleiteten Einrichtungen zusammenfasste. Das Haus wurde zu einer Musteranstalt für die Hortarbeit und andere Einrichtungen der Kinder- und Jugendfürsorge, beherbergte das ‚Sozialpädagogische Seminar‘, eine Ausbildungsstätte, an der Hortnerinnen, Kindergärtnerinnen, Jugendleiterinnen und Wohlfahrtspflegerinnen unterrichtet wurden und zugleich in den verschiedenen Einrichtungen des Jugendheimes unter Anleitung praktische Erfahrungen sammeln konnten, und ein Zentralbüro für die verschiedenen Vereine, denen Anna von Gierke vorstand, darunter der Verein Jugendheim, der Charlottenburger Hausfrauenverein, der Stadtverband Berliner Frauenvereine und der Verband Deutscher Kinderhorte.“ 1)
Während des Ersten Weltkrieges, als die Horte besonders benötigt wurden, weil viele der Mütter in der Rüstungsindustrie arbeiteten, bereiste Anna von Gierke im Auftrag des preußischen Kultusministeriums die preußischen Provinzen, inspizierte die dortigen Horte und organisierte Fortbildungen für die in den Horten arbeitenden Kindergärtnerinnen. Gleichzeitig wurde Anna von Gierke Vorsitzende der vom Kriegsamt eingesetzten Kommission für Kinderfürsorge.
Auch parteipolitisch engagierte sich Anna von Gierke. Sie war Gründungsmitglied der 1918 ins Leben gerufenen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und wurde ab 1919/20 Mitglied der Weimarer Nationalversammlung. Ihre politischen Schwerpunkte lagen bei der Familien- und Sozialpolitik. 1920 wurde sie von ihrer Partei für die nächsten Reichstagswahlen wegen ihrer jüdischen Herkunft nicht wieder aufgestellt.
1921 gründete sie in Finkenkrug bei Berlin ein Landjugendheim. Dort fanden Angestellte, Schülerinnen und Kinder Erholung.
„Eine wichtige Rolle für ihr Engagement spielte der Einfluß ihres Vaters, des Rechtsgelehrten Otto von Gierke, und ihre Herkunft aus dem gebildeten, protestantischen, wertkonservativen Bürgertum, zu dessen Ethos es gehörte, durch Sozialreform und Wohlfahrtspflege dem Sozialismus entgegen zu treten und die negativen Auswirkungen des Kapitalismus zu begrenzen.“ 1)
Anna von Gierke „schuf (…) aus den ihr verbundenen Verbänden der Jugendhilfe und der Frauenbewegung einen in sich gegliederten Wohlfahrtsverband für die freien träger und Vereine, die bislang nicht einen konfessionellen oder politischen Spitzenverband angeschlossen waren. Sie nannte diesen Verband, in Abgrenzung zur Caritas, Humanitas. Es gelang ihr aber nicht, die staatliche Anerkennung als eigenständiger Spitzenverband zu erreichen. 1925 fusionierte sie die ‚Humanitas‘ deshalb mit Verbänden aus dem Gesundheitsbereich zum ‚Fünften Verband‘, dem späteren Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband und war bis 1933 dessen zweite Vorsitzende.“ 1)
1933 wurde Anna von Gierke wegen ihrer jüdischen Abstammung aus allen ihren Tätigkeiten entlassen. Ihr blieb nur das Landjugendheim in Finkenkrug. Dort nahm sie auch Kinder auf, deren Eltern sich verstecken mussten, im KZ waren oder getötet worden waren.
Anna von Gierke engagierte sich auch in der Bekennenden Kirche. In ihrer Wohnung an Carmerstraße 12 hielt sie einen Hauskreis ab. „An diesen Abenden wurden Informationen über die Aktivitäten der Bekennenden Kirche ausgetauscht und biblische Texte oder Werke der modernen Literatur besprochen. Es wurden Adressen ausgetauscht, über die Schicksale von Menscheninformiert, die inhaftiert waren oder Deutschland verlassen wollten, sowie Lebensmittelkarten für Untergetauchte gesammelt und vorübergehende Unterkünfte besorgt.“ 1)
Zu diesem Kreis gehörten u. a. Theodor Heuss (siehe: Theodor-Heuss-Platz) und Elly Heuss-Knapp (siehe: Elly-Heuss-Knapp-Ring) sowie Elisabeth von Thadden (siehe: Elisabeth-von-Thadden-Kehre) die bei Anna von Gierke zur Miete wohnte.
Von Anna von Gierke stammt die Wortschöpfung „Sozialpädagogik“.