Virchowstraße
Altona-Altstadt (1950): Rudolf Virchow (13.10.1821 Schivelbein/Pommern – 5.9.1902 Berlin), Pathologe, Begründer der modernen Zellularpathologie.
Siehe auch: Schliemannstraße
Siehe auch: Riehlstraße
Siehe auch: Helmholtzstraße
Vor 1950 hieß die Straße Weidenstraße. Bereits in der NS-Zeit sollte die Straße im Zuge des Groß-Hamburg-Gesetzes in Virchowstraße umbenannt werden, da nun das bisherige Staatsgebiet Hamburg um benachbarte preußische Landkreise und kreisfreie Städte erweitert worden war und es dadurch zu Doppelungen bei Straßennamen kam. Bedingt durch den Krieg kam es nicht mehr zu dieser Umbenennung und es blieb bis 1950 bei Weidenstraße. (vgl.: Staatsarchiv Hamburg 133-1 II, 26819/38 Geschäftsakten betr. Straßennamen B. Die große Umbenennung hamb. Straßen 1938-1946. Ergebnisse der Umbenennung in amtlichen Listen der alten und neuen Straßennamen vom Dez. 1938 und Dez. 1946)
Rudolf Virchow war der Sohn von Johanna Maria Virchow, geborene Hesse und des Kämmerers Carl Christian Siegfried Virchow.
Verheiratet war er seit 1850 mit der knapp elf Jahre jüngeren Ferdinande Amalie Rosalie Mayer (29.2.1832 – 21.2.1913). Kennengelernt hatte er die damals 17-Jährige bei seinen Besuchen bei ihrem Vater, dem Gynäkologen Karl Wilhelm Mayer, der 1844 die Gesellschaft für Geburtshilfe in Berlin gegründet hatte.
Virchows Idealbild von einer Frau beschrieb er in einem Vortrag „über Krankheiten der Frau im Kindbett, den Virchow am 11., Januar 1848 vor der von seinem künftigen Schwiegervater gegründeten Gesellschaft für Geburtshülfe hielt (…). Hier fand sich eine eigentümliche Spannung zwischen romantischer Verklärung und biologischer Determinierung“1), schreibt Constantin Goschler in seiner Biographie über Virchow und zitiert aus der Rede folgende Passage: „(…) die süsse Zartheit und Rundung der Glieder bei der eigenthümlichen Ausbildung des Beckens, die Entwicklung der Brüste bei dem Stehenbleiben der Stimmorgane, jener schöne Schmuck des Kopfhaares bei dem kaum merklichen, weichen Flaum der übrigen Haut, und dann wiederum diese Tiefe des Gefühls, diese Wahrheit der menschlichen Anschauung, diese Sanftmuth, Hingebung sind Treue – kurz, Alles, was wir an dem wahren Weibe Weibliches bewundern und verehren, ist nur eine Despendenz des Eierstocke.“1)
Da Virchow die Ursache für das von ihm gelobte und verehrte Verhalten von Frauen in den Eierstöcken sah, folgerte er daraus: „Man nehme den Eierstock hinweg, und das Mannweib in seiner hässlichsten Halbheit mit den groben und harten Formen, den starken Knochen, dem Schnurrbart, der rauhen Stimme, der flachen Brust, dem missgünstigen und selbstsüchtigen Gemüth und dem schiefen Urtheil steht vor uns.“ 2)
Was den eigentlichen Geschlechtsakt betraf, so glaubte auch Virchow – wie so viele Männer und Gelehrte vor und nach ihm -, dass der Samen des Mannes „der eigentliche Träger die Lebenskraft [sei], welcher der weiblichen Eizelle, die bislang lediglich eine ‚lebensfähige Zelle‘ gewesen sei, durch die Vereinigung ‚wirkliches, selbständiges Leben‘ verleihe. In dieser Konzeptionalisierung des weiblichen Körpers fungierte der männliche Samen als Erlöser des weiblichen Eies, das erst durch die Vermengung mit dem männlichen Prinzip die Qualität selbständigen Lebens erhielt“, 3) so Constantin Goschler.
Virchow beschäftigte sich auch mit der „Frauenfrage“, die damals innerhalb und außerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung diskutiert wurde und bei der es u. a. um die Möglichkeit der Berufstätigkeit für bürgerliche Frauen ging, was viele Frauen der bürgerlichen Frauenbewegung, aber auch eine Reihe von Politikern und Wissenschaftlern befürworteten und verlangten. Virchow vertrat nach wie vor das traditionelle patriarchale Frauenbild und blieb zum Beispiel ein Gegner des Frauenstudiums. So war er auch dagegen, dass Frauen Medizinerinnen wurden. Constantin Goschler schreibt: „In einem öffentlichen Vortrag am 20. Februar 1865 im Hörsaal des grauen Kloster in Berlin mit dem Titel ‚Ueber die Erziehung des Weibes für seinen Beruf‘, den er für den ‚Verein für Familien- und Volkserziehung‘ hielt, fasste Virchow seine Auffassung vom Verhältnis der Geschlechter zusammen. (…) ‚Mag der Vater das Haupt der Familie bilden, so muss doch die Mutter den Mittelpunkt derselben bilden; sie soll sein die eigentliche Vertreterin des Hauses, zu der Alles, auch der Vater, wenn er Amt und Geschäft besorgt hat, ‚heim‘ kehrt. (…) Zwar schloss Virchow nicht gänzlich aus, dass Frauen künftig auch an der ‚Lösung der allgemeinen Aufgaben des Menschengeschlechts selbstthätig den ihm gebührenden Antheil‘ nehmen könnten. Der ‚natürliche Beruf des Weibes überhaupt‘ sei jedoch keinesfalls ‚auf den Markt des öffentlichen Lebens zu treten‘, sondern die Erziehung der Kinder, wodurch sie dadurch prädestiniert sei, dass ‚die natürliche Organisation (…) bei dem Weibe im Allgemeinen der kindlichen näher steht als bei dem Manne‘. Die ‚Erziehung des Weibes für seinen Beruf‘ bedeutete, kurz gesagt, ‚Erziehung des Weibes für das Haus‘, was die Voraussetzung der ‚Erziehung des Weibes für den Mann‘ und schließlich der ‚Erziehung des Weibes für die Gesellschaft‘ darstellte.‘“ 4)
Rosa Virchow war nicht glücklich in ihrer Ehe. Sie fühlte sich wertlos. Um sie aufzumuntern, machte Virchow ihr die Rolle der Hausfrau und Mutter schmackhaft, indem er ihr deren wichtige Bedeutung für ihn herausstrich. So schrieb er ihr von einer Forschungsreise: „dass Du mir dabei mächtig hilfst, indem Du mir erlaubst, viele Sorgen des Zuhauses u. der Familie auf dich abzuwälzen. Es ist das eine schwere Last für dich, das verkenne ich gewiss nicht, mein Herz, aber ich denke, es muss auch immer eine Befriedigung für dich sein, zu wissen, dass Du damit mir die Möglichkeit schaffst, in meiner Weise thätig zu sein. (…) Du empfindest das ja auch, nur willst Du es dir nicht selbst gestehen‘ (…) ‚Vieles von dem, was dir jetzt in deinem Thun werthlos erscheint, wird dir wichtig werden, wenn Du dich als die treue Helferin deines Mannes behauptest, u. wenn ich dir aus vollem Herzen die Versicherung gebe, dass Du mir als eine solche erscheinst, so musst Du mir auch glauben.‘“ 5)
Doch all diese Appelle an seine Frau schienen bei ihr nicht zu fruchten, denn er musste sie öfter wiederholen.
Warum Rosa Virchow ihre Erfüllung nicht im Hausfrauen- und Mutterdasein sah und diese Arbeit nicht als wertvoll empfand, wird in der Literatur nicht geäußert. Vielleicht hätte man dies aus ihren Briefen an ihren Mann entnehmen können, doch diese sind verschollen. Nur die Briefe Virchows an seine Frau sind erhalten und wurden in zwei dicken Bänden veröffentlicht, wobei eine der Töchter des Ehepaares Virchow behilflich war, diese zu veröffentlichen. Wurden die Briefe von Rosa Virchow an ihren Mann als nicht wert befunden, diese der Öffentlichkeit zugänglich zu machen? Und gelten sie deshalb als verschollen? Wenn dem so sei, wäre hier eine Bestätigung dessen zu finden, worunter Rosa Virchow, wie Constantin Goschler vermutet, litt: an der geringen Wertschätzung, die die Gesellschaft ihr und ihrem Leben entgegenbrachte. Aber so war es gesellschaftlich und politisch gewollt. Goschler zitiert hierfür Wilhelm Heinrich Riehl (siehe: Riehlstraße), der damals äußerte: “Das Weib wirkt in der Familie, für die Familie; es bringt ihr sein Bestes ganz zum Opfer dar; es erzieht die Kinder, es lebt das Leben des Mannes mit (…) Auf den Namen des Mannes häufen sich die Ehren, während man gar bald der Gattin vergißt, die ihm diese Ehren hat mitgewinnen helfen.“ 6)
Die Rolle der Frau als Hausfrau und Mutter wurde den Frauen auferzwungen. Wollten bürgerliche Frauen berufstätig sein, so bitte nur als Kindergärtnerinnen und Krankenpflegerinnen, weil diese Berufe der „Natur“ der Frau als Hausfrau und Mutter entsprachen. Virchow und seine Zeitgenossen legitimierten diese Rollenzuweisung u. a. damit, indem sie betonten, dass auch den Männern ihre Rolle zugewiesen sei: sie hätten die Familie zu ernähren und in der Öffentlichkeit zu stehen. Bewusst „vergessen“ wurde allerdings dabei, dass sich die Männer des Bürgertums in der Regel aussuchen konnten, aus welchem Arbeitsfeld heraus sie diese Rolle repräsentieren wollten. Denn sie konnten meist aus einer breiten Palette von Berufen sowie gesellschaftspolitischen Bereichen, die ihnen genehmen Aufgaben und Berufe wählen, denen sie nachgehen und übernehmen wollten. So konnte sich Virchow Dank der in der bürgerlichen Gesellschaft sanktionierten Rollenzuweisungen der Geschlechter seinen Forschungen und Interessen hingeben und gleichzeitig seine Rolle als Ernährer und Hausvorstand der Familie erfüllen.
Rosa Virchow hingegen: „weinte oft und kränkelte. Zudem wurde sie von ihrem Schwiegervater abgelehnt, der ihr das in Briefen schriftlich mitteilte. Virchow versuchte zwischen beiden zu vermitteln und stellte sich dabei nicht eindeutig auf die Seite seiner Frau. Die Stimmung wurde besser, als sich der Kindersegen einstellte. Rose Virchow war nun weniger einsam, und ihr Schwiegervater verhielt sich freundlicher. Aus der Ehe von Rose und Rudolf Virchow gingen sechs Kinder hervor“7), geboren 1851, 1852, 1855, 1858, 1866, 1873.
An Rudolf Virchow erinnern in vielen deutschen Städten Verkehrsflächen, die nach ihm benannt sind. Einige Städte haben sich mit Rudolf Virchows wissenschaftlichen Forschungen zur „Entstehung der Arten“ beschäftigt. So schreibt der Beirat zur Überprüfung Düsseldorfer Straßen- und Platzbenennungen in seinem Abschlussbericht: „Rudolf Virchow zählt zu den großen Universalgelehrten der deutschen Geschichte; der Begründer der Zellularpathologie erweiterte nicht nur das medizinische Wissen, sondern setzte sich als liberaler Politiker auch für Sozialreformen und den wissenschaftlichen Fortschritt ein. Sein Interesse an anthropologischen und ethnologischen Fragestellungen und die daraus resultierenden Untersuchungen wirken aus heutiger Perspektive zum Teil als grotesker Irrtum, sind aber aus einer historisch-hermeneutischen Perspektive gerade für die Entwicklung anthropologischer Methoden und Theorien ihrer Zeit wichtig und produktiv.‘ (Schönholz, S. 20) Mit der Veröffentlichung von Charles Darwins Theorien zur Entstehung der Arten rückte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Abstammung des Menschen in den Mittelpunkt der Forschung; die sogenannte ‚Rassenkunde‘ etablierte die Vorstellung von biologisch determinierten ‚Menschenrassen‘. In diesem Zusammenhang befasste sich Rudolf Virchow wie viele seiner Kollegen vor allem mit der Vermessung und Katalogisierung menschlicher Schädelknochen, deren Form Aufschluss über Herkunft, äußere Einflüsse und rassische Merkmale geben sollte. Als Vorsitzender der ‚Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte‘ (BGAEU) förderte der Mediziner nicht nur Forschungsreisen und Museumsgründungen, sondern ließ auch eine umfassende physisch-anthropologische Sammlung zusammentragen (z.B. Schädel und Skelette), deren Provenienz nach wie vor aufgearbeitet wird. Darüber hinaus beteiligte sich Virchow an sogenannten ‚Völkerschauen‘, auf denen außereuropäische Menschen- und Volksgruppen einem breiten Publikum vorgeführt wurden, und nutzte diese als Forschungspraxis. Obwohl Rudolf Virchow die von der Wissenschaft des späten 19. Jahrhunderts postulierten rassischen Ordnungskriterien durchaus als Arbeitshypothese einsetzte und Völker auf der Basis dieser Konzepte untersuchte, warnte er vor der zunehmenden gesellschaftspolitischen Vereinnahmung des Rassendiskurses und seiner sozialdarwinistischen Auslegung; das von ihm vertretene ‚Paradigma einer liberalen Anthropologie widersprach somit Auffassungen eines Kampfes zwischen höheren und niederen Rassen, in dessen Gefolge die letzteren verdrängt würden.‘ (Goschler, S. 334) In diesem Zusammenhang engagierte sich Virchow auch gegen die antisemitische Bewegung und kritisierte wiederholt die judenfeindliche Programmatik des Theologen Adolf Stoecker, der als Begründer der Christlich-Sozialen Partei (CSP) den Ausschluss der jüdischen Bevölkerung aus dem öffentlichen Leben forderte. Um die Verbreitung der ‚Menschenrassen‘ im deutschen Nationalstaat erfassen zu können, ließ die ‚Deutsche Anthropologische Gesellschaft‘ in den 1870er Jahren unter der Leitung von Rudolf Virchow die Haut-, Haar- und Augenfarbe von über sechs Millionen Schulkindern erfassen. Die über 70.000 Schüler jüdischer Herkunft wurden gesondert registriert, da die Theorie einer vermeintlich ‚germanischen‘ und einer ‚jüdischen Rasse‘ als Ausgangspunkt der Studie diente. Darüber hinaus unterschied man zwischen Merkmalen eines ‚blonden‘ und eines ‚brünetten Typus‘. Nach der Auswertung dieser Datensammlung stellte Virchow schließlich fest, dass der Großteil der Schüler keinem eindeutigen Erscheinungsbild entsprach und entkräftete auf diese Weise den in völkischen Kreisen vorherrschenden ‚reinrassigen‘ Germanenmythos. In der historischen Forschung wird der langfristige Einfluss dieser Studie auf die Geschichte des Antisemitismus kontrovers diskutiert. Ungeachtet der Tatsache, dass sich Virchow ‚von der Erhebung ein wissenschaftliches Argument gegen den aufkommenden Rassismus erhoffte‘ (Hess, S. 328), griffen Vertreter der nationalsozialistischen ‚Rassenhygiene‘ auf die Untersuchungspraktiken des Mediziners zurück, ‚während sie gleichzeitig seine Schlossfolgerungen verwarfen‘. (Goschler, S. 344) Aufgrund seines Engagements für die jüdische Bevölkerung verkörperte Rudolf Virchow im Dritten Reich ‚das ideale Feindbild für den Retter des deutschen Volkes‘ (Schönholz, S. 278f.) und wurde von der NS-Propaganda wiederholt diffamiert.“ 8)
Rudolf Virchow hatte auch Kontakt zu Amalie Dietrich, nach der in Hamburg eine Verkehrsfläche benannt ist (Amalie-Dietrich-Stieg) und ließ sich von ihr aus den Südseestaaten von ihr dort entwendete sterbliche Überreste und Knochen übersenden. „Rudolf Virchow sicherte sich bald nach der Übersendung (…) sowohl einen Großteil des Knochenmaterials als auch das Vorrecht an der Publikation der Untersuchungsergebnisse, denn diese in Kontinentaleuropa ersten vollständigen Skelette indigener Australier*innen waren als ‚sehr grosse Seltenheit‘ entsprechend umkämpft. Australien hatte im Kontext der ‚Knochenbeschaffung‘ immer eine bedeutende Rolle gespielt, insbesondere weil die indigenen Australier*innen im anthropologischen Diskurs der Zeit zu den ‚primitivsten‘ Vertretern der Menschheit gezählt und als geradezu paradigmatische ‚Wilde‘ betrachtet wurden – ‚auf einer der tiefsten Stufen der Cultur und fast aller Künstlerischen Neigungen bar‘.“9)