Neumann-Reichardt-Straße
Wandsbek (1917): Dr. h. c. Friedrich Neumann Reichardt (18.1.1858 - 27.7.1942 Hamburg), Besitzer der Reichardt-Kakao-Werke in Wandsbek.
Im folgenden Text wird das N-Wort im historischen Zitat voll ausgeschrieben. 1)
1892 gründete Friedrich Neumann zusammen mit seinem Schwiegervater in Halle an der Saale die Kakao-Versand-Kompagnie Theodor Reichardt. Da Hamburg seinerzeit zu den weltweit wichtigsten Rohkakaomärkten gehörte, verließ die Firma 1898 Halle und zog nach Wandsbek, damals eine preußische Stadt in Hamburgs Nähe. An der Brauereistraße ließ man eine Fabrik bauen und nannte sich von nun an Kakao-Kompagnie Theodor Reichardt GmbH. Ihr Ziel war es, so die Festschrift zum 25-jährigen Firmenjubiläum 1917, Kakao nicht mehr als Luxusprodukt zu vermarkten, sondern als „Volksgetränk“. Die starken ausländischen Konkurrenten, die Niederlande und die Schweiz, sollten dabei vom deutschen Markt verdrängt werden. Mit Kakao aus den afrikanischen Kolonien wollte Neumann eine „wahrhaft deutsche Industrie schaffen“. Dieser „patriotischen Tat“ widmete das Wandsbeker Unternehmen eine Postkartenserie, die auch Arbeiter in Kamerun bei der Kakaoernte und beim Tragen der schweren Kakaobohnensäcke ins Bild setzte. Es war seinerzeit üblich, Schokolade lose zu verkaufen. Die Reichardt-Kompagnie bot sie erstmalig verpackt an, um die Frische zu erhalten – mit Erfolg, denn das Unternehmen konnte bald expandieren. Die Stammfabrik wuchs um weitere Gebäude zu einem eigenen Stadtteil in Wandsbek, der sich auf 60.000 Quadratmeter ausdehnte. 1923 waren rund 4.000 Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigt. Damit war Kakao-Kompagnie Theodor Reichardt die größte Kakao verarbeitende Fabrik Deutschlands und der größte Arbeitgeber in Wandsbek. Überall im Deutschen Reich wurden Verkaufsfilialen eröffnet. Exporte gingen vor allem nach England; für den umfangreichen Zollverkehr wurde im Werk eine eigene Zollabfertigungsstelle eingerichtet. Auf den ersten Blick scheint Theodor Reichhardt ein fürsorglicher Arbeitgeber gewesen zu sein. In seinem Werk gab es kostenlose Arbeitskleidung, eine „Speiseanstalt“, Schwimmbäder für Frauen und Männer, eine Arbeiterunterstützungskasse sowie einen „Wirtschaftsverein“, in dem die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer „Bedarfsartikel für Haus und Küche“ zu Großhandelspreisen kaufen konnten. Das Reichardt-Heim, ein ehemaliges Waldhotel in Marienthal, bot unverheirateten Arbeiterinnen preiswerten Wohnraum. Anlässlich des Firmenjubiläums 1917 verlieh die Reichsregierung dem Unternehmer „in Anerkennung seiner großen volkswirtschaftlichen Verdienste und seiner bedeutsamen sozialen Bestrebungen“ das Privileg, den doppelten Nachnamen Neumann-Reichardt führen zu dürfen. Die „sozialen Bestrebungen“ entsprachen allerdings ganz dem streng patriarchalischen Verständnis von Unternehmern jener Zeit: Arbeitsschutz und bessere Entlohnung gegen Gehorsam und lange Werktage. Gewerkschaftliche Aktivitäten waren im Werk ausdrücklich verboten. 1905 musste sich die Arbeiterschaft in einem zwei Monate dauernden Streik gegen Misshandlungen durch Vorgesetzte wehren.
Der Kakao für die Schokoladenprodukte kam zunächst aus den portugiesischen und britischen Kolonien in Westafrika; Einfuhren aus den deutschen Kolonien Kamerun und Togo nahmen jedoch stetig zu. Von den 50.000 Tonnen Kakao, die das Deutsche Reich 1913 importierte, fielen rund 7.000 Tonnen auf die Wandsbeker Firma, was drei Prozent der weltweiten Ernte ausmachte. Am fruchtbaren Kamerunberg hatten die Hamburger Großhandelshäuser Adolph Woermann (siehe zu Woermann unter: Cornelius-Fredericks-Stieg) und Jantzen & Thormählen, gestützt auf die reichsdeutsche Marine, Plantagen zwangsweise „erworben“ und drei Handelsgesellschaften gegründet. 1899 wurden diese zum gemeinsamen Plantagenunternehmen Moliwe-Gesellschaft mit einer Betriebsfläche von 14.000 Hektar zusammengelegt.
Gegen den Landraub leisteten die vor Ort lebenden Bakweri (Kpe) entschiedenen militärischen Widerstand. Unter dem Feldherr Kuv’a Likenye war ihr bewaffneter Freiheitskampf lange erfolgreich. In einem Gefecht vor Gbea (Buea), der größten Ortschaft am Kamerunberg, töteten sie 1891 den Kommandeur der deutschen „Schutztruppe“, Karl von Gravenreuth. Ende 1894 mussten die Bakweri schließlich vor der deutschen Übermacht kapitulieren; Gbea wurde dem Erdboden gleichgemacht. Die deutsche Kolonialtruppe erschoss fast alle Männer, und die Frauen wurden als „Soldatenweiber“ zur Prostitution gezwungen. Kuv’a Likenye starb auf der Flucht. Hans Dominik (siehe: Dominikweg), Hauptmann in der „Schutztruppe“, prahlte damit, dass die Bewohnerschaft von Gbea nun „kaum mehr als dem Namen nach vorhanden“ sei. Dominik war in ganz Kamerun für seine Terrormethoden gefürchtet. Bis heute steht die Figur des Mayor Dzomnigi im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung in Südkamerun für Mord, Folter und Zwangsarbeit. 1902 wurde Buea Hauptstadt und Sitz der Kolonialverwaltung. Den prächtigen Gouvernementspalast („Puttkamer-Schlösschen“, genannt nach dem berüchtigten Gouverneur Jesco von Puttkamer) mussten gefangene Bakweri bauen.
In weiteren Regionen dauerte die Gegenwehr gegen die koloniale Expansion an: Bis 1908 kam es in Kamerun zu weit über 100 militärischen Auseinandersetzungen, in Togo zu mindestens 30. In der „Schutztruppe“ rebellierten afrikanische Soldaten gegen die Schikanen und Prügelstrafen der deutschen Vorgesetzten. Schließlich konnte die deutsche Kolonialverwaltung 1896 die Enteignung des fruchtbaren Kulturlandes am ganzen Kamerunberg melden. Die Bakweri, die überlebt hatten, mussten ihr bewirtschaftetes Land verlassen. Ihnen wurden „Eingeborenenreservate“ zugewiesen, Kleinparzellen zur Eigenversorgung in kargen Randlagen.
Das Kolonialgouvernement verkaufte das eroberte Land an einige wenige große Aktiengesellschaften, hinter denen allen voran die hanseatischen Kaufleute und Großindustrielle aus dem Rheinland standen. Den Investoren wurden großflächige Ländereien zu extrem niedrigen Preisen angeboten sowie militärischer Schutz und billige Arbeitskräfte zugesichert. Der lokalen Bevölkerung hingegen wurde der Kakaoanbau verboten, dafür wurden die enteigneten Kleinbauern auf den Plantagen zur Lohnarbeit verpflichtet. Der Basler Missionar Friedrich Lutz notierte: „Die meisten Dörfer waren große, stattliche Bakwiri-Dörfer [sic]. Wo sie ehedem standen, erblickt man heute nur noch Kakaopflanzungen. (…) [Es] ist in den Landkommissionen offen ausgesprochen worden: ,Die Schwarzen sind von uns besiegt und als Besiegte sind sie rechtlos.’“
Die Bakweri leisteten von nun an passiven Widerstand, und um sich dem Arbeitszwang zu entziehen, wanderten ganze Dorfschaften aus. Den Mangel an Arbeitskräften versuchte die Kolonialverwaltung auszugleichen, indem sie Menschen aus entfernteren Regionen und anderen Kolonien holte, doch auf Dauer war die aufwendige Anwerbung wenig wirksam. Besorgt um Kakaolieferungen trieben die Reichhardt-Werke aggressive Kolonialpropaganda. 1908 forderte das Unternehmen in der Zeitung Wandsbecker Bothe: „Wir müssen Anspruch auf die Arbeitskraft der Neger erheben, soll nicht unsere Kolonie zu einem Negerversorgungsheim werden.“
Nun griff das Gouvernement unter Jesco von Puttkamer zu noch rabiateren Methoden. Um die lokale Subsistenzwirtschaft gänzlich zu vernichten und die lokale Bevölkerung „durch Hunger zur Arbeit“ zu treiben, ließ die Kolonialverwaltung Dörfer und Felder niederbrennen, Folterungen waren an der Tagesordnung. Die „Schutztruppe“ machte Jagd auf Arbeitskräfte, vor allem auf Kinder, die sich nicht wehren konnten und die als besonders fleißig galten. Die Zwangsverpflichteten erwartete eine Sechs-Tage-Woche mit einer täglichen Arbeitszeit von bis zu 18 Stunden und ein Lohn am Rande des Existenzminimums. Auf den Pflanzungen der Handelsgesellschaften, welche die Wandsbeker Reichhardt-Werke mit Kakao belieferten, waren körperliche Strafen an der Tagesordnung. Die Westafrikanische Pflanzungsgesellschaft Bibundi WAPB/Jantzen & Thormählen ließ einen „Hungerturm“ bauen, in dem unwillige Arbeiterinnen und Arbeiter eingesperrt wurden. Auf der Plantage von Adolph Woermann starben 1913 innerhalb von sieben Monaten 65 von 213 Arbeitskräften. Die brutalen Rekrutierungsmethoden und die Schikanen, die harte Arbeit und die schlechte Ernährung führten überall am Kamerunberg zu hohen Todesraten. Wer konnte, versuchte zu fliehen, ganze Regionen wurden entvölkert.
Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs blieben die Kakaolieferungen aus, die Schokoladenproduktion in Wandsbek musste vorübergehend eingestellt werden. Und es kriselte weiter: Ende 1925 führten Absatzschwierigkeiten zu einer erneuten Stilllegung der Reichardt-Werke, 2.800 Arbeitskräfte – von ihnen wohnte fast die Hälfte in Wandsbek – wurden entlassen. 1928 wurde die Kakao-Kompagnie Reichhardt an den Kölner Schokoladenriesen Stollwerck verkauft und das Wandsbeker Werk abgewickelt. Die meisten Werkgebäude sind an der Neumann-Reichhardt-Straße erhalten geblieben, heute beherbergen sie Büros und kleine Handwerksbetriebe. Auf dem benachbarten Fabrikgelände etablierte sich ab 1940 die Im- und Exportfirma Herbert Stockmann, die anfangs mit Südfrüchten handelte und dann ab 1949 Süßigkeiten und Schokolade produzierte. Heute hat das Nestlé Chocoladen-Werk dort seinen Sitz.
Nach dem Ersten Weltkrieg bot die britische Mandatsmacht den Plantagenbesitzern den Rückkauf ihrer Ländereien am Kamerunberg an. Doch damit nicht genug: Die Handelsgesellschaften enteigneten weiteren Grund und Boden in die Reservate hinein und verdrängten die lokale Bevölkerung in immer engere Räume. Ab 1933 bekannten sich die meisten deutschen Pflanzer zum Nationalsozialismus und träumten von der Rückeroberung Kameruns. 1947 gründete die britische Kolonialverwaltung den Großkonzern Cameroons Development Corporation (CDC), der die Plantagen am Kamerunberg verwaltet. CDC blieb nach der Unabhängigkeit des Landes 1960/1961 weiter erhalten und wurde 1994 privatisiert. Zu allen Zeiten haben die Bakweri die Rückgabe des Landes ihrer Vorfahren gefordert, bislang ohne Erfolg. Unvergessen ist Kuv’a Likenye, der Führer der Widerstandsbewegung 1891-1894 gegen die deutsche Kolonialherrschaft, der bis heute geehrt wird. Ein Bakweri-Lied erinnert an ihn: „Lo! Die Hände, welche den Speer hoch hielten / Welche das Gewehr luden / Lo! Die furchterregende Stimme, welche brüllte / Welche die Menge davon jagte / Der Held bleibt unsterblich.
Text: HMJokinen, Mitarbeit: Frauke Steinhäuser
Hinter dem N-Wort steckt die Bezeichnung „Neger“, die stark diskriminierend ist. Das N-Wort tauchte erstmalig im Zusammenhang mit dem transatlantischen Menschenhandel, mit Kolonialismus und „Rassentheorien“ auf. Das Wort wird im vorliegenden Text ausschließlich im historischen Zitat ausgeschrieben, weil damit deutlich gemacht werden soll, wie rassistisch die beschriebenen Kolonialakteure gedacht und gehandelt haben.