Hamburger Straßennamen -
nach Personen benannt

Lily-Braun-Straße

Bergedorf, seit 1985, benannt nach Lily Braun, geb. als Amalie v. Kretschmann, verw. Gizycki (2.7.1865 Halberstadt – 9.8.1916 Berlin-Zehlendorf, laut Brockhaus), Schriftstellerin und Frauenrechtlerin


Siehe auch: Ottilie-Baader-Straße
Siehe auch: August-Bebel-Park, St. Georg (2006): August Bebel (1840-1913), Reichstagsabgeordneter (SPD), August-Bebel-Straße, Bergedorf (1927), Bebelallee, Alsterdorf, Winterhude (1945).

Amalie von Kretschmann war die Tochter von Jenny von Kretschmann, geb. von Gustedt, und ihres Gatten, dem preußischen General Hans von Kretschmann. Amalie war mütterlicherseits die Enkelin der Baronin Jenny von Gustedt, illegitime Tochter von Jerôme Bonaparte, König von Westfalen.

1722 Lily Braun
Lily Braun; Quelle: via Wikimedia Commons

Lily lebte das standesgemäße Leben einer Aristokratin, übte aber schon früh heftige Kritik an dieser Lebensweise, was sehr missbilligt wurde. „Bei den privaten Unterrichtsstunden, die sich für ein Mädchen aus adligen Kreisen schickten, sitzt die Mutter immer dabei und unterbindet jeden Anflug von kritischem Bewusstsein. Ihren Wissensdrang und ihre Lesesucht sieht sie gar nicht gerne und hält sie durch häusliche Aufgaben so oft wie möglich davon ab. Immerhin darf Lily sich in der väterlichen Bibliothek bedienen und findet Mittel und Wege, sich in anderen Bibliotheken und Archiven ihr Wissen zusammenzusuchen. (…)

Eine besondere Prüfung war der quälende Aufenthalt bei einer Tante, die ihr den letzten Schliff geben sollte. Dazu wollte sie [die Tante] Lily von Kretschmanns Wissensdrang brechen, denn zu denken und zu wissen hat eine Frau nicht, sie hat nur dem Mann zu dienen. Verzweifelt beugt sich Lily in ihrer Jugendzeit immer wieder solchen Forderungen, flieht in schwere psychosomatische Erkrankungen, gebrochen wird sie nicht. (…)

Schon in ihrer Kindheit und Jugend war ihr soziales Gewissen erwacht, sie lehnt sich auf gegen Unterdrückung, erkennt Ausbeutung und Heuchelei, verurteilt Rassismus und Standesdünkel,“1) schreibt Eva Geber über Lily Braun. Mit Mitte zwanzig sagte sie den Satz: „Die Macht des Kapitalismus muß gebrochen werden.“

Als der Vater den Kaiser im Manöver beinahe geschlagen hätte, musste er seinen Abschied nehmen. Dadurch änderte sich das Leben der Familie von Kretschmann schlagartig, denn nun musste sie sich finanziell einschränken.

Nach einer unglücklichen Liebe, die Lily Braun erleiden musste, fragte sie sich: „Ist wirklich das Schicksal des Weibes nur der Mann? Und hat es kein Recht auf eigenes Leben?“

Im Alter von 28 Jahren heiratete sie den 47 Jahre älteren und gelähmten Universitätsprofessor Georg von Gizycki, Nationalökonom, Kathedersozialist, Herausgeber der Zeitschrift „Ethische Kultur“ und schwerkrank. Dass sie mit ihm die richtige Wahl getroffen hatte, davon war sie überzeugt: „Im übrigen bin ich sehr glücklich durch meine innige Verbindung mit dem Mann, dessen unglücklichen Körper ich über seinem herrlichen Geist ganz vergessen habe, während ich früher über dem herrlichen Körper den Geist vergaß und erst erkannte, wenn es zu spät war.“ Und weiter urteilte sie über ihre Ehe mit Gizycki: „Wir würden keine Liebes-, sondern eine Freundschafts- und Arbeitsehe führen; wir würden wie die Zukunftsmenschen leben, wo auch die Frau sich durch eigene Arbeit erhält.“ 2) Und so brauchte Lily Braun auch keine Hausarbeit verrichten und die Mahlzeiten wurden in einer Gaststätte eingenommen.

Durch ihren Mann lernte sie die sozialistischen Theorien kennen, und durch ihn wurde sie mit führenden Männern der sozialdemokratischen Partei und mit amerikanischen Frauenrechtlerinnen bekannt. Knapp zwei Jahre nach der Hochzeit starb Georg von Gizycki.

Lily Braun engagierte sich im Verein Frauenwohl, der zum radikalen Zweig der bürgerlichen Frauenbewegung gehörte, und wollte zwischen der bürgerlichen Frauenbewegung und den Arbeiterinnen vermitteln. „‘Wer vorurteilslos und logisch denkt und sich eingehend mit der Frauenfrage – wohlgemerkt, der ganzen Frauenfrage, nicht mit der Damenfrage – beschäftigt, der muss notwendig zur Sozialdemokratie gelangen!‘ Mit diesen Worten schockiert sie beim Berliner Frauenkongress der bürgerlichen Frauenbewegung 1896, wüste Beschimpfungen folgen, drohend erheben sich behandschuhte Damenfäuste – ihr Abgang wird zum Spießrutenlauf. Sie bekennt sich nun offen zum Sozialismus, wird Mitglied der sozialdemokratischen Partei und schließt die Türe zu ihrer Herkunft, ihre Familie distanziert sich von ihr, und die reiche Tante enterbt sie. Sie trennt sich auch von der bürgerlichen Frauenbewegung und arbeitet zunächst gemeinsam mit Clara Zetkin an der Herausgabe der Zeitschrift Gleichheit. Dennoch bemüht sie sich immer wieder, die bürgerliche und die proletarische Frauenbewegung zu vereinigen. Damit scheitert sie und zieht sich Zetkins Feindschaft zu. Diese besteht auf einer ‚reinlichen Scheidung‘, Kooperation mit bürgerlichen Frauen ist grundsätzlich auszuschließen. Clara Zetkin befürchtet die Verwässerung ihrer Ziele: um Reformen würde es gehen, nicht um Klassenkampf,“ 3) so Eva Geber.

Ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes heiratete Lily Braun 1896 den vermögenden, aus Wien stammenden Sozialdemokraten und Chefredakteur des „Vorwärts“, Dr. Heinrich Braun. Das Paar bekam ein Kind und gründete später die Zeitschrift „Die Neue Gesellschaft“. Heinrich Braun zählte zu den Revisionisten. Sie wollten die bestehende Gesellschaftsordnung durch Reformen verändern. Auch Lily Braun verfolgte dieses Ziel, und so blieb Clara Zetkin ihre entschiedene Feindin. Ihre Auseinandersetzungen wurden zu einem offenen Machtkampf. Clara Zetkin erreichte es, dass Lily Braun aus der Redaktion der Gleichheit ausgeschlossen wurde und auch keine Artikel mehr von ihr dort erscheinen durften.

Lily Braun reagierte darauf 1901 mit ihrem bedeutendsten Buch „Die Frauenfrage, ihre geschichtliche Entwicklung und wirtschaftliche Seite.“ Darin befasste sie sich „mit der Doppelbelastung der Frauen und den daraus entstehenden Schwierigkeiten, sich gewerkschaftlich zu organisieren; und sie bot Lösungen an, die noch heute revolutionär klingen. Sie untersuchte Probleme wie zum Beispiel die Minderqualifikation von Frauen und die Konkurrenz der Geschlechter auf dem Arbeitsmarkt. Sie forderte gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit“, 4) schreibt Inge Stolten.

Durch ihr Muttersein veränderte sich Lily Brauns Einstellung zur Frauenarbeit. Und so schrieb sie: „‘Indem sich die Frauenarbeit ausdehnt, untergräbt sie zu gleicher Zeit die alte Form der Familie, erschüttert die Begriffe der Sittlichkeit, auf denen der Moralkodex der bürgerlichen Gesellschaft beruht, und gefährdet die Existenz des Menschengeschlechts, deren Bedingung gesunde Mütter sind. Es bleibt der Menschheit schließlich nur die Wahl: entweder sich selbst oder die kapitalistische Wirtschaftsordnung aufzugeben.‘ Als Konsequenz aus dieser Erkenntnis plant Lily die Gründung einer Mutterschaftsversicherung. Diese Versicherung sollte Mutter und Kind zumindest für einige Wochen vor und nach der Geburt schützen“, 5) so Asta von Oppen in einem Kurzporträt über Lily Braun.

Lily Brauns Ideen machten sie zur Außenseiterin. Sie stellte die traditionelle Familienform in Frage, forderte Zentralküchen und „für bestimmte Häusergruppen (...) Turn- und Spielplätze, mit Kindergärtnerinnen und Erzieherinnen, die von den Eltern gemeinsam bezahlt werden“, 6) so Inge Stolten. Und sie forderte eine Herabsetzung der Erwerbsarbeitszeit, damit sich sowohl die Mütter als auch die Väter ihren Kindern widmen können.

August Bebel (siehe: August-Bebel-Park, August-Bebel-Straße und Bebelallee) rezensierte Lily Brauns Buch über die Frauenfrage sehr positiv, Clara Zetkin hingegen verriss es.

Lily und ihr Mann lebten finanziell in bescheidenen Verhältnissen, denn sein Vermögen gab Heinrich Braun für seine ideellen Ziele aus. Er war Mitbegründer der „Neuen Zeit“ und des Archivs für soziale Gesetzgebung und Statistik.

Nachdem er 1903 Reichstagsabgeordneter geworden war, gab er mit seiner Frau die Wochenzeitschrift „Die Neue Gesellschaft“ heraus, „die unabhängig von der offiziellen Partei den Diskurs mit der deutschen Intelligenz anstrebt. Beim Dresdner Parteitag 1903 erfolgt der Angriff auf die Revisionisten, besonders Lily Braun wird heftig und beliedigend attackiert. Der neuen Zeitschrift wird mit Polemik und Ablehnung (…) der Garaus gemacht. 1905 unternehmen die Brauns einen neuen Versuch, diesmal hält sich die Zeitschrift zwei Jahre. Lily Braun weist darin auf das Recht der persönlichen Entwicklung jedes einzelnen Menschen hin: ‚Der Sozialismus ist ebenso die Voraussetzung des Individualismus, wie der Individualismus die notwendige Ergänzung des Sozialismus sein muss.‘ Das bringt weitere entscheidene Anfeindungen. Die Neue Gesellschaft wird eingestellt, und die Familie befindet sich in einer verzweifelten wirtschaftlichen Lage,“ 7) schreibt Eva Geber. Um diese zu verbessern, begann Lily Braun die Kriegsbriefe ihres Vaters herauszugeben, und sie schrieb auch die Lebensgeschichte ihrer Großmutter auf, der außerehelichen Tochter des Königs von Westphalen. Mit dieser Veröffentlichung hatte sie großen Erfolg. Auch ihre Publikation „Memoiren einer Sozialistin“ wurde zu einem Bestseller, so dass die finanziellen Probleme vorübergehend gelöst waren. „Nur die Parteigenossen kritisierten sie. Lily bemerkt dazu: ‚Ich weiß jetzt, dass sie mir in Wahrheit nichts anhaben können und ich gräme mich nicht mehr über Urteile wie diese, weil ich sie verstehe. Ja, ich verstehe sie, uns trennt ein unüberbrückbarer Abgrund, der der inneren Kultur. Wie die Genossinnen sich ständig über mein Äußeres ärgerten, weil ich eben anders war als sie, so muss der Durchschnitt der Genossen an meinem Wesen Anstoß nehmen.“ 8)

Lily Braun wurde schließlich wegen angeblicher Unzuverlässigkeit aus der Berliner Frauenorganisation ausgeschlossen und zog sich allmählich aus der aktiven Politik zurück. Sie arbeitete nun vorwiegend literarisch - und trat für die freie Liebe ein. „Ihre erotischen Wünsche, die über die monogame Einschränkung hinausgehen, lassen sie (…) die Ehe kritisieren.“ 9) So schreibt sie an ihren Mann: „Ich glaube, dass ich nicht für die Ehe geschaffen bin, jedenfalls nicht für die gut bürgerliche mit ihrem Gebot unbedingter körperlicher Treue. Dass ich diese Treue nie verletzte, war eine Vergewaltigung meiner Natur. Ich habe viel Glück verpasst, viel Jugendkraft aufgegeben. Ich war ‚treu‘ nicht aus moralischen, sondern mehr […] aus Angst, Angst vor meines Sohnes hellem Blick, Angst vor Dir, der es nie verstehen würde, dass ich ihm gar nicht untreu sein kann, auch wenn ich die ‚Treue‘ bräche. Ich habe, ohne dass Du es ahntest, im Laufe unserer Ehe oft starke sinnliche Leidenschaft empfunden, ohne dass der Gegenstand den Wunsch in mir erweckt hätte, mit ihm zu leben. Wahrscheinlich hätte ich Dich sogar lieber gehabt, wäre froher, frischer gewesen, wenn ich meinen starken Instinkten gefolgt wäre.“ 10) Einmal, als Lily Braun Ende vierzig ist, geht sie ein Verhältnis ein.

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, „gehörte sie – ganz im Widerspruch zu ihrem früheren Engagement – zu den Befürwortern des Ersten Weltkriegs und des deutschen Nationalismus“. 11) „Ihr Buch ‚Die Frauen und der Krieg‘ enthält schauderhafte Appelle an die Frauen als Gebärerinnen, wie auch deren höhere Pflicht, sich für Kranken- und Verwundetenpflege zur Verfügung zu stellen, als sich für ihr Stimmrecht einzusetzen, dass sie auch konservative Ansichten weit rechts überholt,“ 12) resümiert Julia Braun-Vogelstein.

Lily Braun starb 1916, ihr Sohn Otto als Soldat zwei Jahre später.