Muharrem-Acar-Brücke
Wilhelmsburg (2012), vorher eine Bahntrasse ohne Namen: M. Acar (1957 Izmir – 2009 Hamburg), Gewerkschafter, ehrenamtlicher Arbeitsrichter.
Mit 14 Jahren als türkischer Einwanderer nach Hamburg gekommen, steht stellvertretend und beispielhaft für eine ganze Generation türkischer Einwanderer, die sich in Deutschland integriert und engagiert haben.
Muharrem Acar kam am 22.08.1957 in der türkischen Hafenstadt Izmir als erstes von drei Kindern des Paares Arife und Müslüm Acar auf die Welt.
Müslüm Acar, der in Izmir in einer Tabakfabrik gearbeitet hatte, kam in Rahmen des „Gastarbeiter-Anwerbeabkommens“ mit der Türkei 1971 nach Deutschland. Die Ehefrau und die Kinder blieben zunächst in ?zmir. Müslüm Acar nahm eine Arbeit bei der Deutschen Bahn auf. Zwei Jahre später holte er im Rahmen der Familienzusammenführung seine Ehefrau und die Kinder nach.
Muharrem Acar war damals 16 Jahre alt, als er zu seinem Vater nach Hamburg kam. Die Familie wohnte in der Thielenstraße in Wilhelmsburg. Muharrem Acar besuchte ein Jahr lang die Schule. Danach jobbte er für kurze Zeit in der Gastronomie. Mit 18 Jahren fand er eine Festanstellung in einer Lackfabrik in Wilhelmsburg, wo er etwa drei Jahre arbeitete.
Mit 20 Jahren lernte er in der damals sehr angesagten Diskothek Penny Lane in Kirchdorf die Frisörin Petra Küchenmeister kennen. Das Paar verliebte sich und beschloss zu heiraten. Davon waren allerdings – damals gehörten deutsch-türkische Ehen noch nicht zur Normalität – beide Elternteile nicht sehr begeistert. Deshalb reiste das junge Paar heimlich in die Türkei und heiratete dort. Mit vollendeten Tatsachen konfrontiert, brachen Vater und Mutter Küchenmeister den Kontakt zur Tochter ab. Das junge Paar wohnte kurze Zeit bei den türkischen Schwiegereltern in Wilhelmsburg. Später bezogen sie eine Wohnung auf der Veddel, wo auch die Tochter Deniz Filiz Acar 1978 auf die Welt kam. Sie war auch der Anlass, dass sich die Familie wieder versöhnte. Muharrem Acar wechselte 1979 den Arbeitsplatz und begann bei der Norddeutschen Affinerie (heute Aurubis) zu arbeiten.
1981 bekamen die Acars, inzwischen waren sie wieder nach Wilhelmsburg und dort in den Erlerring gezogen, ihre zweite Tochter Yasemin.
Muharrem Acar war inzwischen die Gewerkschaft eingetreten und engagierte sich an seinem Arbeitsplatz stark für die Rechte der Mitarbeiter. Er hatte nicht zuletzt durch die Heirat sehr schnell und gut deutsch erlernt, so dass er nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch in seiner Freizeit oft der Ansprechpartner für türkische Landsleute war, wenn sie einen Vermittler bei Verständigungsproblemen brauchten.
Obwohl Gewerkschafter damals in der Lackfabrik (nicht bei der „Affi“) weniger Lohn bekamen – sie wurden nur tariflich bezahlt, wohingegen gewerkschaftlich nicht organisierte Arbeiter übertariflich entlohnt wurden –, hielt Muharrem Acar dies nicht davon ab, sich schon dort für die Mitarbeiter einzusetzen. Sein gewerkschaftliches Engagement setzte er bei der Norddeutschen Affinerie fort. 1987 wurde er, als einer der ersten Türkischstämmigen überhaupt, freigestelltes Betriebsratsmitglied bei der “Affi”, wie die Kupferhütte unter den Arbeitern genannt wurde. Durch sein Engagement wurde Muharrem Acar zum Sprachrohr, insbesondere für die Belange der damals noch “Gastarbeiter” genannten migrantischen Belegschaft.
Muharrem Acar, der mit seiner Betriebsratsarbeit und seinen Gewerkschaftsaktivitäten unermüdlich für die Interessen der damals oft der deutschen Sprache nicht mächtigen Landsleute eintrat, förderte so maßgeblich deren Integration im Betrieb und Wohnumfeld. Selbst in seiner Freizeit übersetze er Briefe, erledigte Behördengänge und kümmerte sich um die Sorgen und Nöte der Migranten. 1994 nahm er die deutsche Staatsbürgerschaft an. Wenig später wurde er auf Vorschlag der Gewerkschaft als ehrenamtlicher Arbeitsrichter berufen.
1998 verließ Muharrem Acar die Affinerie und machte sich selbstständig. Er eröffnete zunächst einen Laden in der Osterstraße, wo er Textilien und Haushaltswaren vertrieb. Später kam ein Laden in der Methfesselstraße dazu. Diese Episode in seinem Arbeitsleben hielt nur kurz an. Er schloss die Läden und begann als Marktbeschicker auf verschiedenen Märkten Hamburgs zu arbeiten.
Im Alter von nur 52 Jahren verstarb Muharrem Acar am 29. Dezember 2009 an Krebs, der erst drei Wochen zuvor diagnostiziert worden war.
Wie seine Tochter Deniz Filiz Acar berichtet, war Muharrem Acar ein begeisterter Leser von politischen Romanen und Gedichten. Insbesondere die Bücher der weit über die Grenzen der Türkei bekannten Dichter und Romanciers Naz?m Hikmet und Orhan Kemal zählten zu seiner Lieblingslektüre.
Mit der Benennung der Fuß- und Radwegbrücke, die die S-Bahn Station Wilhelmsburg mit der Neuenfelder Straße verbindet, nach Muharrem Acar folgte die Bezirksversammlung Hamburg-Mitte dem Vorschlag Hüseyin Y?lmaz. Y?lmaz ist als ehemaliger Leiter der DGB-Zentralstelle für ausländische Arbeitnehmer und Gründungsmitglied sowie späterer Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Hamburg (TGH) langjähriger Weggefährte Muharrem Acars gewesen.
Die offizielle Einweihung der Brücke nahm der Erster Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) am 6.3.2013 zusammen mit der Familie Acar vor.
Die Ehefrau und die erstgeborene Tochter Muharrem Acars, Deniz Filiz, sind Wilhelmsburg treu geblieben und wohnen in dem Stadtteil. Die jüngere Tochter Yasemin, Muharrem Acars Schwester Muazzez und sein Bruder Erol leben auch in Hamburg.
Text: Kemal Dogan