Borchertring
Steilshoop (1973): Wolfgang Borchert (20.5.1921 Hamburg -20.11.1947 Basel), Schriftsteller. Mitbenannt im April 2024 nach seiner Mutter Hertha Borchert (17.2.1895 Altengamme – 26.2.1985 Hamburg), niederdeutsche Schriftstellerin.
Siehe auch: Ida-Ehre-Platz
Siehe auch: Wolfgang-Borchert-Park

Nicht nur eine Verkehrsfläche, sondern auch Denkmäler erinnern in Hamburg an den Hamburger Schriftsteller Wolfgang Borchert, so z. B. an der Eppendorfer Landstraße und an der Außenalster in Hamburg-Uhlenhorst.
Weltberühmt wurde er durch sein Stück „Draußen vor der Tür“, dass im November 1947 in den Hamburger Kammerspielen uraufgeführt wurde. Marc-Oliver Rehrmann begab sich in einem NDR-Info auf die Spur von Wolfgang Borchert und sagt über das Stück „Draußen vor der Tür“: „Es ist das Drama über einen Kriegsheimkehrer namens Beckmann, der sich im zerstörten Hamburg nicht zurechtfindet. Wolfgang Borchert erlebte die erste Bühnenversion seines Stückes nicht mehr, er starb nach schwerer Krankheit am Tag zuvor in Basel - im Alter von 26 Jahren. (…) Borchert war durch und durch Hamburger. Dort geht er zur Schule. 1939 beginnt er eine Lehre in der Hamburger Buchhandlung Boysen, bricht diese aber Ende 1940 ab. 1941 wird er als 20-Jähriger an die russische Front geschickt. Durch eine Schussverletzung im Februar 1942 verliert er einen Finger. Ihm wird daraufhin der Prozess gemacht. Der Vorwurf: Er habe sich die Verletzung selbst zugefügt. Es folgen zwei weitere Prozesse wegen abfälliger Bemerkungen über das NS-Regime. Borchert entgeht der Todesstrafe, muss aber während der Verfahren viele Monate in Haft verbringen. Im Frühjahr 1945 wird der Soldat Borchert von französischen Truppen bei Frankfurt gefangengenommen, ihm gelingt die Flucht. Zu Fuß schlägt er sich rund 600 Kilometer bis nach Hamburg durch. Dort kommt er am 10. Mai 1945 an, zwei Tage nach Kriegsende. an seinen Leiden aus den Kriegsjahren sollte sich Borchert nie erholen. Mehrmonatige Krankenhaus-Aufenthalte in Hamburg brachten keine Besserung.
Lange Zeit empfing er seine Besucher deshalb vom Krankenbett aus - schwer gezeichnet von der Gelbsucht: (…). Zwei Monate vor seinem Tod reiste Borchert in ein Sanatorium in der Schweiz. Aber auch die Ärzte dort konnten ihm nicht mehr helfen. Germanistik-Professor Winter ist sich sicher, dass Borchert auch in Zukunft gelesen wird. In vielen Bundesländern stehen seine Kurzgeschichten auf dem Lehrplan der Schulen. ‚Und Friedensbewegungen zitieren Borchert seit Jahrzehnten, zuletzt auch bei den Protesten gegen den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan.‘ Denn Borchert gelte zurecht als Antikriegs-Autor.“ 1)
Wolfgang Borcherts tabellarischer Lebenslauf ist auf der Seite der Internationalen Wolfgang-Borchert-Gesellschaft e. V. nachzulesen unter: www.borchertgesellschaft.de/wolfgang-borchert/zeittafel/
In seinem Dossier Straßen- und Platznamen mit antisemitischen Bezügen in Berlin, das der Historiker Felix Sassmannshausen im Auftrag des Landes Berlin erstellt hat, geht er auch auf Wolfgang Borchert ein und schreibt: "Borchert trug zur Relativierung der Shoah bei, indem er sie mit der Situation der Vertriebenen nach 1945 verglich und implizierte Parallelen zog." (Felix Sassmannshausen: Straßen- und Platznamen mit antisemitischen Bezügen in Berlin. Erstellt im Auftrag des Ansprechpartners des Landes Berlin zu Antisemitismus. Stand: Oktober 2021. Hrsg. Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung Landesstelle für Gleichbehandlung - gegen Diskriminierung (LADS), Berlin 2021, S. 186., unter: www.welt.de/bin/Dossier_bn-235636290.pdf
Wolfgang Borcherts Mutter
Wolfgang Borcherts Vita wird im Wikipedia-Eintrag wie folgt eingeleitet: „Wolfgang Borchert wurde als einziges Kind des Volksschullehrers Fritz Borchert und dessen Ehefrau, der plattdeutschen Heimatschriftstellerin Hertha Bochert, in Hamburg-Eppendorf geboren. Während der Sohn zeitlebens ein sehr enges Verhältnis zur Mutter hatte, soll das Verhältnis zum später kränkelnden Vater konfliktbeladen gewesen sein. Sowohl die Sehnsucht nach der Mutter als auch schwache und hilflose Vaterfiguren sind häufige Motive in Borcherts späterem Werk.“ 2)
Wolfgang Borcherts Mutter Hertha, geb. Salchow war Vierländer Schriftstellerin. Aber in erster Linie kennt man sie als Wolfgang Borcherts Mutter, die ihr Leben in den Dienst des Werks ihres Sohnes stellte. Und so sah sie sich auch selbst: Winn ick jo’n Freid moken kann, will ick dat woll noch mol mit Plattdütsch verseuken. Ober gläuvt man nich, datt dat so einfach is för’n Froo in mien Johren. Wat ick all in’n Kopp hebben mutt, bie datt, wat hier all an’t Hus randrifft, dat möt jü ook man bedinken. Ober dor hebbt jü gewiß keen Ohnung to. Dat geiht hier bie mi op französisch,op italienisch, op chinesisch, op japonisch, op griechisch, un ut Portugal kummt se ook un ut Ingland un Amerika usw. Je, un winn ick disse Fründ’n, de all dör Wolfgang, dör unsen Jung, in’t Hus kummt un dat nich so licht hebbt mit uns’ hochdütsche Sprok, nu ook noch mit Plattdütsch kummen wull, dinn warrt se je ganz un gor brägenklüterig, – ´nog, datt se unsen Jung verstoht, uns’ Hochdütsch.“ 3)
Hertha Salchow wurde am 17. Februar 1895 in den Vierlanden im Schulhaus in Altengamme als fünftes Kind des dortigen Lehrers Carl Salchow geboren. Bald zog die Familie ein Stück weiter in das Schulhaus in Kirchwerder. Hertha war der Nachkömmling der Familie, eine uninteressierte und schlechte Schülerin, die aber als einzige in der Familie ein echtes Vierländer Platt beherrschte. Sie liebte die Landschaft und die Menschen ihrer Heimat.
Als der Junglehrer Fritz Borchert aus Mecklenburg auftauchte, war Hertha ganze 16 Jahre alt. Die beiden verliebten sich ineinander, und Hertha machte die beglückende Erfahrung, dass es einen Menschen gab, der sich nicht daran störte, dass sie selbst in der Dorfschule kaum mitgekommen war: „Ja, es war ein Ereignis geschehen, und das Ereignis war gravierend und umwälzend, ich war nicht mehr allein. Und das war für mich das Außergewöhnliche an diesem Ereignis, dass Wissen und Nichtwissen kleingeschrieben war, denn das Ereignis hatte mich gewählt, so wie ich war“, 4) schreibt Hertha Borchert in ihren Lebenserinnerungen. Bald merkte sie jedoch, dass es etwas für ihn gab, an dem sie keinen Anteil hatte: die Welt der Bücher. Er versuchte, sie durch Vorlesen behutsam an diese Welt heranzuführen, sie versuchte, ihn darüber zu täuschen, dass sie sich dabei langweilte. Dennoch war da so viel Gemeinsames, dass sie beschlossen zu heiraten.
Die Aufnahme im Hause der zukünftigen Schwiegereltern war so unfreundlich, dass das junge Mädchen einen Schock erlitt, der sich über viele Jahre in zeitweiligen Zuständen der Apathie wiederholte. Aber auch die eigenen Eltern zeigten weinig Begeisterung, weil Hertha zu jung und Fritz ohne feste Anstellung war. Sie verlangten eine Wartezeit von zwei Jahren, in der Hertha eine Haushaltsschule in Winsen besuchte, um Kochen und Nähen zu lernen, und Fritz Borchert in einer Volksschule in Hamburg-Eppendorf unterrichtete, wohin er auf Veranlassung von Herthas Vater versetzt worden war.

Am 29. Mai 1914 war es dann soweit: Im Schulhaus wurde eine große Hochzeit gefeiert. Danach zog das Paar in die Tarpenbekstraße 82 in Hamburg-Eppendorf, wo später auch der Sohn Wolfgang geboren wurde. Für die junge Frau begann ein neues Leben.

Nicht ohne ein gewisses Zaudern hatte sie die ländliche Umgebung gegen eine Etagenwohnung im Hamburger Stadtgebiet getauscht, die „Lüd‘ vun `n Diek“ gegen den Freundeskreis ihres Mannes: die Maler Paul und Martin Schwem, den Barlach-Freund Friedrich Schult, den Bildhauer Opfermann, den Pädagogen und Schriftsteller Höller und Karl Lorenz, den Graphiker, Schriftsteller, Dadaisten und Gründer der Zeitschrift „Die rote Erde“, in der u. a. expressionistische Autoren und Maler veröffentlichten. Sie fühlte sich wohl in diesem Boheme-Kreis, wollte mitreden können. Sie begann – zunächst in halbstündigen Etappen – sich durch die gesamte Geschichte durchzukämpfen, angefangen bei der Völkerwanderung! Dann machte sie sich an die Literatur, las querbeet Droste-Hülshoff, Dehmel, Falke, Tieck, Hölderlin, Stifter und lernte Dada-Gedichte auswendig, weil sie die am leichtesten behalten konnte. Ihr Mann war ihr ein unermüdlicher Helfer; kein Lehrer, ein formender Künstler, wie sie schreibt.
Der Erste Weltkrieg brach aus. Fritz Borchert musste wegen einer Sehschwäche zwar nur als Sanitäter ins Hinterland, ruinierte seine Gesundheit aber dennoch. Die Welt der Kunst wurde für das Ehepaar zum „Fluchtpunkt und Ausweg“ 5). Sie erwarben ein Erstaufführungsabonnement für die nach Kriegsende als Alternative zum Schauspielhaus gegründeten Hamburger Kammerspiele am Besenbinderhof, wo vornehmlich zeitgenössische, oft avantgardistische Theaterstücke gespielt wurden, und traten dem „Freundeskreis der Hamburger Kammerspiele“ bei. Ein neuer Kreis um den Schriftsteller und Redakteur der „Hamburger Zeitung“ H. W. Fischer, zu dem der Bildhauer Wield, die Tänzerinnen Jutta von Collande, Gertrud und Ursula Falke, der Dichter Robert Walter und Carl Albert Lange gehörten, öffnete sich ihnen. Man las gemeinsam moderne Dramen und diskutierte. Was Hertha Borchert schon im Umfeld Schwemers gewundert hatte, verstand sie auch hier nicht: was fanden alle diese Künstlerinnen und Künstler an ihnen, dem bürgerlichen Paar, dass sie es als Freunde betrachteten?
Im siebenten Ehejahr meldete sich das langersehnte Kind an: „Ich war längst nicht mehr das frische Landmädchen. Ich war blaß geworden und sehr empfindsam. Es wurde deutlich, daß ich diese 7 Jahre zu meiner Entwicklung gebraucht hatte.“6)
Mit der Geburt des Sohnes Wolfgang am 20. Mai 1921 begann die wohl glücklichste Zeit im Leben Hertha Borcherts, wie sie aus dem Rückblick meint. Man lebte sehr nahe zu dritt beieinander, der Freundeskreis kam jetzt ins Haus. Die Bildhauerin Lola Töpke (ihr Grabstein steht im Garten der Frauen auf dem Ohlsdorfer Friedhof), die später von den Nationalsozialisten, vermutlich am 6. Dezember 1941, nach Riga deportiert wurde, regte Hertha Borchert zum Modellieren in Ton an. Glaubte sie zunächst nicht an ihr Talent, arbeitete sie bald nächtelang wie besessen.
Dann kam Wolfgang in die Schule, sie war vormittags wieder alleine, fühlte sich einsam. Hinzu kam die Bangsche Krankheit, die sie sich auf einer Ferienreise durch das Trinken roher Milch zugezogen hatte und die sie oft, isoliert von der Außenwelt, fiebernd ans Bett fesselte. Bilder der Heimat tauchten auf. Die Anschaffung eines Schrebergartens bot keine Lösung, die körperliche Arbeit war zu schwer für Fritz und Hertha Borchert. Als der Freund Paul Schwemer mit Erleichterung das Scheitern des in seinen Augen ohnehin lächerlichen Unterfangens konstatierte, fing Hertha Borchert an, von ihrer Kindheit zu erzählen, von der Landschaft, von den Menschen und ihrer Art zu leben. Die beiden Männer hörten zunehmend gebannt zu, und Fritz Borchert beschwor seine Frau nicht nur, diese Geschichten aufzuschreiben, sondern schickte eine davon heimlich an die „Hamburger Nachrichten“, wo sie am 4. Dezember 1927 erschien: „Und ich schrieb in meiner Heimatsprache, wie ich dort draußen mit den Leuten sprach. Ich schrieb ganz hilflos in ein Schulheft – und diese erste Geschichte wurde gedruckt (…). Mir war nun geholfen. Ich vergaß die engen Zimmer und schrieb und trieb mich mit meinen Gestalten draußen an den Deichen herum.“ 7) In der Folge entstanden unzählige Geschichten, Gedichte und Hörfolgen auf Plattdeutsch, die im „Quickborn“ und in der „Mooderspraak“ gedruckt oder im Rundfunk ausgestrahlt wurden. Hertha Borchert gehörte fortan zu dem anerkannten Kreis niederdeutscher SchriftstellerInnen.
Mit diesem Erfolg wandelte sich auch ihr Umfeld: Aline Bußmann, Schauspielerin an der Niederdeutschen Bühne, die Hertha Borcherts Texte im Rundfunk las, Bernhard Meyer-Marwitz und Hugo Sieker, Redakteure des „Hamburger Anzeigers“, waren die neuen Freunde, die sie nicht mit ihrem Mann teilte: „Den Niederdeutschen Kreis hatte ich mir gewählt und in ihm stand man still und verläßlich auf der Erde. Und doch war dies die Welt, in der ich schöpferisch werden sollte. Mein Mann wurde jetzt Betrachter. Immer war er sonst der Initiator gewesen. Er war für mich mein Halt und die Geborgenheit. Die verbindende Atmosphäre blieb unangetastet. Das Leben spannungsgeladen hatte uns umgeformt, aber zu viel trug ich von ihm und eigentlich ging ich jetzt den sehr eigenen Weg, den er mir gebahnt hatte.“ 8) Sie wurde in die GEDOK (Gemeinschaft deutscher und österreichischer Künstlerinnen) aufgenommen, ein weiterer Schritt zur Selbstständigkeit.
Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten änderte Hertha Borcherts Leben zunächst nicht einschneidend. 1934 erschienen sechs unpolitische heitere Erzählungen unter dem Titel „Sünnroos un anner Veelanner Geschichten“ im 48. Band der Reihe „Plattdütsch Land und Waterkant“, die ein gutes Lebensbild der Zeit geben. 9) 1936 dann wurde Hertha Borchert von einem mißgünstigen Nachbarn, der lieber seine eigenen Arbeiten veröffentlicht sehen wollte, denunziert. Die Sache verlief glimpflich, es wurde Hertha Borchert jedoch nahegelegt, in die „Nationalsozialistische Frauenschaft“ einzutreten. Fortan hielt sie Lesungen in Ortsgruppen und reiste, als der Krieg ausgebrochen war, zwecks Truppenbetreuung wochenlang durchs Land. Der Sohn Wolfgang war inzwischen längst in die Fänge des nationalsozialistischen Machtapparats geraten. Schon im Frühjahr 1940 wegen des Verdachts der Homosexualität vorgeladen, wurde er 1942 wegen einer Verletzung an der linken Hand, die als Selbstverstümmelung an der Front ausgelegt wurde, unter Anklage gestellt, dann aber freigesprochen. Noch im selben Jahr wurde er in einem zweiten Prozess wegen mündlicher und brieflicher Äußerungen, die als Angriff auf den Staat gewertet wurden, zu vier Monaten Haft verurteilt. 1943, kurz vor seiner Entlassung als Frontuntauglicher aufgrund fortdauernder schwerer Krankheit, wurde er dann wegen einer Parodie auf Goebbels in der Jenaer Kaserne erneut eingesperrt. Die Eltern versuchten ihn durch Besuche zu stärken und ihm beizustehen.
Als am 10. Mai 1945 die Nachricht kam, Wolfgang sei aus französischer Ge-fangenschaft geflohen und habe sich bis zur Elbe durchgeschlagen, machte sich Hertha Borchert auf den Weg in die Vierlande. Als sie ihren Sohn auf dem Elbdeich sah, erkannte sie ihn nicht. Schwerkrank kehrte er nach Hause zurück. Die Familie wohnte seit der Denunziation durch den Nachbarn in Alsterdorf, in der Mackensenstraße 80 (heute Carl-Cohn-Straße). Nach Monaten des Hoffens und Bangens starb Wolfgang Borchert am 20. November 1947, einen Tag bevor sein Theaterstück „Draußen vor der Tür“ in den Hamburger Kammerspielen uraufgeführt wurde.
„Ich pflegte ihn zwei Jahr lang, und die Sorge um ihn schlug mir die Feder aus der Hand. Aber dafür blühte sein Werk auf. Er arbeitete mit einem fieberhaften Eifer, sodaß in unserer Wohnung für nichts anderes Raum war. Es war ein Erlebnis, ihm beim Schreiben zuzusehen. Jedes Wort, das er schrieb, war Befreiung aus innerster Not. Er zwang uns, sein Leben mitzuleben, und weil es so schnell und steil hinaufging, nahm es uns allen den Atem. Nach Wolfgangs Tod bleibt uns nur die Aufgabe, nach der Fülle dieses Schmerzes und dieses Glückes den Rest unseres Lebens auszurichten und unseres Sohnes Anklage an die Welt weiterzugeben“, 10) beschrieb Hertha Borchert 1948 ihre Profession. Die Eltern besuchten gemäß dem Vermächtnis ihres Sohnes anfangs fast alle Aufführungen von „Draußen vor der Tür“. Sie empfingen Besucherinnen und Besucher aus aller Welt, die ihnen nahe sein und von ihrem Sohn Wolfgang hören wollten, und folgten deren Einladungen.
Der Biograph Wolfgang Borcherts, Claus B. Schröder, 11) beurteilt das Verhältnis von Mutter und Sohn nicht so harmonisch. Aus dem Sachverhalt, dass die Trennung von der Mutter ein zentrales Motiv in den Dichtungen Wolfgang Borcherts ist, besonders der Text „Meiner Mutter zu meinem Geburtstag“, den er in der Nacht zu seinem 25. Geburtstag schrieb, schließt Schröder auf einen realen Mutter/Sohnkonflikt, eine nie wirklich gelungene Loslösung von der Mutter. Aber schon die Tatsache, dass das Motiv der Mutter bei Borchert zumeist mit dem Motiv der Geliebten verknüpft ist, lässt eher an die Sehnsucht nach einem paradiesischen Zustand des Einsseins denken, die leicht nachvollziehbar ist bei einem so jungen und sensiblen Mann, den die männerbündlerisch-faschistische Ideologie abstieß und der sich vollkommen isoliert fühlte.
Nach dem Tode ihres Mannes 1959 wusste Hertha Borchert zunächst nicht, wie es weitergehen sollte, doch bald sammelte sie ihre Kräfte und ging den gemeinsam begonnenen Weg im Dienste des Sohnes weiter: „Un winn se hier in `n Hus bie mi ankloppt, kummt Wolfgang jümmer weller mit jüm rin de Dör. So sünd se jümmer oberall dor mit bie, mien Jung und sein‘ Vatter. Ook op de anner Siet vun uns Erd‘, dor weuren se ook beide an mi, u nick nicht alleen.“ 12)
Am 26. Februat 1985, neun Tage nach ihrem 90. Gebrutstag, starb Hertha Borchert.“ Ihre letzte Ruhestätte fand sie auf dem Ohlsdorfer Friedhof neben ihrem Mann und ihrem Sohn – „am leichten Hang, nicht in Reih und Glied gezwungen“.
Text: Brita Reimers
Über die Rolle Herta Borchers in der NS-Zeit befasste sich der Historiker David Templin in seiner wissenschaftlichen Untersuchung zur NS-Belastung von Straßennamen. Er schreibt: „(…)
Als ‚Heimatdichterin‘ und Schriftstellerin, deren Arbeiten als ‚volkstümlich‘ angesehen wurden, konnte Borchert im ‚Dritten Reich‘ weiter veröffentlichen (u.a. auch in der NS-Zeitung Hamburger Tageblatt), zahlreiche Lesungen abhalten und bei literarischen oder niederdeutschen Abenden auftreten. Mögliche Hinweise, dass sie sich dabei völkischer oder nationalsozialistischer Ideologie bediente, ließen sich nicht ausmachen. Gerd Spiekermann zufolge gehörte sie zu jenen niederdeutschen Autoren, deren Beiträge im Rundfunk ‚vorrangig der abendlichen Unterhaltung, nicht einer möglichen Politisierung“ dienten. 1934 erschien Borcherts erste Buchveröffentlichung ‚Sünnroos un anner Veerlaner Geschichten‘, 1936 ihr erster Roman ‚Barber Wulfen‘. Als Mitglied des Quickborn wurde Borchert auch Mitglied im Kampfbund für deutsche Kultur und dem Reichsbund für Volkstum und Heimat. Im Dezember 1933 trat sie dem Reichsverband Deutscher Schriftsteller (RDS) bei. Im August 1935 kam es zur Denunziation Hertha Borcherts durch einen Nachbarn und Bekannten, den Lehrer Richard Kramer. Die Verbandsgauleitung des RDS informierte sie daraufhin in einem Schreiben über die Vorwürfe, die Kramer auch dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda gegenüber artikuliert hatte. Borchert sollte sich im März 1933 abfällig über die ‚Nazis‘ und SA-Leute geäußert haben. Ihre Familie nehme, so Kramer, ‚eine sonderbare Stellung der nationalsozialistischen Bewegung gegenüber ein‘. Vorgeworfen wurde ihr, an Feiertagen keine Hakenkreuzfahne zu hissen und bei Rundfunkansprachen den Radioapparat auszustellen. Zudem grüße ihr Sohn nicht mit dem Hitlergruß. Der stellvertretende RDS-Gauverbandsleiter Walter Gättke räumte Borchert die Möglichkeit zur Stellungnahme ein und nahm ihr literarisches Werk gegenüber Kramer als ‚volkstümlich und wurzelecht‘ in Schutz. Bereits vor diesem Vorfall waren anonyme Briefe denunziatorischen Inhalts beim Reichssender Hamburg, der Geschichten Borcherts ausstrahlte, eingetroffen.
Hinter der Denunziation Kramers vermutete Borchert Neid, da Kramer selbst vergeblich versucht hatte, eigene plattdeutsche Texte im Rundfunk zu veröffentlichen. Sie musste sich in der Folge vor einem Gremium verantworten, das sie freisprach. Sie selbst führte dies darauf zurück, ‚gute Freunde beim Sender‘ gehabt zu haben, darunter auch Nationalsozialisten wie Gättke.
Nach der erfolglosen Denunziation wurde Borchert laut ihren autobiographischen Aufzeichnungen ‚aufgefordert mich zu betätigen‘. Sie trat im Dezember 1935 der NS-Frauenschaft bei, der sie bis Kriegsende angehörte. Mitglied der NSDAP oder einer weiteren NS-Organisation wurde sie nicht. Spätestens seit 1936 hielt sie Lesungen u.a. bei Veranstaltungen von NSDAP-Ortsgruppen, der NS-Frauenschaft und der NS Kulturgemeinde Cuxhaven ab. Im Zweiten Weltkrieg wurde Hertha Borchert zur Wehrmachtsbetreuung eingesetzt, u.a. gab sie Lesungen vor verwundeten Soldaten in Lazaretten. Über 20 Jahre später beschrieb sie ihre Aktivitäten in dieser Zeit mit den Worten: ‚Jede Berührung mit der Außenwelt erforderte unsere ganze Kraft Es galt etwas vorzutäuschen.‘
In den Jahren des Zweiten Weltkrieges führte vor allem das Verhalten des Sohnes zu Konflikten mit dem NS-Regime. Wolfgang hatte sich in ihren Worten zum ‚rebellierenden Sohn‘ entwickelt, der seine Eltern zu den ‚Spießern um Hitler‘ rechnete und von diesen mehr Dissidenz einforderte. 1940 kam es zu einer Hausdurchsuchung der Gestapo bei den Borcherts, möglicherweise auf der Suche nach staatsfeindlichen Gedichten von Wolfgang. Laut ihren eigenen Angaben versteckte Hertha Borchert dabei ein ihren Sohn belastendes Tagebuch. Im Juni 1942 wurde Wolfgang aufgrund beschlagnahmter Briefe erneut verhaftet, nach mehrmonatiger Haft aber freigelassen. Ende 1943 wurde er nach einer Parodie auf Joseph Goebbels wieder verhaftet und im August 1944 wegen Wehrkraftzersetzung zu einer Gefängnisstrafe von neun Monaten verurteilt.“ (David Templin: Wissenschaftliche Untersuchung zur NS-Belastung von Straßennamen. Abschlussbericht erstellt im Auftrag des Staatsarchivs Hamburg. Hamburg 30.11.2017, S. 71ff.)
Wolfgang Borcherts Freundin Heidi Pulley-Boyes und andere Freundinnen
Über Wolfgang Borchert und Heidi Pulley-Boyes (4.2.1917 Ahrensburg – 30.11.2016) zeigte die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg 2006 eine Ausstellung unter dem Titel „Wir beide –Wolfgang Borchert und Heidi Pulley-Boyes“. Kennengelernt hatten sich die beiden, als Heidi Boyes 1941 in Lüneburg an der „Landesbühne Ost-Hannover“ spielte und Wolfgang Borchert damals für drei Monate dort Mitglied des Ensembles war, bis er dann zum Militärdienst eingezogen wurde. Die Ausstellung zeigte Wolfgang Borcherts (Liebes) Briefe an Heidi Boyes und Werke der Malerin und Kunstpädagogin Heidi Pulley-Boyes, die auf Wolfgang Borcherts Wunsch in dessen Drama „Draußen vor der Tür“ die Elbe spielte.
Lutz Wendler schreibt in seinem Nachruf auf Heidi Pulley-Boyes: „In den 50er-Jahren entdeckte Heidi Boyes Malerei und das Zeichnen für sich. Sie nahm Unterricht bei Charlotte Claire Voss, wurde deren Meisterschülerin und übernahm 1956 ihre ‚Schule für freie Malerei und Grafik‘. (…) Heidi Boyes, die 1961 den amerikanischen Autor und buddhistischen Mönch William Sande Pulley geheiratet hatte, wurde von ihren Schülern verehrt. Bis kurz vor ihrem Tod hatte sie noch 20 Schüler, die an zwei Wochentagen in ihr Atelier in der Eppendorfer Landstraße kamen.“ 13)
Heidi Pulley-Boyes war nicht die einzige Freundin, in die Wolfgang Borchert verliebt war. So berichtete Nadine Rinke in ihrem Artikel „‘Hannelörchen‘ aus Altona. Die Frau hat Wolfgang Borchert den Kopf verdreht“ von einer damals 21-jährigen Mitpatientin Wolfgang Borcherts, als beide 1945/46 im Krankenhaus am Kleinen Schäferkamp wegen Gelbsucht behandelt wurden. „Diese ‚süßen kleinen Öhrchen‘! Das ‚blonde hochgekämmte Haar‘!“ 14) schwärmte Wolfgang Borchert.
Die von Wolfgang Borchert geschriebenen Briefe hatte die Angebetete aufbewahrt und ihr Sohn entdeckte sie nach dem Tod seiner Eltern. „‘Meine Mutter hatte sie in einem Umschlag gesammelt‘“, Auch wenn der berühmte Schriftsteller in der Familie immer mal wieder Thema war: So richtig intensiv gelesen hat Marx die Briefe erst jetzt. ‚Es ist spannend, wie genau Borchert meine Mutter beschreibt‘, sagt der 67-Jährige. ‚Sie war lebenslustig, hatte Spaß daran ,dumm Tüch‘ zu treiben. Nun weiß ich, dass sie immer schon so war. Ich lerne sie beim Lesen noch einmal neu kennen.‘ Das war auch der Grund für den Altonaer, mit den Briefen an die Öffentlichkeit zu gehen. ‚Durch die Gedichte wird die damalige Zeit lebendiger, so etwas interessiert die Leute ja‘, erklärt er. Für Borchert-Experten ist das plötzliche Auftauchen der Papiere eine kleine Sensation. Entsprechend teuer dürften sie auch auf dem freien Markt gehandelt werden. Der Preis pro Brief könnte im vierstelligen Bereich liegen, sagt Hans-Gerd Winter (75), Vorsitzender der Internationalen Borchert-Gesellschaft. Wolfgang Marx möchte die Originale trotzdem nicht verkaufen. ‚Das ist doch das Einzige, was uns mit der Prominenz verbindet!‘, sagt er. Das Herz der ‚Wunderbaren‘ aus Zimmer acht übrigens konnte der Dichter schließlich nicht erobern. Er hatte nie eine Chance: ‚Kurz vor dem Krankenhausaufenthalt hat meine Mutter meinen Vater kennengelernt‘, sagt Wolfgang Marx. Auch der Zukünftige kommt in Borcherts Briefen vor. ‚Leider hab ich großen Liebeskummer. Der raubt mir jede Nacht den Schlummer – auf ihrem Bett hockt schon ein anderer Brummer!‘, dichtete er in ‚Traurige Ballade‘. Ende 1946 wurde Hochzeit gefeiert, ein Jahr später kam der kleine Wolfgang zur Welt, der erste von zwei Söhnen. ‚Borchert muss aber tatsächlich großen Eindruck auf meine Mutter gemacht haben‘, sagt Marx und lacht. ‚Schließlich hat sie mich nach ihm benannt!‘“ 15)
Und so bekamen Frauen über die Liebe, die ein berühmter Mann ihnen entgegenbrachte, einen gewissen Bekanntheitsgrad.
Befreundet war Wolfgang Borchert auch mit der Schauspielerin Aline Bußmann (1889-1968), verheiratete Hager, die damals schon eine bekannte Schauspielerin war. Sie war mit Wolfgang Borcherts Mutter befreundet gewesen und ihr „Mann Carl Hager verteidigte während der 1940er Jahre mehrfach [Wolfgang Borchert] (…) bei seinen Strafprozessen gegen die Justiz des Dritten Reiches. Von November 1939 an korrespondierte der damals 18-jährige Wolfgang Borchert regelmäßig mit der 32 Jahre älteren Schauspielerin. (…). Bußmann wurde Borcherts geistig-literarische Vertraute und Mentorin, der er selbstverfasste Gedichte zur kritischen Begutachtung zuschickte. Daneben kreiste die Korrespondenz um seine unerwiderte Liebe zu ihrer Tochter Ruth Hager. Die zentralen Motive des Briefwechsels waren laut Peter Rühmkorf Borcherts Traum, ein Künstler zu werden, und das ‚literar-erotische Parlando‘ zwischen den Briefpartnern. Bußmanns künstlerischer Rat blieb zurückhaltend, vornehmlich an Details orientiert und im Grundton gütig und ermutigend.“ 16)