Kirchnerweg
Billstedt (1971): Ernst Ludwig Kirchner (6.5.1880 Aschaffenburg – 15.6. 1938 Frauenkirch/Wildboden bei Davos), Maler, Graphiker, Bildhauer.
Über Ernst Ludwig Kirchners Kinder- und Jugendjahre heißt es in Wikipedia: „Ernst Ludwig Kirchner wurde als ältester Sohn von Maria Elise Kirchner, geborene Franke (1851–1928) und ihrem Mann Ernst Kirchner (1847–1921), einem Chemiker für industrielle Papierherstellung, ab 1892 Professor an der Technischen Lehranstalt und Gewerbeakademie in Chemnitz, in Aschaffenburg geboren. (…). Die Studienjahre, die er nach dem Abitur in Chemnitz 1901 mit einem Architekturstudium an der Technischen Hochschule Dresden begann, beendete er 1905 erfolgreich mit der Diplomarbeit Entwurf einer Friedhofsanlage. Im Wintersemester 1903/04 hatte er an der Technischen Hochschule München studiert, die ihn enttäuschte; lediglich der Besuch der Münchner Debschitz-Schule war für ihn ein Gewinn. Nach dem vollendeten Studium entschied er sich jedoch gegen den Beruf des Architekten.“ 1)
Kirchner war 1905 Mitbegründer der Künstlergruppe „Brücke“. Zu diesem Kreis gehörten zum Beispiel auch Emil Nolde (siehe: Noldering), Karl Schmidt-Rottluff (siehe: Schmidt-Rottluff-Weg) und Max Pechstein (siehe: Max-Pechstein-Straße). „In dieser Zeit entwickelte Kirchner sich von einem impressionistisch beeinflussten Maler zum Expressionisten. Zu seinen bevorzugten Themen gehörten neben Aktmalerei und Porträts auch Landschaften, Stadtansichten und die Welt des Varietés.“2)
Kirchner hatte zum Beispiel eine Liebesbeziehung zu der Varietékünstlerin Line und mit seinem Modell Doris Große, genannt „Dodo“. Von ihr, einer Modistin, malte er das Bild „Akt mit Hut“. „Ab demselben Jahr stand die damals neunjährige Lina Franziska Fehrmann (11.10.1900 Dresden – 10.6.1950 Dresden), später verheiratete Fleischer, genannt ‚Fränzi‘, Modell für die Maler Heckel, Pechstein und Kirchner. Im Sommer an den Moritzburger Teichen, im Winter in den Dresdner Ateliers wurde sie von den Künstlern skizziert, gezeichnet, gemalt und in druckgrafischen Techniken porträtiert. Erst im Juli 1995 wurde in einem Skizzenbuch Kirchners ihr Familienname ‚Fehrmann‘ entdeckt, sodass bei der Nachforschung in Kirchenbüchern ihre Identität festgestellt werden konnte.“ 3)
Franziska Fehrmann begann 1909 für die Künstlergruppe „Brücke“ Modell zu stehen und wurde bis 1911 auf vielen Werken der Maler abgebildet. Wenn man sich die Bilder, die Kirchner von ihr geschaffen hat, anschaut, dann ist es nicht verwunderlich, dass sich viele Menschen die Frage nach der Art der Beziehung zu dem Kind stellen und ob hier ein sexueller Missbrauch bestanden hat. Von einem sexuellen Missbrauch von Kindern kann gesprochen werden, wenn Kinder nackt vor Männern- auch wenn diese Künstler sind- so posieren müssen, dass zum Beispiel ihre Geschlechtsteile entblößt zur Schau gestellt werden, so wie auf dem Bild von Kirchner, das einen liegenden nackten Mann zeigt, auf dem ein nacktes Mädchen „reitet“. Sie musste dabei solch eine Position einnehmen, dass ihre Vulva dabei sehr gut zu sehen ist, die Kirchner durch einen roten Farbstrich auch noch hervorhob. Künstlerische Freiheit….??? Sie hört dort auf, wo sich Kinder unangenehm fühlen. Wurden sie jemals gefragt? Wurde Lina Franziska Fehrmann, das zwölfte Kind eines Schlossers und späteren Heizers und Maschinisten und einer Putzmacherin jemals nach ihren Empfindungen befragt, wenn sie zum Beispiel in dem Atelier von Kirchner, in dem die Wände voller Bilder mit nackten Frauen hingen, Modell stand? Franzi stand bis 1911 den Brücke-Künstlern Modell, dann zog die Künstler-Gruppe nach Berlin und Franzi blieb in Dresden. Im Alter von 16 Jahren wurde sie von einem Nachbarsjungen schwanger und bekam von ihm 1917 ein Kind. 1923 gebar sie ein weiteres Kind und 1931 heiratete sie erstmals. Damals arbeitete sie als Buchbindearbeiterin. 1948 kam es zur Scheidung. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte Franzi von zahlreichen Krankheiten geplagt.
Als Begründung, warum diese Künstler als Aktmodell Kinder benutzten, heißt es in Wikipedia: „(…) die Brücke-Künstler [studierten] ab 1905 nicht nur den weiblichen Akt im Erwachsenenstadium, sondern interessierten sich auch für deren Vorstufen bzw. Entwicklung, also auch pubertäre und präpubertäre Stadien der Frau. Damit folgten sie einer in der Zeit einsetzenden Neudefinition des Aktbegriffs: (…) Von Interesse war dabei unter anderem die ‚innerliche Bewegung‘ der Modelle: ‚Die Entwicklung vom Kind zur Frau schreitet in jedem Augenblick voran. Kein anderer Lebensabschnitt ist so geprägt von dramatischer Veränderung. Nichts ist abgeschlossen. Alles schwingt. (…).
Zeichnungen zeigen Fränzi häufig in Bewegung (…).. Mit Fränzi erweiterte sich die Darstellung der Brücke-Künstler weg vom statischen Akt: In dem Leben der Urvölker wollten die Brücke-Künstler nicht zuletzt ‚Parallelen zu ihrem Leben und Arbeiten in den Ateliers und vor allem an den Moritzburger Teichen [schaffen]. Sie bildeten dort ebenfalls mit ihren jugendlichen Modellen und Freundinnen eine Gemeinschaft, bewegten sich ungezwungen unbekleidet (…). ‚Im ‚Naturkind‘ Fränzi verkörpert sich ein Idealbild der Brücke-Utopie von Freiheit und Ursprünglichkeit – ein Amalgan aus Erotik und Exotik.‘“ 4)
Als 2010 im Frankfurter Städel Museum die Ausstellung „Der Blick auf Fränzi und Marcella“ gezeigt wurde und wenig später im Sprengel Museum in Hannover die Ausstellung „Der Blick auf Fränzi und Marcella. Zwei Modelle der Brücke-Künstler Heckel, Kirchner und Pechstein“, war die Zeit reif angesichts der damals schon sensibilisierten Wahrnehmung bezüglich des Themas sexueller Missbrauch von Kindern, auch in der breiten Öffentlichkeit die von Kirchner geschaffenen Bilder zu diskutieren.
Das Thema wurde in den Zeitungen unterschiedlich betrachtet: die einen sahen keinen Missbrauch, die anderen ja.
Prof. Dr. med. Dirk Schultheiss, schreibt dazu in seinem Aufsatz „Paplo Picasso und Ernst Ludwig Kirchner – Hypersexualität und Pädophilie?“. Den Brücke-Künstlern galt das „ganze Interesse (…) dem nackten menschlichen Körper, dessen Formen und Bewegungen es zu erfassen galt. In Kirchners Davoser Tagebuch wird dies folgendermaßen ausgeführt: ‚Hier zerriss er bewusst die traditionelle Art des Aktstudiums und schuf sich in seinem Atelier einen Kreis junger Mädchen, die er frei in der Bewegung studierte.‘ Das Studium der Modelle sowie das Anfertigen der Aktbilder vereinten sich dabei oft mit der Ausübung des Geschlechtsverkehrs, da viele der Modelle auch gleichzeitig Freundinnen und Geliebte der Brücke-Künstler waren (Kim, 2002). Kirchner dazu in einem späteren Kommentar: ‚Ich arbeite nur zu Hause in freier Weise. Oft stand ich mitten im Coitus auf, um eine Bewegung, einen Ausdruck zu notieren.‘ Die Zeichnungen wurden dabei verständlicherweise schnell ausgeführt und von den Künstlern auch als ‚Viertelstundenakte‘ bezeichnet.“ 5)
Und weiter führt Dirk Schultheiss aus: „Wie bereits oben beschrieben waren die Brücke-Künstler bei ihren Aktbildern nicht an einer detailgenauen oder idealisierenden Darstellung des weiblichen Körpers interessiert, sondern wollten stimuliert durch das Gelebte direkt ihre Gefühle und auch Triebe auf das Zeichenblatt oder die Leinwand bringen. Dass dies zumindest in den frühen Jahren der Brücke-Künstler in einem promiskuitiven Verhältnis zu ihren zumeist noch jungen Modellen resultierte, ist hinreichend dokumentiert. Auch die Ausschmückung von Wänden und Vorhängen mit reichlich erotischen Szenen in den Künstlerateliers diente der entsprechenden Stimulation. (…).“6)
Dirk Schultheiss widmet sich auch der bereits oben beschriebenen Zeichnung „Liegender nackter Mann mit Kind auf dem Rücken“ von 1909 und äußert dazu: „Die Position der Personen lässt zwar nicht unbedingt auf eine direkte sexuelle Handlung schließen. Die Farbwahl wie auch die zeichnerische Akzentuierung der kindlichen Vulva erzeugen jedoch eine deutliche Erotik und überlassen es letztlich dem Betrachter weitere Schlüsse zu ziehen. (…) Auch wenn keine konkreten sexuellen Handlungen an den kindlichen und jugendlichen Modellen ausgeübt worden sind, so wurden sie doch in den Ateliers einem Umfeld ausgesetzt, welches durch die beschriebene Dekoration hochgradig erotisch aufgeladen war und in dem sexuelle Handlungen Teil des kreativen Akts waren. Die Frage, ob den Kindern durch die Arbeit in den Ateliers Schaden zugefügt wurde, bleibt aufgrund fehlender Zeitzeugen ungeklärt (…).“7)
Felix Krämer, der 2010 die Frankfurter Ausstellung „Der Blick auf Fränzi und Marcella“ kuratiert hatte, kommt zu der Einschätzung: „Das war Missbrauch! Vielleicht kein körperlicher, das kann ich nicht belegen, obwohl es dafür Indikatoren gibt. Aber Kinder mit gespreizten Beinen zu zeichnen oder sie überhaupt in diesen Zusammenhang zu bringen, das ist nach heutigen Definitionen eindeutig als Missbrauch zu bewerten.‘“ 7)
Dieser Akt der sexuellen Erniedrigung von Kindern kann auch nicht durch die Tatsache entschuldigt werden, dass auch andere Künstler nicht anders gehandelt haben, so wie der Journalist Stefan Koldehoff in Welt.de dies aufführt und deshalb die Frage stellt: „Sollten sie [die Beweise für Pädophilie, R. B.] sich doch noch finden lassen, stünde einmal mehr die Frage zur Diskussion, wo mit der moralischen Beurteilung von Künstlern anzufangen, wo aufzuhören wäre. Paul Gauguin nahm auf Tahiti die 13-jährige Teha'amana zur Frau und ließ sie 1893 bei seiner Abreise schwanger zurück. (…). Egon Schiele zeichnete minderjährige Mädchen in pornografischen Posen und wurde wegen angeblicher sexueller Übergriffe, die sich als haltlos erwiesen, inhaftiert. Heinrich Zille verewigte in seinen 'Hurengesprächen' auch minderjährige Prostituierte beim Sex. (…) Lewis Carroll fotografierte vor allem leicht bekleidete Kinder.“ 8)
Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) betrachtete 2010 im Rahmen der Ausstellung in Hannover „Der Blick auf Fränzi und Marcella. Zwei Modelle der Brücke»-Künstler Heckel, Kirchner und Pechstein. – Kinder. Darstellungen um 1900“ und vor dem Hintergrund des Vorwurfes des Kindesmissbrauchs das Kirchner Bild „Marcella“ von 1909 und kommt zu dem Ergebnis: (…). „Jahrzehntelang störte sich niemand daran, dass die ‚Brücke‘-Künstler Mädchen im Alter zwischen acht und fünfzehn Jahren ins Atelier bestellten und dort anstelle der erwachsenen Freundinnen oder Gelegenheitsprostituierten posieren liessen. Auch wenn Übergriffe nicht nachweisbar waren, ist es doch ein unpassender Ort für Kinder gewesen. Erst in den letzten Jahren wurde diese Art von ästhetisch-erotischer Ausbeutung Minderjähriger problematisiert.
Die ‚Brücke‘-Künstler, allen voran Ernst Ludwig Kirchner, sind zu Säulenheiligen der deutschen Kunstgeschichtsschreibung geworden. (…). Nun heisst es, sie wieder vom Sockel herunterzuholen, wenngleich dies nicht allen passt. Händler und Sammler sind gegen Kritik allergisch, die die Marken ‚Brücke‘ oder ‚Kirchner‘ beschädigen könnte. (…).“ 9)
Kirchner und Erna Schilling
1911 lernte Kirchner in einem Nachtclub Erna Schilling (25.12.1884 Berlin – 4.10.1945 Davos) kennen, die dort als Nachtclubtänzerin arbeitete. Sie wurde Kirchners Künstlermodell und Lebensgefährtin. Sie „fertigte zudem Dekorationen für Kirchners Atelier an. Kirchner machte die Entwürfe für Stickereien, die Erna Schilling umsetzte. Später kümmerte sie sich auch um die Geschäfte des Künstlers, der 1915 einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, und legte durch erfolgreiche Verkäufe von Bildern die Grundlage für seine finanzielle Unabhängigkeit. 1921 zog sie, die sich, ohne mit ihm verheiratet zu sein, häufig Erna Kirchner nannte, mit ihm in die Schweiz. Sie lebten ab 1923 im ‚Wildbodenhaus‘ in Davos Frauenkirch. (…).“ 10)
Die Liebesbeziehung zwischen Kirchner und Erna Schilling gestaltete sich eher nach den Richtlinien, die Kirchner vorgab. „Nach Kirchners Erwartungen an eine dauerhafte Beziehung sollten die zusammenlebenden Partner gleichberechtigt und ‚frei‘ sein, [Kirchner hatte in dieser Zeit auch mit anderen Frauen erotische Beziehungen, R. B.] doch hatten sich beide auf die Förderung des Werks, des Werks von Kirchner, zu konzentrieren. 1926 beschreibt Kirchner in einem Brief an seinen Freund Albert Müller seine Rollenerwartung: ‚Ehe Erna begriff, was ihre Aufgabe in unserem Leben ist, hat es manchen Kampf gegeben. … Aber ich wollte nur etwas für mich und meine Arbeit. Und es ist doch heute so bei uns geworden, dass das Haus der Einheit dient und dass meine Frau für die Ermöglichung meiner Arbeit alles tut‘. Sie tat es, doch jährlich auftretende Depressionen waren die Folge. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1945 suchte sie nach einer eigenen Rolle.“11)
Kirchner und seine Drogenabhängigkeit
Als der Erste Weltkrieg begann, meldete sich Kirchner „als Freiwilliger und wurde Fahrer bei einem Artillerieregiment. Im Frühjahr 1915 kam er als Rekrut nach Halle an der Saale. Nur wenige Monate ertrug er den Drill, dann wurde er Anfang November nach einem nervlichen Zusammenbruch beurlaubt. Kirchner geriet in Abhängigkeit von Medikamenten (anfangs Veronal, später Morphin).“ 12) Zuerst wurde er in deutschen Sanatorien behandelt, deren Aufenthalte von einigen Kunstsammlern und Museumsleuten bezahlt wurde. 1917 kam Kirchner wegen seines Medikamenten- und Alkoholmissbrauchs nach Davos in die Schweiz, wo er „von Lucius Spengler und insbesondere von dessen Frau Helene betreut [wurde]. Deren Rigorosität und Kirchners eisernem Willen war es zu verdanken, dass er 1921 von Medikamenten entwöhnt war.“ 13) In der Zwischenzeit „legte seine Lebensgefährtin Erna Schilling in Berlin durch eifrige Verkäufe die Grundlage für seine Erfolge und für seine finanzielle Unabhängigkeit.“ 14)
1921 kam Erna Schilling nach, und das Paar lebte in einer Berghütte. „Ab Mitte der 1920er-Jahre litt er zunehmend unter den harten Wintern in Davos, die seiner Gesundheit zusetzten, und unter jahrelangen schweren Depressionen Erna Schillings.
Obwohl Kirchners Kunst seit etwa 1920 in für moderne Kunst aufgeschlossenen Kreisen feste Anerkennung genoss, wurde sie doch seiner eigenen Meinung nach in der Kunstkritik nicht hinreichend gewürdigt. Deshalb sorgte er selbst für diese Würdigung, indem er unter dem Pseudonym Louis de Marsalle verschiedentlich Aufsätze über seine eigene Kunst schrieb und nur denjenigen Kunstschriftstellern das Recht zur kostenlosen Reproduktion seiner Bilder gab, die bereit waren, sich ihre Texte vorher von ihm genehmigen zu lassen..“ 15)
Als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, beschlagnahmten sie über 600 Werke Kirchners. 1937 wurden zwei Dutzend seiner Werke in der NS-Ausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt. Außerdem wurde ihm 1937 die Mitgliedschaft in der Preußischen Akademie der Künste entzogen. „Um seinen Ruf und seine Position wiederherzustellen, schrieb Kirchner einen sorgfältig ausgearbeiteten Brief an die Preußische Akademie, in dem er versuchte, ein Gleichgewicht zwischen seiner unpolitischen Natur und seinem pro-deutschen Engagement herzustellen. Seine Beteuerungen blieben erfolglos, (…). [Kirchner schrieb folgenden Brief an die Preußische Akademie der Künste]: Davos, den 12. Juli 37
Sehr geehrter Herr Dr. Schumann,
ich erhielt Ihr Geehrtes vom 8. d. Ich lebe seit 20 Jahren im Ausland und infolge meiner Krankheit sehr einsam und zurückgezogen. Ich bin nicht orientiert über die künstlerischen Vorgänge in Berlin. Ich will gewiß niemand im Wege stehen oder Aufsehen erregen. Ist mein Name in der Akademie lästig, so streichen Sie ihn. Ich würde mir arrogant oder albern vorkommen, wollte ich von mir aus aus [sic] dieser großen, ehrenwerten Institution austreten, der schon mein Großvater angehörte. Ich bin doch kein Feind. Wenn ich gesund wäre, würde ich ja so gern mitarbeiten am Aufbau einer neuen deutschen Kunst. Ich habe ja mein ganzes Leben hindurch daran gearbeitet und bin oft genug dafür angefeindet worden. Ich habe nie einer politischen Partei angehört. Meine Arbeit kommt aus dem einfachen menschlichen Empfinden und richtet sich an dasselbe. Ich gedachte das beste davon meinem Lande zu schenken bei meinem Tode, um so meinem Lande zu dienen. Manchen jungen Künstler interessiert sie. Ich wünsche von Herzen, daß Deutschland eine neue, schöne und gesunde Kunst erwachse. Ich und mancher andere ältere haben ehrlich und treu daran gearbeitet, das wird man früher oder später einmal einsehen.
Mit deutschem Gruß
Ihr ergebener
E. L. Kirchner“ 16)
Kirchner nahm sich am 15. Juni 1938 in Davos mit einem Herzschuss das Leben. Zuvor hatte es einen Streit mit Erna Schilling gegeben, denn Kirchner wollte, dass sie mit in den Tod gehe, was sie ablehnte. „Das Motiv für die Selbsttötung war nach der Literatur über Kirchner die tiefe Enttäuschung des Künstlers über die Diffamierung seiner Werke in Deutschland. Inzwischen ist aus Kirchners Schriftwechsel mit seinem Arzt Frédéric Bauer bekannt, dass er seit 1932 wieder morphiumsüchtig war. Vermutlich hat seine Selbsttötung auch mit einer von Kirchner forcierten Reduktion seiner Morphiumdosis im Jahr 1938 zu tun. Am 10. Mai beantragte er bei der Gemeinde Davos das Aufgebot für die Eheschließung mit Erna Schilling, zog es jedoch am 12. Juni wieder zurück. Zur Zeit des Suizids stand nach Aussage seiner Lebensgefährtin, die amtlich den Namen Kirchner tragen durfte, das Gemälde Schafherde (1938) auf der Staffelei. 17)
Erna Schilling verwaltete Kirchners Nachlass, bis sie selbst 1945 in Davos starb.