Hamburger Straßennamen -
nach Personen benannt

Walderseestraße

Othmarschen (1903): Alfred Graf von Waldersee (8.4.1832 Potsdam - 5.3.1904 Hannover), preußischer Offizier, Generalstabschef der kaiserlichen Armee des Deutschen Reichs, Oberbefehlshaber im "Boxerkrieg" (1900-1901) in China, seit 1896 Ehrenbürger von Altona, seit 1901 Ehrenbürger von Hamburg.


Waldersee war Sohn eines preußischen Generals und schlug auch selbst die Militärlaufbahn ein. Als Stellvertreter des Generalstabschefs Helmuth Graf von Moltke (siehe: Moltkestraße) entwickelte er Strategien für Präventivkriege, um Deutschlands Vorherrschaft in Europa durchzusetzen. So schrieb der Kriegstreiber 1888 in sein Tagebuch: "Die Zeiten sind wahrlich ernst; ich habe aber ein felsenfestes Vertrauen, daß wir unsere Flagge durch alle Stürme führen und über alle Feinde triumphieren werden. Es werden viel[e] Menschen hingeschlachtet werden; so lange man mir aber nicht nachweist, daß man mehr als einmal sterben kann, bin ich nicht in der Lage, den Tod für den einzelnen als ein Unglück anzusehen."

Waldersee trug wesentlich dazu bei, dass der noch junge Kaiser Wilhelm II. eine militaristische Haltung einnahm, während Reichskanzler Bismarck (siehe: Bismarckstein und Bismarckstraße) nach den Einigungskriegen eher zur Mäßigung riet. Mit seinem großen Einfluss auf den Kaiser gelang es Waldersee 1890, seinen politischen Konkurrenten Bismarck zu stürzen. Inzwischen zum Generalstabschef befördert, spekulierte er selbst auf den Reichskanzlerposten, doch nach persönlichen Differenzen mit dem Kaiser musste er 1891 zurücktreten. Ins Kommando an der Palmaille im preußischen Altona strafversetzt, trat der Nationalkonservative für Repressionen gegen die Sozialdemokraten ein, notfalls mit Armeeeinsatz, da diese nach seiner Auffassung "die größte Gefahr im Kaiserreich" darstellten. Seine wahre Mission in Altona galt jedoch dem vom Kaiser entlassenen Reichskanzler, den er auf seinem Anwesen in Friedrichsruh bei Hamburg im Auge behalten sollte. Bei seinen Besuchen bei Bismarck lernte Waldersee auch Hamburger Senatoren kennen und - häufig in Personalunion - Großkaufmänner mit handfesten kolonialen Handelsinteressen von Übersee bis nach China.

In den Opiumkriegen 1839-1842 und 1856-1860 hatten die britische und französische Kolonialmacht China zur Öffnung seiner Märkte für europäische Händler gezwungen. Damit hatte das Land seine Souveränität und seine Jahrhunderte lange Machtstellung in Asien verloren. Die gewaltsame Kolonisierung brachte ethnische oder religiöse Konflikte im Inneren hervor, wie die großflächige Taiping-Rebellion (1851-1864), vermutlich der weltweit größte Militärkonflikt des 19. Jahrhunderts mit bis zu 20 Millionen Toten.

1897 hatte das Deutsche Reich die südchinesische Jiaozhou-Bucht (Kiautschou) mit der gleichnamigen Halbinsel und der Stadt Qingdao (Tsingtau) besetzt, dort einen Flottenstützpunkt errichtet und Handelsniederlassungen gegründet mit dem Ziel, eine wirtschaftlich gewinnbringende "Musterkolonie" mit europäisch-"zivilisatorischer" Mission aufzubauen. Doch dem Vordringen der europäischen Händler setzte die chinesische Bevölkerung entschiedenen Widerstand entgegen. Die antikoloniale Yìhétuán-Bewegung (Verbände für Gerechtigkeit und Harmonie; wegen der traditionellen Faustkampfkunst von den Europäern spottend "Boxer" benannt) fand immer mehr Zulauf, auch von Frauenverbänden wie die Leuchtenden Roten Laternen. Dürreperioden und Zeiten von Überschwemmungen mit Hungersnöten ließen die eigene Ohnmacht noch deutlicher spüren und Yìhétuán zu einer Massenbewegung mit etwa 500.000 Anhängern werden. In den christlichen Missionaren und ausländischen Kaufleuten und Besatzern sahen die Anhänger "fremde Teufel", die es zu töten galt, ihre Eisenbahnschienen, Telegraphenmasten und Bergwerke wurden zerstört. Das chinesische Qing-Kaiserhaus hatte die Volkserhebung zunächst nur geduldet, später aktiv unterstützt.

Für die Großmächte, die China kolonisieren wollten, insbesondere für das Deutsche Reich, gab die Ermordung des deutschen Gesandten Clemens von Ketteler im Juni 1900 schließlich den willkommenen Anlass für eine militärische Intervention. Wilhelm II. rehabilitierte nun den Ruheständler Waldersee, holte ihn zurück nach Berlin und ernannte ihn zum Generalfeldmarschall. Der kaiserliche Befehl lautete, mit deutschen Truppeneinheiten nach China zu reisen und dort das Kommando über die internationalen Interventionstruppen zu übernehmen. Mit seiner berüchtigten "Hunnenrede" verabschiedete Wilhelm II. die deutschen Soldaten in Bremerhaven: "Kommt Ihr vor den Feind, so wird er geschlagen. Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht. [...] Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutschlands in China in einer solchen Weise bekannt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen". Die einpeitschende Kaiserrede verstanden die deutschen Soldaten als Freibrief zur Gewaltausübung.

Doch als Waldersee mit seiner Streitmacht in China landete, war der chinesische Widerstand schon gebrochen, das Land "befriedet" - zur großen Enttäuschung der Zuspätkommenden. Dennoch befahl Waldersee "blutige Vergeltung". Die internationalen Truppen mit 17.000 Soldaten schlugen erneut erbarmungslos zu. Auf zahlreichen "Strafexpeditionen" folterten, vergewaltigten und massakrierten die Soldaten wehrlose Zivilisten und versprengte chinesische Einheiten, plünderten und zerstörten die Jahrtausende alten Kulturschätze Chinas - ein Vorgehen, das alle Grenzen des geltenden Völkerrechts der Haager Konvention verletzte. "Wie wir die erste Schlacht gewonnen hatten, da hättest Du sehen sollen, wie wir in die Stadt einrückten. Alles, was uns in den Weg kam, ob Mann, Frau oder Kind, alles wurde abgeschlachtet. Nun, wie da die Weiber schrien! Aber des Kaisers Befehl lautet: keinen Pardon geben! - und wir haben Treue und Gehorsam geschworen und das halten wir auch", lautete einer von vielen Feldpostbriefen ("Hunnenbriefe"), in denen die Soldaten ihre Gräueltaten mit Stolz schilderten. Es folgten Grabräubereien und Verwüstungen von Palästen und Tempelanlagen im großen Stil. Die Kunstobjekte wurden gleichermaßen von Soldaten, Kaufleuten und Konsulatsangehörigen geplündert, an private Sammler in Europa verkauft oder gleich vor Ort auf dem Schwarzmarkt billig verhökert. Am 19. Januar 1901 schrieb der Kapellmeister F. König eine kurze Notiz in sein Tagebuch: "War ich an Land, 1 alte Kanne, 1 Götzen aus dem Mudafengrab gekauft (Altertum)." Damit war das unvergleichliche Kulturerbe Chinas für immer auseinandergerissen und verloren.

Im "Boxerkrieg" wurden schätzungsweise 130.000 chinesische Zivilisten ermordet, in dem knapp zwei Jahre währenden Krieg 50.000 Gebäude zerstört. Nach Waldersees eigener Schätzung waren 500.000 Menschen obdachlos geworden. "Der Soldat muss hier schnell verrohen! (...) Ich muss da natürlich sachter auftreten, als es meinen Neigungen entspricht.", notierte der forsche Oberbefehlshaber am 4. Dezember 1901. In Deutschland stieß sein brutales Vorgehen in liberalen, sozialdemokratischen und kirchlichen Kreisen auf massive Kritik. Im November 1900 tadelte der SPD-Abgeordnete August im Reichstag, der Eroberungskrieg sei "[...] eine Exekution, wo Rache geübt werden soll, die mit einem regelrechten Kriege nicht das allermindeste zu tun hat. Da ist der Name Krieg wirklich zu anständig dafür; was hier passiert, ist ein gemeiner Rachefeldzug. [...] die Art der Kriegsführung, das gräbt sich auf Jahrhunderte von Generation zu Generation in die Herzen der Massen der chinesischen Bevölkerung ein." Die beteiligten deutschen Kommandeure bezeugten: "Man kann mit Sicherheit sagen, dass auf einen wirklichen Boxer, der getötet wurde, fünfzig harmlose Kulis und Landarbeiter, unter ihnen nicht wenige Frauen und Kinder, kamen, die erschlagen wurden."

Im "Boxer-Protokoll" sahen die Siegermächte immense Reparationszahlungen vor. China wurde verpflichtet, 450 Millionen Silberunzen "Entschädigung" zu leisten. Zehn Jahre lang machten die Sühnezahlungen rund die Hälfte des chinesischen Staatshaushalts aus und erzwangen drückende Steuererhöhungen. Als alle Zahlungen 1938 abgeglichen waren, betrug die tatsächliche Entschädigungssumme mehr als sechshundertmillionen Silberdollar.

Trotz der öffentlichen Kritik in Deutschland geriet die Rückkehr Waldersees 1901 zu einem Triumphzug. Im kolonialen Siegestaumel wurde dem nun zum "Weltmarschall" Umgetauften eine hohe Auszeichnung der Stadt Hamburg verliehen: Waldersee wurde für seinen brutalen Feldzug im vermeintlichen "Interesse der Erhaltung des Weltfriedens" 1901 zum Ehrenbürger ernannt. Die Auszeichnung ist ihm bis heute nicht entzogen. Der wahre Grund für die Würdigung mag gewesen sein, dass der General vor allem die hanseatischen Handelsinteressen in China verteidigt hatte. Bis zu seinem Tode entwarf der Militarist weitere Kriegspläne. Aus eigenem Impuls heraus entwickelte er im Vorfeld des russisch-japanischen Kriegs einen Plan für den Einmarsch der japanischen Armee in Korea. Und tatsächlich: 1910 annektierte Japan nach Waldersees Plänen Korea und leitete damit die gewalttätige Kolonisierung des Landes ein.

Der antikoloniale Widerstand in China führte schließlich 1911 zum Sturz des Kaiserhauses. Dabei war die Dichterin und Widerstandskämpferin Qiu Jin hervorgetreten, die sich für die Befreiung Chinas genauso wie für Frauenemanzipation einsetzte. Qiu Jin wurde 1907 verraten und exekutiert; ihr zu Ehren wurden später zwei Denkmäler in China errichtet.

Der Zeit der chinesischen Republik folgten ein langer Bürgerkrieg und Kämpfe gegen den Invasor Japan. Im politisch geschwächten China, das zudem über Jahrzehnte unter den immensen Reparationszahlungen litt, fanden viele Menschen keine Lebensgrundlage mehr. Chinesinnen und Chinesen ließen sich zur Kontraktarbeit in anderen Ländern anwerben, so auch auf den Großplantagen, die seit dem Verbot des transatlantischen Sklavenhandels nach Arbeitskräften suchten. Oder sie verdingten sich auf europäischen Handelsschiffen. Auf den Dampfern der hanseatischen Reedereien wurden sie meistens als Heizer oder Kohlenzieher beschäftigt, und auf diesem Weg kamen sie auch nach Hamburg, wo etwa zweihundert von ihnen im "Chinesenviertel" auf St. Pauli wohnhaft wurden. Ende der 1930er-Jahre verschärften Gestapo und Kriminalpolizei ihre Kontrollmaßnahmen vor Ort, die am 13. Mai 1944 in der "Chinesenaktion" gipfelten: 128 Landsleute wurden verhaftet, in Lager gebracht, gefoltert und erst nach dem Krieg freigelassen. Auch Chong Tin Lam, der Verbindungsmann der chinesischen Community auf St. Pauli, erlitt ein solches Schicksal. Am Hamburger Berg findet sich noch die Hong-Kong-Bar, die Chong Tin Lam einst als Restaurant betrieb. Heute führt seine Tochter Marietta Solty das Lokal.

1949 wurde die Volksrepublik China aufgerufen. Sie wurde Mitglied in der Bewegung der Blockfreien Staaten, einem globalpolitischen Modell, dem sich im Kalten Krieg viele vormals kolonisierte Staaten anschlossen.

Die im "Boxerkrieg" geraubten alten Kulturschätze Chinas erzielen heute Millionenbeträge auf internationalen Auktionen. Im Fundus des Hamburger Völkerkundemuseums befinden sich einige geraubte Objekte aus der Zeit der Plünderungen in China.

Text: HMJokinen, Mitarbeit: Frauke Steinhäuser


Waldersee und Antisemitismus
Der Historiker Felix Sassmannshausen schreibt in seinem für das Land Berlin verfassten Dossier über Straßen- und Platznamen mit antisemitischen Bezügen in Berlin: „Von Waldersee hing einem antisemitischen Weltbild an.“ (Felix Sassmannshausen: Straßen- und Platznamen mit antisemitischen Bezügen in Berlin, erstellt im Auftrag des Ansprechpartners des Landes Berlin zu Antisemitismus. Stand: Oktober 2021. Hrsg. von der Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung (LADS), Berlin, S. 181, unter: www.welt.de/bin/Dossier_bn-235636290.pdf )

Waldersees Privatleben: Mary von Waldersee
Verheiratet war Waldersee seit 1874 mit der reichen Amerikanerin Marie Esther Lee, verwitwete Fürstin von Noer (3.10.1837 New York - 4.7.1914 Hannover). Das Paar lebte einige Zeit in der Nähe Hannovers, später in Berlin.

Bekannt wurde Mary von Waldersee wegen ihrer Unterstützung von Wohltätigkeitsorganisationen. Gleichzeitig war sie Anhängerin der deutschen Erweckungsbewegung. Im "Spiegel" vom 11.7.1962 heißt es in einem Artikel über "Gräfin Waldersee: Bismarck im Unterrock": "Sie war die Tochter eines New Yorker Lebensmittelhändlers, residierte im zweiten Stock der Berliner Herwarthstraße 2, der Zentrale des deutschen Generalstabs, und versuchte dem letzten Thron-Hohenzollern die Liebe zu pornographischen Bildern, Zigarren und Kasinowitzen auszutreiben. Des Kaisers amerikanische Lady, so kommentierte damals die ‚New York Tribune', sei so sehr Oberbefehlshaber der Armee, daß sie jeden General vom höchsten Posten stürzen kann'. Und die New Yorker Zeitung ‚Graphic' klagte: ‚Diese Amerikanerin repräsentiert alles, was im preußischen Leben und in der deutschen Politik besonders aggressiv, bigott und herrschsüchtig ist.'"1)

Mary von Waldersee war eine starke Befürworterin der deutsch-amerikanischen Militärallianz. Der Autor Alson J. Smith, der eine Biographie über Mary von Waldersee geschrieben hat, "rekonstruierte das Bild einer Frau, in der sich christliche Demut mit einem ‚machiavellischen Intrigentalent' verband. Seit die damals 18-jährige Mary Lee nach dem Tod ihres Vaters 1855 den Boden Europas betreten hatte, war sie entschlossen, ‚Geld und Position, die ihr ein gnädiger Schöpfer verliehen hatte, zu genießen und ihr Herz jedem zu verschließen, der sie von der Macht fernhielt.'"2)

Zuerst einmal heiratete sie den damals 64 Jahre alten Prinzen Friedrich zu Schleswig-Holstein und ließ das prinzliche Testament zu ihren Gunsten ändern. Sie wurde sehr schnell Witwe. Ihr zweiter Ehemann wurde Alfred Graf von Waldersee. "Die hartnäckige Gräfin schickte den kränkelnden Grafen in die Kur, gewöhnte ihm das Zigarrenrauchen ab und las mit ihm jede Nacht ein Kapitel aus der Bibel", heißt es in dem Artikel im "Spiegel", der Mary Waldersee als diejenige Person herausstellt, die ihren Mann Graf Waldersee angespornt hätte, seine Karriere mit dem Ziel, Reichskanzler zu werden, zielstrebig zu verfolgen.

Ohne die intensive Bekanntschaft Marys mit dem Prinzen Wilhelm, dem späteren Kaiser Wilhelm II., hätte es aber mit der Karriere von Waldersee so nicht geklappt. Mary von Waldersee und Prinz Wilhelm lernten sich um 1880 bei einer Inspektion des X. Armeekorps in Hannover kennen und verstanden sich auf Anhieb. "Das innige Verständnis wurde noch durch eine Gefälligkeit gefördert, mit der die US-Gräfin den Prinzen und den Hof aus einer Verlegenheit befreite. Sie offerierte dem seit langem zur Heirat abkommandierten Prinzen als Ehepartnerin eine Großnichte ihres ersten Gatten, die Prinzessin Auguste Viktoria (...) zu Schleswig-Holstein. [siehe: Augustenpassage] (...) Von nun an übte die Gräfin auf das junge Prinzenpaar einen Einfluß aus, der sich noch verstärkte, nachdem Generalquartiermeister von Waldersee in die Berliner Herwarthstraße 2 eingezogen war und Mary just im Generalstabsgebäude ‚den brillantesten, politisch mächtigsten und einflußreichsten Salon Europas' (Smith) eingerichtet hatte. (...)

Von Jahr zu Jahr wuchs der Einfluß der amerikanischen Kalvinistin auf den künftigen Kaiser. Mary setzte die Erneuerung ihres christlich-sozialen Gesinnungsfreunds Stoecker zum Hofprediger durch, arbeitete gemeinsam mit Wilhelm das Sozialprogramm aus, mit dem sich der Kaiser 1890 den Zorn des Kanzlers Bismarck zuzog, und wirkte gemeinsam mit ihrem Mann beim Sturz Bismarcks mit. (...)

Indes der junge Kaiser wurde allmählich seiner ältlichen Pompadour und ihrer frömmelnden Intrigen überdrüssig. Marie von Waldersee verlor just in dem Augenblick, da sie durch die Entlassung Bismarcks am Ziel ihrer Wünsche schien, den Einfluß auf Wilhelm II. Das Tor der Reichskanzlei blieb den Waldersees verschlossen.

Graf und Gräfin stürzten kurz nacheinander: Vom Frühjahr 1890 an vernachlässigte der Kaiser die Vertraute, deren legendäre Macht hinter dem Thron ihm mit seiner kaiserlichen Würde nicht mehr vereinbar schien; 1891 schied auch Generalstabschef von Waldersee aus, nachdem er gewagt hatte, die militärischen Fähigkeiten seines kaiserlichen Herrn öffentlich anzuzweifeln."4)

Inwieweit die hier beschriebene Rolle der Mary von Waldersee richtig interpretiert ist, kann nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. Entsprang diese Charakterbeschreibung, die der "Spiegel" wiedergibt, nur der Phantasie des Biografen Alson J. Smith, einem Großneffen von Mary von Waldersee, der als Quelle den Briefwechsel zwischen Mary und ihrer Mutter, der sich in der Houghton-Bibliothek der Harvard-Universität befindet, benutzte und daraus sein Buch "A View of the Spree. New York 1962" über Mary von Waldersee schrieb?

Andere Quellen behaupten, es sei nicht Mary von Waldersee gewesen, die einen dermaßen großen Einfluss auf Wilhelm II. gehabt hätte, sondern der "reaktionäre Antisemit und Kriegsfanatiker Graf Alfred von Waldersee selbst. Als eine Art Ersatzvater übte Waldersee in den 1880er-Jahren einen prägenden Einfluß auf Wilhelm aus (...)". 5)

Aber auch diese Einschätzung muss in dieser Absolutheit nicht stimmen, negiert sie doch den Einfluss, den Mary von Waldersee eventuell gehabt hat. Vielleicht entspricht dies auch dem Rollenbild des Autors, wie es eventuell dem Rollenbild des Biografen Alson J. Smith von einer zänkischen, intriganten Frau entsprach.

An dieser Stelle zeigt sich, dass Biografien immer auch das Bild des Biografen/der Biografin auf die Welt und die Geschlechter offenbaren.

Als Herr von Waldersee Kommandant in Altona wurde, schwand der Einfluss des Ehepaares am kaiserlichen Hof. Auch in Altona engagierte sich Mary von Waldersee auf karitativen Gebiet. Dazu schreiben Ruth Albrecht und Regina Wetjen: „Eine einflussreiche Rolle spielten in der Hansestadt die Mäzeninnen, die aufgrund ihres Vermögens christliche Gruppierungen auf bedeutende Weise unterstützten. Emilie Jenisch (1828–1899), Clara Schröder und Gräfin Marie Esther Waldersee (1837–1914) waren zwar einschlägig bekannt wegen ihrer Sympathie für diakonische Projekte der Engagierten, sie wahrten jedoch eine standesgemäße Distanz und beteiligten sich nur in den für Frauen üblichen Formen an den sozialen Vorhaben. Waldersees Biographin beschreibt, dass die beiden Letzteren eng miteinander befreundet waren: ‚Wie hatte sie in jener Altonaer Zeit Schulter an Schulter mit ihr gestanden, und manches Liebeswerk war von ihnen gemeinsam ins Leben gerufen.‘ Gräfin Waldersee hatte nach glänzenden Jahren in Berlin an der Seite ihres zweiten Ehemannes, des Generals Graf Alfred Waldersee (1832–1904), zunächst Mühe, sich in Altona und Hamburg einzuleben. In den hier verbrachten Jahren 1891 bis 1898 unterstützte sie besonders die Stadtmission und den CVJM. Mit dieser Jugendorganisation war sie bereits seit dessen Anfängen in Berlin verbunden, hier hatte sie als Vorsitzende das Damenkomitee geleitet, das die jungen Männer finanziell und ideell unterstützte. In Hamburg galt sie als Ehrenmitglied des hier ansässigen Komitees. An den im Haus von Emilie Jenisch abgehaltenen ‚Allianz-Bibelbesprechungen‘ nahm sie regelmäßig teil. Von Hannover aus besuchte sie Veranstaltungen des Zentrums für Judenmission in Wandsbek. (…)“ 6)

Die Evangelistin Adeline Gräfin v on Schimmelmann (siehe zu ihr unter Schimmelmannstraße) kritisierte die Haltung dieser oben angeführten Frauen in der Missionsarbeit: „Die deutsche hochgestellte Dame arbeitet meist nur durch Vereine, in denen sie patronisierend wirkt. Mit eigener Person sich aber der Arbeit im öffentlichen Leben zu unterziehen und ohne Mittelspersonen selbst die Schäden bessern, retten helfen, oder gar vom Evangelium sprechen zu wollen, wie es in England und Amerika so oft geschieht, wird als unverzeihlicher Bruch des gesellschaftlichen Anstandes angesehen. (…).“ 7)

Von Hamburg zog sie mit ihrem Mann nach Hannover in die Hohenzollernstraße 40. Dort engagierte sie sich im „Deutschen Frauenmissions-Gebetbund und war ferner Mitbegründerin und finanzielle Förderin des Bibelhauses in der Malche bei Bad Freienwalde. Ihre Mutter, welche sie auf ihren Lebensstationen zuletzt begleitet hatte, starb 1899 in ihrem Haushalt. Sie nahm an Blankenburger Allianzkonferenzen teil und reiste 1903 ein letztes Mal nach Amerika, wo ihr Bruder David gestorben war. Ihrem Mann ließ sie nach dessen Tod 1904 ein Mausoleum auf dem Friedhof von Gut Waterneverstorf errichten, das sich bis heute im Familienbesitz befindet.
Nach dem Tod ihres Ehemannes blieb die Witwe, laut dem Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Milionäre in Preussen von 1912 als ‚Gräfin Esther von Waldersee, Exzellenz‘, weiterhin in der Hohenzollernstraße 40 wohnen. (…).“ 8)

Text: Dr. Rita Bake