Seumestraße
Eilbek (1866): Johann Gottfried Seume (29.1.1763 Poserna – 13.6.1810 Teplitz), Dichter.
„Seume wurde im Jahre 1763 als Sohn des Landwirts und vormaligen Böttchers Andreas Seume und der Bauerntochter Regine Liebing geboren. Er besuchte die Dorfschule“ 1) und nach dem Tod des Vaters – Johann Gottfried Seume war damals 13 Jahre alt – „die Lateinschule des Rektors Korbinsky in Borna.“ 1)
Der Tod des Vaters stürzte die Witwe Regine Seume in finanzielle Not. Sie hatte nun allein ihre fünf Kinder zu versorgen, denn die wirtschaftlichen Verhältnisse in einem patriarchalen Gesellschaftssystem waren nicht so angelegt, dass alleinstehende Mütter, ohne in finanzielle Nöte zu geraten, ihr Auskommen und das ihrer Kinder ohne Weiteres sichern konnten. In einem patriarchalen Gesellschaftssystem hatte es eine Familie zu geben, in der es einen Hauptverdiener gab, den Ehemann. Starb dieser, stürzten viele Witwen in Not.
Regine Seumes Sohn Johann Gottfried wurde glücklicherweise vom Grafen Friedrich Wilhelm von Hohenthal zu Städteln unterstützt. So konnte er ein Gymnasium besuchen und danach studieren.
Doch wie so häufig bei Mäzenen und Förderern haben diese klare Vorstellungen davon, was mit ihrem gespendeten Geld geschehen soll(te). Seume sollte nach dem Wille seines Gönners Theologie studieren, um Pfarrer zu werden. So begann Seume 1780 ein Studium der Theologie.
„Doch schon bald plagten den Achtzehnjährigen Glaubenszweifel. (…) Seume fasste den Entschluss, Deutschland zu verlassen, um in Metz die Artillerieschule zu besuchen.
Ende Juni 1781 machte er sich auf den Weg nach Frankreich, doch schon am dritten Tag ‚übernahm trotz allem Protest der Landgraf von Kassel, der damalige große Menschenmäkler, durch seine Werber die Besorgung [seiner] ferneren Nachtquartiere.‘ Seume sollte als Soldat für den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg an Großbritannien vermietet werden (…).
Nach einer zweiundzwanzigwöchigen Überfahrt in der drangvollen Enge eines englischen Transportschiffes, (…) kamen die hessischen Soldaten in Halifax an, wo sie auch stationiert blieben und im Krieg nicht mehr eingesetzt wurden. Seume musste, anfänglich neben seinen militärischen Dienstpflichten, ‚ins Joch als Schreibersknecht‘ hatte jedoch in seiner dienstfreien Zeit auch die Möglichkeit zu jagen und zu fischen. (…)
Die klassische Bildung und das dichterische Talent des Bauernsohnes Seume beeindruckten den vier Jahre älteren Offizier Karl Ludwig August Heino von Münchhausen. Zwischen den beiden entwickelte sich eine Freundschaft, durch die Seume Aufnahme in einen kleinen Kreis von Offizieren fand. Nach der Unterzeichnung des Friedens von Paris im September 1783 erfolgte der Rücktransport der Truppen nach Europa und Seume nutzte die Ankunft in Bremen für einen Fluchtversuch.“ 2)
In der Neuen Deutschen Biografie heißt es über den weiteren Lebensweg Seumes: Seume geriet nach der Flucht aus dem Militärdienst: „in die Fänge des preuß. Militärs, für das er fortan in Emden Dienst tun mußte. Nach einer gescheiterten Flucht und Haftstrafe wurde ihm im Sommer 1787 Urlaub gewährt, den er zur Rückkehr nach Leipzig nutzte, wo er seit Dez. 1789 Jura und nebenbei Philosophie, Philologie und Geschichte studierte.
Nach einem Intermezzo als Hofmeister sowie Promotion zum Magister artium (1791) und Habilitation (1792) trat S. als Sekretär des Generals Otto Heinrich v. Igelström in russ. Dienste, wurde 1793 zum Leutnant befördert, geriet dann aber beim Warschauer Aufstand Ostern 1794 in poln. Gefangenschaft. Nach der Rückeroberung Warschaus im Nov. 1794 und der dritten poln. Teilung 1795 kam er wieder nach Leipzig, befolgte aber einen Befehl zur Rückkehr nach Rußland nicht und wurde deshalb im Dez. 1796 aus der Armee ausgeschlossen. Vom Sommer 1797 an arbeitete S. als Korrektor in der Druckerei des befreundeten Verlegers Georg Joachim Göschen (1752–1828) in Grimma, für den er u. a. Werke von Friedrich Gottlieb Klopstock [siehe: Klopstockstraße] und Christoph Martin Wieland [siehe: Wielandstraße] betreute.“ 3)
Seume, der in Leipzig schließlich als Sprachlehrer und Schriftsteller ein kleines Auskommen hatte, unternahm mehrere große Reisen, die er literarisch verarbeitete. Seine Reise 1801 zu Fuß nach Sizilien verarbeitete er in seiner Schrift „Spaziergang nach Syrakus“.
Eine weitere Reise, die er 1805 unternahm und ihn nach St. Petersburg brachte, fand Eingang in seiner Veröffentlichung „Mein Sommer“. „1808 erkrankte S. an einem langwierigen Nieren- und Blasenleiden. Mit geliehenem Geld suchte er im Juni 1810 Heilung im böhm. Bad Teplitz, wo er zehn Tage nach seiner Ankunft starb.“3)
Dirk Sangmeister erklärt 2010 in der Neuen Deutschen Biographie worauf sich Seumes Ruf begründet: „(…). S.s heutiger Ruf gründet sich v. a. auf seinen ‚Spaziergang‘, der aus der fast schon pikoresk zu nennenden Perspektive des vorsätzlich zu Fuß Reisenden geschrieben ist, dessen Augenmerk nur beiläufig der Kunst und Kultur Italiens gilt, dafür umso mehr dem eigenen Ergehen, dem alltäglichen Leben und politischen Mißständen. Obwohl S. nicht der erste Schriftsteller der Zeit war, der planvoll längere Fußreisen unternahm, wurde sein betont eigenwilliger ‚Spaziergang‘ ein wegweisendes Werk für Autoren vom frühen 19. bis zum späten 20. Jh., (…).
Lange Zeit kaum rezipiert, wurden S.s ‚Apokryphen‘, eine Sammlung von Aphorismen und Glossen zur Geschichte der Jahre 1806/07, die wegen ihrer politischen Freimütigkeit nicht gedruckt werden konnte, postum 1811 im Anhang zur dritten Auflage des ‚Spazierganges‘ versteckt veröffentlicht, allerdings aus Angst vor der Zensur vorsorglich verstümmelt. Diese Notate und Sentenzen verbinden eine schonungslose Analyse der feudalistisch-absolutistischen Strukturen des gerade untergehenden Hl. Röm. Reichs dt. Nation mit scharfer Kritik an der Selbstherrlichkeit Napoleon Bonapartes.
Während S. postum im Zuge der Befreiungskriege [siehe zum Thema Befreiungskriege unter: Schillstraße, R. B.] in deutschnationalem Sinne vereinnahmt wurde, erkaltete im Laufe des 19. Jh. das von S. selbst kultivierte Bild des wortkargen und etwas kauzigen, dabei stets aufrechten und wahrheitsliebenden Wandersmannes zu einem biedermeierlich verbrämten Klischee. Erst durch Werner Kraft, der 1962 S.s ‚Prosaschriften‘ neu herausgab, wurde der politische Schriftsteller S. (wieder-)entdeckt, der sowohl aufgrund seiner wechselvollen Schicksale als auch seines bis heute lebendigen Prosawerks einen Sonderplatz in der dt. Literatur der Spätaufklärung einnimmt.“ 3)
Seume blieb ledig. Zweimal war er unglücklich verliebt: 1795 in Wilhelmine Röder und 1804 in die zwanzig Jahre jüngere Johanna Loth. Wilhelmine Röder (1777-1813) war eine reiche Bürgerstochter, Tochter des Leipziger Kaufmanns Christian Friedrich Röder und dessen Ehefrau. 1796/97 brach Seume die Beziehung zu ihr ab, denn ihr Vater war strikt gegen diese Verbindung und drängte Seume zur Aufgabe der Liebesbeziehung. Wilhelmine Röder heiratete ein Jahr später, 1798, den standesgemäßen Seidenwarenhändler George Henri Favreau, der finanziell auch in der Lage war, eine Familie „zu ernähren“.
Auch um seine unglückliche Liebe zu vergessen und um von ihr Abstand zu gewinnen, unternahm Seume 1801 seine Wanderung nach Syrakus. „Und hat er sich in Palermo wirklich so weit von Wilhemina entfernt, als er ihr madonnengleiches Bild, das er immer am seidenen Faden über dem Herzen trägt, bei einem Sturz zerbricht und in den Abgrund wirft? ‚Ehemals wäre ich dem Bildchen nachgesprungen; noch jetzt dem Original.‘ Auch seine zweite große Reise 1805: Verdrängung.
Johanna Loth, viel zu jung und zu reich für ihn, sie muss desgleichen standesgemäß einen Kaufmann heiraten. ‚Jeder Mensch hat seine eigenen heiligen Tage, Bonaparte wie der Papst; also auch ich. Du kannst zwischen dem fünf und zwanzigsten und dem siebzehnten aussuchen, welchen du willst, und wirst in der Mitte wohl nicht sehr irren.‘ Der 25. ist Geburtstag Wilhelmina Röders, der 17. Geburtstag der Mutter, der 21. Geburtstag Johanna Loths.“ 4)
Thomas Meissner schreibt über den Charakter Seumes und seine Beziehung zu Frauen: „Der nur 1,50 bis 1,55 Meter große Seume scheint kein unkomplizierter Zeitgenosse gewesen zu sein. Seine Direktheit und Unverblümtheit, verbunden mit politisch zunehmend radikalen Ansichten, störten den gedämpften Ton geselliger Konversation, und der Ruf der Verschlossenheit und Misanthropie eilte ihm voraus, obwohl er durchaus umgänglich sein konnte. Ein Moment asketischer Radikalität spricht aus dem Selbstporträt, das Seume gegenüber Gleim entwirft: ‚Ich trinke keinen Wein, keinen Kaffee, keinen Liqueur, rauche keinen Tabak, und schnupfe keinen, eße die einfachsten Speisen, und bin nie krank gewesen, nicht auf der See und unter den verschiedensten Himmelstrichen. Meine stärkste Ausgabe ist Obst. Ich habe weder in Amerika noch in Rußland einen Pelz getragen: meine Panazee (Allheilmittel) ist Diät und Bewegung.‘
Es verwundert nicht, daß dieser Einzelgänger zeitlebens Junggeselle geblieben ist. Über weite Strecken seines Lebens hatte Seume weder das Einkommen noch die Ortsgebundenheit, um eine Familie zu ernähren, und seine wenigen ernsthaften Bemühungen galten sehr viel jüngeren Schönheiten aus gutem Hause, die schon aufgrund ihres sozialen Ranges kaum für ihn in Frage gekommen wären. (…).“ 5) So litt also auch ein Mann unter dem patriarchalen Gesellschaftssystem.
Zu den Briefen, die Seume an seine Angebeteten schrieb, heißt es bei Matthias Richter: „Die Briefe an die geliebten Frauen - erst Wilhelmina Röder, dann, acht Jahre später, Johanna Loth, beide jung und reich und für den mittellosen russischen Leutnant a. D. unerreichbar: Welch heroische Versuche, die überwältigenden Gefühle und die Verzweiflung über die Zurückweisung, die Seume an den Rand des Selbstmords brachte, in einem nicht endenden Schwall männlich-fest wirken sollender Satzkaskaden zu bändigen! Und gleich darauf, nach der Katastrophe mit Johanna Loth, wieder solche lakonischen Notizen wie an seinen Verleger Hartknoch - Seume nennt ihn ‘Lieber Freund‘: ‚Es ist in meinem innern moralischen‘ - warum moralischen? – ‚Wesen ein kleiner Vorfall geschehen, der mich schnell bestimmt hat, mit dem Eintritt des Frühlings den Sommer über eine Ausflucht zu suchen.‘“ 6)
Stephan Maus gibt folgenden Einblick in Seumes Liebesleben: „Der Dichter war ein Rauhbein mit Talent für Männerfreundschaften. Für den Umgang mit Frauen fehlte ihm leider die Begabung. Mit dreiunddreißig zeigte er zum ersten Mal ordentlich Gefühl: ‚Apropos, ich bin zum erstenmal in meinem Leben ordentlicherweise verliebt.‘ Er ist ratlos, das Gefühl ist ja auch zu sonderbar: ‚Ich weine wohl nicht, aber meine Augen brennen und eine hohe Glut fährt elektrisch durch meinen Nacken.‘ Sobald er einen Briefbogen für die Dame seines Herzens unter dem elektrisierten Federkiel hatte, packte den sonst so Gefaßten die ‚Schwärmerey‘, und er schwärzte und schwärmte Seite um Seite. Nach zwei, drei Briefen äußert er einen Kinderwunsch. Sein Leben lang hat er erfolgreich alle Frauen verschreckt. Aber wer hätte schon mit dem Unikum ‚tornistern‘ wollen? Die Libido trieb ihn zu den erstaunlichsten Seltsamkeiten. Als seine Angebetete Christiana Wilhelmina Röder heiratete, schrieb er ihrem Ehemann einen Brief, in dem er dem Konkurrenten eine Gebrauchsanweisung für die Gattin mitgibt: ‚Sie hat Fehler: sie kann hassen, verzeiht nicht leicht, und ist leichtsinnig. Sie haben keinen leichten Gang mit ihr.‘“ 7)
Seume und Kolonialismus
Christoph Hamann von der Bergischen Universität Wuppertal behandelt in seinem Beitrag: „‘Lesen, was da steht und was da nicht steht.‘ Edward W. Said und die deutschsprachige Literatur des 19. Jahrhunderts“ auch das Buch von Axel Dunker: „Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts. München 2007“, der u. a. auch Seumes Werke – wie sein „Schreiben aus America nach Deutschland“ (1789), das Gedicht „Der Wilde“ (1793) und die Autobiografie „Mein Leben“ (1810)) auf koloniale Spuren untersucht hat. So schreibt Christoph Hamann: „An Seume, der – nicht gerade die Regel damals – außereuropäische Kulturkontakte aus eigener Anschauung kannte, arbeitet Dunker ‚die ganze Ambivalenz des späten 18. Jahrhunderts im Umgang mit dem interkulturell Anderen‘ (S. 19) heraus: Diese besteht in der aufklärerischen Kritik am Verhalten der weißen Kolonisten und der ‚Idealisierung‘ des ›edlen Wilden‹ (S. 26) einerseits, andererseits in einer spezifischen Art und Weise, Begegnungen mit der anderen Kultur, insbesondere mit einheimischen Frauen, zu beschreiben (vgl. S. 29) – diese lässt eine Überlegenheit der eigenen Kultur gegenüber der fremden deutlich werden.“ 8)
Über Seumes Bild vom „Indianer“ in seiner Schrift heißt es in dem Wikipedia-Eintrag „Indianerbild im deutschen Sprachraum“: „Der deutsche Nationalismus positionierte sich als alternatives Rollenmodell zu den kolonialen Weltreichen jener Zeit und der römischen Zeit und vermittelte das Ideal eines colonizer loved by the colonized (geliebten Kolonialisten). Die Indianergeschichten dienten zum Transport verschiedener Männlichkeitsbilder, die mit den indianischen Helden verbunden wurden. Ein frühes Beispiel ist Johann Gottfried Seumes Gedicht Der Wilde. Seume war als hessischer Söldner in Amerika und Kanada und beschrieb Begegnungen mit Indianern im autobiographischen Bericht Mein Leben. Seine Bewunderung für die natürliche Ungezwungenheit der Einwohner schlug sich in seinem oft zitierten Worten nieder: ‚Ein Kanadier, der Europens übertünchte Höflichkeit nicht kannte …‘. Der‘„edle und rauhe‘ Wilde im Bärenfell, der die aufgesetzte, falsche Höflichkeit der englischen Kolonisten passend quittiert und sich in die Büsche schlägt, war Projektionsfigur für das deutsche Selbstverständnis.“ 9)