Bismarckstraße
Eimsbüttel (1869): Fürst Otto von Bismarck (1.4.1815 Schönhausen (Elbe) – 30.7.1898 Friedrichsruh bei Aumühle)
Siehe auch: Bismarckstein
Siehe auch: Reichskanzlerstraße
Siehe auch: Kirchenpauerkai
Siehe auch die anderen Straßen im „Generalsviertel“ in Hamburg Eimsbüttel: Mansteinstraße; Wrangelstraße; Goebenstraße, Tresckowstraße; Kottwitzstraße; Contastraße, Tegetthoffstraße; Gneisenaustraße; Moltkestraße.
Siehe auch: Lenbachstraße
„Otto von Bismarck wurde am 1. April 1815 auf Schloss Schönhausen nahe der Elbe bei Stendal in der Provinz Sachsen als zweiter Sohn des Rittmeisters Karl Wilhelm Ferdinand von Bismarck (1771–1845) und dessen Ehefrau Luise Wilhelmine, geb. Mencken (1789–1839), geboren. Er war väterlicherseits Spross des alten Adelsgeschlechts Bismarck, eines landsässigen Uradelsgeschlechts der Altmark, das seit Anfang des 18. Jahrhunderts zugleich auch im Kreis Naugard in Hinterpommern drei Güter besaß. Seine Mutter war bürgerlicher Herkunft, ihr Vater Anastasius Ludwig Mencken war Geheimer Kabinettssekretär Friedrichs des Großen gewesen.“ 1)
Bereits 1983 forderte die SPD-Eimsbüttel, die Bismarckstraße umzubenennen. Die Verkehrsfläche befindet sich im „Generalsviertel“, so benannt, weil dort viele Straßen nach ehemaligen Militärs benannt sind. In einer Broschüre mit dem Titel „Machen wir aus dem Generalsviertel ein Friedensviertel ! Für Straßen des Friedens!“ schrieb die SPD-Eimsbüttel damals: „Wir wollen damit niemanden ärgern. Für uns ist dieser Vorschlag von wichtiger inhaltlicher Bedeutung. Wrangel, Moltke – und Mansteinstraße – dies sind keine Straßennamen wie viele andere. Bismarck, Goeben und Roon sind keine unbeschriebenen Blätter. Die Straßen des ‚Generalsviertels‘ sind benannt nach Politikern und Militärs, die u. a. für tausende und abertausende Kriegstote, die Unterdrückung von Freiheit und Demokratie mitverantwortlich zeichnen.“ 2)
In dieser Broschüre schrieb die SPD-Eimsbüttel damals 1983: „Bis zum Jahre 1851 führte Bismarck das Leben eines preußischen Landjunkers auf dem Gut seines Vaters. Seit 1847 war er im Vereinigten Landtag, wo er zur äußersten Rechten gehörte.
Die bürgerliche Revolution von 1848 lehnte er leidenschaftlich ab. Ab 1851 trat Bismarck in der Politik auf. Im Jahre 1862 erreichte seine Karriere einen ersten Höhepunkt: er wurde preußischer Ministerpräsident.
Sein oberstes Ziel war es, die Einigung Deutschlands herbeizuführen, unter der Führung der preußischen Monarchie. Dieses könne nur durch ‚Eisen und Blut‘ geschehen und nicht durch friedliches Verhandeln, erklärte er vor dem preußischen Landtag. Kriege betrachtete er als notwendige Mittel seiner Politik.
So führte er drei Kriege, zuerst 1864 gegen Dänemark, dann 1866 gegen Österreich, schließlich 1870/71 gegen Frankreich, den ‚Erbfeind‘, um die uneingeschränkte Macht Preußens in Deutschland herzustellen.
Der preußische König wurde ab 1871 auch deutscher Kaiser, 1871 hatte Bismarck seine geschichtliche Leistung, die Einigung Deutschlands, erfüllt. Er regierte noch 20 Jahre, die er zur Stärkung des Kaisertums, (…) und des Militarismus in Deutschland benutzte.
Außenpolitisch agierte er pragmatisch, da er wusste, dass Deutschland in Europa einen Zweifrontenkrieg nicht gewinnen konnte.
Innenpolitisch trat er sehr demagogisch auf. Er schürte das Klima gegen die erstarkende Sozialdemokratie und deren soziale Ableger, wie z. B. die Gewerkschaften.
Als er mit der Einführung seiner Sozialgesetze den unaufhaltsamen Anstieg der sozialdemokratischen Bewegung nicht bremsen konnte, führte er ein Verbot der Partei durch. Von nun an wurden Sozialdemokraten im ganzen Reich verfolgt.
Bismarck scheiterte jedoch, die Sozialdemokratie wurde immer stärker, schließlich wurde das ‚Sozialistengesetz‘ nicht mehr verlängert.
Der herrschenden Klasse in Deutschland – preußischer Militarismus und Großbourgeoisie – war Bismarcks Politik im Inneren zu wenig flexibel und nach Außen zu wenig imperial. Deshalb musste er 1890 als Reichskanzler abdanken.“ 3)
Am Sachsenwald, auf dem Privatgelände der Familie von Bismarck befindet sich ein Deutsch-Ostafrika-Denkmal. Es zeigt einen weißen Soldaten und einen Askari, der ihm dient. Zur Einstellung Bismarcks zum Kolonialismus schrieb der Historiker Ingo Möhle: „Bismarck selbst hatte wenig Freude an den deutschen Kolonialerwerbungen. Noch 1889, kurz vor seiner Abdankung, versuchte er den Hamburger Senat zu bewegen, sich an der Verwaltung des deutschen Kolonialbesitzes zu beteiligen. Doch davon wollten die Hanseaten nichts wissen. Die hohen Kosten für die Verwaltung der Kolonien, die Errichtung einer Infrastruktur für den Handel und den Unterhalt einer kolonialen ‚Schutztruppe‘, die dem Handel militärisch den Weg ins Innere Afrikas bahnte, das überließ man lieber dem Reich. Die Lasten des Kolonialsystems wurden vom Staat und von den Steuerzahler(inne)n getragen – vor allem aber von der afrikanischen Bevölkerung in den Kolonien, die mit ihrem Land, ihrer Arbeitskraft und ihrer Freiheit bezahlte (…)“. 4)
Mit Bismarcks Umgang mit Minderheiten und seine Einstellung zum Kolonialismus hatte sich auch ein „wissenschaftlicher Beirat zur Überprüfung Düsseldorfer Straßen- und Platzbenennungen“ beschäftigt. Dabei kam er in seinem Abschlussbericht von 2019 unter der Überschrift „Militarismus / Umgang mit Minderheiten / Kolonialismus“ zu folgendem Ergebnis: „Otto von Bismarck zählt zu den besonders prägenden Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts. Die Diskussionen um sein Wirken und seine Person haben bereits zu seinen Lebzeiten eingesetzt und sind im 20. Jahrhundert politisch und ideologisch instrumentalisiert worden. Eine nahezu unüberschaubare Anzahl an wissenschaftlichen Publikationen hat zusätzlich dazu beigetragen, dass der ‘Eiserne Kanzler‘ in der deutschen Erinnerungskultur lange Zeit polarisierte; Otto von Bismarck schwankte zwischen nationaler Kultsymbolik und radikaler Dämonisierung. Diese Entwicklung resultierte nicht zuletzt aus den historischen Umbrüchen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Das Bild des ‚Reichsgründers‘ wurde nach dessen Tod im Jahr 1898 zunehmend von rechten Kreisen vereinnahmt, die im Schatten des Ersten Weltkriegs und der scheiternden Weimarer Republik die Popularisierung des Führerprinzips vorantrieben; Otto von Bismarck avancierte ‚zur Leitfigur eines überhitzten Nationalismus, in welche die wilhelminische Generation ihre imperialistischen Sehnsüchte hineinprojizierte‘ (Ullrich, S. 18). Nach 1945 setzte dann eine geschichtswissenschaftliche Distanzierung ein, die sich kritisch mit vermeintlichen Kontinuitätslinien zwischen Bismarck und Hitler auseinandersetzte und dem Reichskanzler eine politische Mitschuld am Aufstieg des Nationalsozialismus unterstellte. Anders als von den nationalistischen Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts propagiert, strebte Otto von Bismarck kein germanisches Weltreich an. Um sein Ziel einer Preußischen Vorherrschaft in Europa zu realisieren, nutzte er politische Divergenzen und initiierte die sogenannten Einigungskriege. Nach der Reichsgründung im Jahr 1871 fokussierten sich seine außenpolitischen Ambitionen allerdings auf die Bewahrung des europäischen Friedens; zu diesem Zweck erklärte er den deutschen Nationalstaat für saturiert und band diesen in ein internationales Bündnissystem ein. Um Konfrontationen mit den Kolonialmächten zu vermeiden, stand Bismarck den Plänen zum Erwerb von deutschen Kolonien lange Zeit ablehnend gegenüber, beugte sich jedoch schließlich dem Druck der deutschen Kolonialbewegung und erwarb sogenannte ‚Schutzgebiete‘ in Afrika und im Pazifik. Eine expansivere und auf Weltgeltung ausgelegte Kolonialpolitik setzte allerdings erst nach der Entlassung des Reichskanzlers ein. Im Gegensatz zu seiner friedensorientierten Außenpolitik versuchte Otto von Bismarck, innenpolitische Konflikte mit autoritären Maßnahmen zu unterdrücken und ging rigoros gegen Andersdenkende und Minderheiten vor. In der als ‚Kulturkampf‘ bekanntgewordenen Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche führte er zahlreiche Gesetze ein (u.a. Verbot geistlicher Orden, staatliche Kontrolle der priesterlichen Ausbildung), um den Einfluss des Katholizismus und insbesondere der katholischen Zentrumspartei auf Politik und Gesellschaft zurückzudrängen. Als Anhänger der Monarchie empfand der Reichskanzler auch die aufkommende Arbeiterbewegung der 1870er Jahre als Bedrohung; mit der Verabschiedung des sogenannten ‚Sozialistengesetzes‘ im Jahr 1878 wurden sämtliche kommunistischen und sozialdemokratischen Aktivitäten (Parteien, Versammlungen, Schriften) verboten. Darüber hinaus wahrte Bismarck eine ambivalente Haltung gegenüber der antisemitischen Bewegung und nutzte diese je nach Bedarf für seine eigenen politischen Ziele. (…).“ 5)
Uwe Klußmann schreibt in dem 2022 erschienenen Buch "Deutschland Deine Kolonien" über Bismarcks Einstellung zu Kolonien: "Weit verbreitet ist die Auffassung, der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck (...) sei gegen Kolonialpolitik gewesen. Diese Ansicht stützt sich unter anderem auf eine Rede Bismarcks im deutschen Reichstag am 26 Juni 1884. Der Reichskanzler sagte damals, er sei 'gegen Kolonien, die als Unterlage ein Stück Land schaffen und dann Auswanderer herbeizuziehen versuchen, Beamte anstellen und Garnisonen errichten.'
Doch in derselben Rede verkündete Bismarck, es sei 'die Pflicht des Deutschen Reiches', deutschen Unternehmen 'gewisse Beihilfe in ihren Kolonialbestrebungen zu leisten' und ihnen 'Reichsschutz zu gewähren'. (...) 1884 gab Bismarck seine Gegnerschaft zur Kolonialpolitik praktisch auf. (...) Für Bismarcks Kurswechsel gab es verschiedene Gründe. Der wesentliche Grund, (...) sei der Druck 'hanseatischer Kaufleute' gewesen, die Bismarck in seiner Reichstagsrede im Juni 1884 ausdrücklich als treibende Kräfte der Kolonialpolitik erwähnte. Vor allem Überseehändler und Reedereien sowie die Hamburger Handelskammer hatten einen Schutz der deutschen Flotte für ihre Handelsstützpunkte gefordert. (...)." (Uwe Klußmann: Wie stand Bismarck zu den Kolonien? In: Eva-Maria Schnurr, Frank Patalong (Hrsg.): "Deutschland, Deine Kolonien" Geschichte und Gegenwart einer verdrängten Zeit. München 2022, S. 66f.)
In Hamburg regte sich 2020 heftiger Protest gegen den Umgang mit dem Bismarck-Denkmal. In einem Interview mit dem Journalisten Matthias Iken vom Hamburger Abendblatt begründete der Hamburger Universitätsprofessor für Globalgeschichte, Jürgen Zimmerer, warum er gegen die Ehrung des ehemaligen Reichskanzlers ist. So äußerte er: „Es ist doch zynisch, dass er [Bismarck] persönlich gegen ein koloniales Engagement war, es aber aus innenpolitischen Gründen aktiv forciert hat, wider besseres Wissens. Bismarck war ein starker Reichskanzler, und in seiner Regierungszeit wurde Deutschland zur Kolonialmacht. Er hat Deutschland auf den Weg geführt, der dann in dem ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts gipfelte. Und: Er hat die Aufteilung Afrikas mit der Berliner Afrika-Konferenz zementiert. Man kann ihn jetzt nicht aus der Geschichte des deutschen Kolonialismus entfernen. (…) ohne den Schritt der Kolonialreichsgründung, den Bismarck zu verantworten hat, hätte es auch den Genozid nicht gegeben. Er ist nicht individuell dafür verantwortlich, hat aber an entscheidender Stelle Weichen gestellt, die dann dazu führten. Verantwortung für das koloniale System haben eben auch Männer wie Bismarck oder Kaiser Wilhelm II, aber auch der Kolonialmediziner Robert Koch. (…).“
Und bezüglich des weiteren Umgangs mit dem Bismarckdenkmal sagte Jürgen Zimmerer in dem Interview: „Unsere Denkmäler ehren Menschen. Und um diese Ehrung geht es – wollen wir sie wirklich wiederholen? Wenn eine Debatte um einen Straßennamen oder ein Denkmal entbrennt und wir die Person verteidigen, die Änderung ablehnen, setzen wir die Ehrung de facto erneut. Stellen wir uns eine leere Stadt vor: Würden wir heute ein Bismarck-Denkmal aufstellen? Wohl kaum.“ 6)
Die Hamburger Kulturbehörde reagierte auf die vielen Proteste gegen das Bismarck-Denkmal, das mit einer großen Summe saniert werden soll (Stand: November 2020). So lud die Behörde z. B. im November 2020 zu einer digitalen Konferenz ein zum Thema: „Bismarck neu kontextualisieren. Digitales Podiumsgespräch zum Umgang mit dem Bismarck-Denkmal im Alten Elbpark.“ An der Diskussion beteiligt waren Vertreterinnen und Vertreter der Initiativen Decolonize Bismarck, Intervention Bismarckdenkmal Hamburg und Bismarck’s Critical Neighbours sowie der Historiker Dr. Ulf Morgenstern von der Otto-von-Bismarck-Stiftung und der Kunsthistoriker Dr. Jörg Schilling. In der Einladung hieß es von Seiten der Kulturbehörde: „Die weltweiten Debatten und Proteste der letzten Monate zum Umgang mit kolonial-belasteten und rassistischen Denkmälern haben auch die Auseinandersetzung mit dem Hamburger Bismarck-Denkmal im Alten Elbpark erreicht. Die Behörde für Kultur und Medien lädt unterschiedliche Interessengruppen parallel zu der laufenden Sanierung des Denkmals zu einem Prozess der Neu-Kontextualisierung des weithin sichtbaren denkmalgeschützten Standbilds ein. Ziel ist es, seine vielschichtig verflochtenen Bezüge zu Nationalismus, Kolonialismus und Nationalsozialismus sowie zu Fragen von Verfolgung, Diskriminierung und sozialer Gerechtigkeit deutlich zu machen. Den Auftakt zu diesem Beteiligungsprozess bildet ein digitales Podiumsgespräch, das die Forderungen nach einem kritischen Umgang mit dem Hamburger Bismarck-Denkmal öffentlich zur Diskussion stellt und sich auch Fragen nach einer zivilgesellschaftlichen Partizipation an einem solchen Verfahren widmet. Anfang kommenden Jahres soll die Auseinandersetzung mit internationaler Beteiligung weiter vertieft werden.
Dr. Carsten Brosda, Senator für Kultur und Medien: ‚Das Bismarck-Denkmal kann nicht einfach weiter unkommentiert im Stadtbild stehen. Es repräsentiert eine autoritäre und koloniale Vergangenheit, die im Widerspruch zu unseren heutigen Vorstellungen einer offenen, demokratischen und vielfältigen Gesellschaft steht. Das Standbild wollen wir neu kontextualisieren, um unsere Wahrnehmung kritisch zu brechen. Wie das gelingen kann, wollen wir in einem Beteiligungsprozess klären, den wir nun mit diesem digitalen Podiumsgespräch beginnen. Ich freue mich darauf, die Standpunkte und Argumente der unterschiedlichen Initiativen zu hören und auf dieser Basis die Auseinandersetzung zu vertiefen.‘“ 7) (Stand: November 2020)
Otto von Bismarck: ein Antisemit?
Der Historiker an der hebräischen Universität Jerusalem, Moshe Zimmermann schrieb dazu 2015 in der Jüdischen Allgemeinen: „Als am 1. April 1815 der spätere Reichskanzler Otto von Bismarck zur Welt kam, gab es den Begriff Antisemitismus noch nicht. Man sprach von Judenfeindschaft, Judenhass oder benutzte das jiddische Wort ‚Risches‘. Als Bismarck im Jahr 1898 starb, war der Ersatzbegriff Antisemitismus bereits seit zwei Jahrzehnten im Umlauf, ein angeblich zeitgemäßer, moderner und wissenschaftlicher Begriff.
Bei der Beantwortung der Frage, ob man Bismarck zu den Antisemiten zählen darf oder nicht, muss man auch auf diese begriffliche Unterscheidung achten. War er ein traditioneller Judenfeind, der Juden als Angehörige einer Religion verachtete, oder ein moderner Antisemit, für den der Begriff Rasse entscheidend ist? (…).
Eines steht fest: Bismarck hat sich, anders als etwa Richard Wagner oder Houston Stewart Chamberlain, mit dem Thema nicht systematisch beschäftigt und war nicht aktiv an einer antisemitischen Debatte beteiligt. Dass er aber Kind seiner Zeit und seiner Gesellschaftsgruppe auch in seiner Einstellung zu den Juden war, zeigen Aussagen wie auch Handlungen Bismarcks. Einerseits akzeptierte er, der ‚Reichsgründer‘, im Jahr 1871 die verfassungsmäßige Verankerung der Gleichberechtigung der Juden.
Anderseits florierte in der Gründerzeit des Kaiserreichs der neue Antisemitismus und erreichte seinen Höhepunkt mit der Einreichung einer antisemitischen Petition an Bismarck im Jahr 1881, unterzeichnet von etwa einer Viertel Million Deutscher. Bismarck hat die Petition zwar ad acta gelegt, nicht aber verurteilt. Einerseits kam ihm die neue antisemitische Welle für seine antiliberale Politik eher gelegen, anderseits waren ihm die neuen antisemitischen Parteien zu populistisch und unzuverlässig.
Kurz: Hier, wie sonst bei Bismarck üblich, ging es ihm um eine eher pragmatische Politik. Pragmatisch war er allerdings auch im Kampf gegen seine bürgerlich-liberalen Gegner, als er Ferdinand Lassalle, den jüdischen Proletarierführer, zu seinem politischen Alliierten machte.
(…) Am häufigsten wird zum Thema ‚Bismarck und die Juden‘ seine Rede vor dem vereinigten preußischen Landtag vom 15. Juni 1847 zitiert. Dort sagte er: ‚Ich bin kein Feind der Juden ... Ich liebe sie sogar unter Umständen. Ich gönne ihnen auch alle Rechte, nur nicht das, in einem christlichen Staate ein obrigkeitliches Amt zu bekleiden.‘ Frei von Judenfeindschaft war er also keineswegs, und er war damals für eine nur eingeschränkte Emanzipation der Juden.
In der Rede fuhr er aber ganz offen fort: ‚Ich gestehe ein, dass ich voller Vorurteile stecke, ich habe sie ... mit der Muttermilch eingesogen ... Ich teile die Empfindung (dass Juden nicht Beamte werden dürfen) mit der Masse der niederen Schichten des Volkes und schäme mich dieser Gesellschaft nicht.‘ Eine bessere Beschreibung der Grundhaltung eines Antisemiten ist kaum vorstellbar. Deshalb wurde gerade diese Stelle auch im antisemitischen Handbuch der Judenfrage bis in die NS-Zeit hinein als Beweis für Bismarcks judenfeindliche Einstellung zitiert.
Für das Gesamtbild ist jedoch relevant, dass Bismarck einerseits später doch, wie bereits erwähnt, für die volle Emanzipation eintrat und die deutsche Verfassung bereits 1869, dann 1871, die Gleichberechtigung der Juden anerkannte – und dass andererseits dieses Zitat aus dem Jahr 1847 im Vergleich zu den Tiraden der rabiaten Antisemiten des Kaiserreichs zur Zeit der Kanzlerschaft Bismarcks, von Richard Wagner über Adolf Stoecker bis hin zu Theodor Fritsch, eher harmlos klingt.
(…) Um aber den Stellenwert der Judenfeindschaft Bismarcks einzuordnen und zu bewerten, ist paradoxerweise eine Stimme aus dem jüdischen Nationalismus, sprich: Zionismus, besonders aufschlussreich. Für den Vater des Zionismus, Theodor Herzl, war Bismarck wahrscheinlich weniger ein Instrument des Antisemitismus, sondern vielmehr der ultimative Schulmeister in Sachen Nationalismus.
Kurz vor dem ersten Zionistenkongress, am 19. Juni 1895, wandte sich Herzl an den sich im Ruhestand befindenden Altkanzler: ‘Ich glaube, die Lösung der Judenfrage gefunden zu haben. Nicht ›eine Lösung‹, sondern ›die‹ Lösung, die einzige.‘ Er erklärte, weshalb er ausgerechnet Bismarck um eine Reaktion auf seine Idee bat: ‚Es muss gleich die letzte Instanz sein. Nur der Mann, der mit seiner eisernen Nadel das zerrissene Deutschland so wunderbar zusammengenäht hat ... nur der ist groß genug, mir endgültig zu sagen, ob mein Plan ein wirklich erlösender Gedanke ist.‘
Nun stellt sich die Frage, ob Herzl sich an Otto von Bismarck wandte, weil er ihn nicht für einen Antisemiten hielt – oder umgekehrt, gerade weil er die judenfeindliche Denkweise Bismarcks (und der Deutschen) kannte und ihn deswegen für eine Lösung der ‚Judenfrage‘ in Form der Auswanderung aus Europa nach Palästina für empfänglich hielt. Herzls politische Ansichten legen eher die zweite Möglichkeit nahe. So oder so reagierte Bismarck wie gewohnt – er beantwortete Herzls Schreiben nicht.“ 8)
Felix Sassmannshausen schreibt in seinem für das Land Berlin verfassten Dossier über Straßen- und Platznamen mit antisemitischen Bezügen in Berlin über Bismarck im Bezug auf Antisemitismus: „Bismarck hatte intensive Kontakte in das antisemitische Lager des Kaiserreichs, etwa mit einem der Anführer der politisch-antisemitischen Bewegung, Adolf Stoecker. Er wurde zum Ehrenmitglied des antisemitischen Alldeutschen Verbandes ernannt. Selber ist er nicht für antisemitische Äußerungen bekannt. Die 'Antisemitenpetition' hat er nicht verurteilt. Allerdings unterstützte er mit der Reichsgründung faktisch auch die jüdische Emanzipation im Kaiserreich, gegen die er sich allerdings noch 1847 ausgesprochen hatte.“ 9) Sassmannshausen gibt für den Umgang mit dem Straßennamen: „Digitale Kontextualisierung“ an. 9)
Bismarck und die Frauen
An Bismarcks Leben hatten verschiedene Frauen Anteil. In ihrer Studienarbeit „Bismarck und die Frauen“ gehen Maxi Pötzsch und Maria Palaschevsky der Frage nach, welchen Einfluss Frauen auf Bismarcks Leben hatten. Beginnen wir mit der Mutter Louise Wilhelmine Mencken. Sie „gab Otto im Alter von sechs bis zwölf Jahren in die Plamnnsche Lehranstalt. (…) In dieser Zeit fand er kaum mütterliche Beachtung und er erinnerte sich stets ungern und meist mit Bitterkeit an diese Zeit. (…) Die Mutter wählte für ihren Sohn die Universität Göttingen aus und wollte, dass er das Studium erfolgreich abschließt, um der Familie Ehre zu machen. (…) Zeit ihres Lebens dominierte sie ihren Sohn und versuchte, ihm viele Entscheidungen abzunehmen und seine beruflichen Wege zu lenken“. 10)
Erst nachdem die Mutter 1839 gestorben war, fühlte sich Bismarck frei. „Die Beziehung zu seiner Mutter wurde nach Klußmann [Rudolf Klußmann: Bismarck im Licht der Psychosomatik: Macht und Ohnmacht des ‚Eisernen Kanzlers‘, Lengerich 2004, S. 30] als sehr ambivalent charakterisiert, da er sie ablehnte und zugleich bewunderte.“ 11).
Ein liebesvolles und sehr vertrauensvolles Verhältnis hatte Bismarck zu seiner Schwester Malwine (1827-1908). „Der Schwester vertraute er sich nicht nur in privaten, sondern auch in vielerlei politischen Angelegenheiten an (…).“ 12) Waltraut Engelberg analysiert: „Warum fand diese Malle in den Augen Bismarcks so viel Nachsicht? Vorsicht ist geboten bei Erklärungsversuchen, doch es ist wohl anzunehmen, dass er Ähnlichkeiten mit der Mutter bei ihr sah. Malwine war elegant und weltläufig, sie hatte Geschmack und begriff offensichtlich auch Bismarcks Probleme. Sie kannte den Lebensstil auf dem Lande, wusste sich aber auch in der Gesellschaft zu bewegen. Ihr Stolz fand Befriedigung darin, einen berühmten Bruder zu haben, und der fühlte sich von ihr verstanden und nicht kujoniert wie einst von der ehrgeizigen Mutter.“ 13)
Vor und auch während seiner Ehe soll Bismarck sich als so genannter Lebemann manch nette Stunde gemacht haben. Biographen sprechen von zahlreichen Affären, die er gehabt haben soll. Maxi Pötzsch und Maria Palaschevsky schreiben dazu: „Der unermüdliche und unterbewusste Drang nach Anerkennung, nicht nur nach Geborgenheit, trieb Otto von Bismarck sein Leben lang in die Arme unzähliger Frauen. So hatte er bereits in seinen Jugendjahren Beziehungen zu mehreren Frauen, an denen er meistens ‚Attraktivität, Lebendigkeit, Intelligenz und Repräsentative schätzte‘. Pflanze [ nach Pflanze, Otto: Bismarck, Band 1: Der Reichsgründer, München 1997, S. 59] ist jedoch der Meinung, dass die Langeweile der Arbeit als Verwaltungsfachangestellter, Bismarck zu seinen vielen Liebesabenteuern trieb.“ 14)
Geheiratet hat Bismarck 1847 Johanna von Puttkamer (11.4.1824 Viartlum/Pommern - 27.11.1894 Varzin). Dazu hielt er ganz im Sinne des patriarchalen Gesellschaftssystems, in dem die Tochter aus dem Eigentum des Vaters in den Besitz des Ehemannes übergeht, beim Vater der Braut um die Hand dessen Tochter an. So schrieb er im Dezember 1846 an Vater Puttkamer: „Ich beginne dieses Schreiben damit, daß ich Ihnen von vornherein seinen Inhalt bezeichne: es ist eine Bitte um das Höchste, was Sie auf dieser Welt zu vergeben haben, um die Hand Ihres Fräulein Tochter. Ich verhehle mir nicht, daß ich dreist erscheine, wenn ich, der ich erst neuerlich und durch sparsame Begegnungen Ihnen bekannt geworden bin, den stärksten Beweis von Vertrauen beanspruche, den Sie einem Manne geben können. Ich enthalte mich auch jeder Beteuerung über meine Gefühle und Vorsätze in bezug auf Ihre Tochter, denn der Schritt, den ich tue, spricht lauter und beredter davon, als Worte vermögen.“ 15)
Johanna von Puttkamer war ganz im pietistischen evangelisch-christlichen Glauben erzogen worden. Nach der Heirat mit Bismarck: „umsorgte [sie] ihn fortan als sein Schutzengel, (…) als der gute Geist seiner Häuslichkeit, ganz Weib wie er ganz Mann. Sie war und blieb fremd in seinem Lebenselement, der Politik; aber sie ging mit ihm in all seinem Lieben und Hassen und tat ihm dadurch in tiefer Seele wohl.‘ [Arnold Oskar Meyer: Bismarck: Der Mensch und der Staatsmann. Stuttgart 1949, S. 46f.] Johanna mischte sich nicht in seine politischen Arbeiten ein und nahm keine Wertungen über das politische Handeln Bismarcks vor. ‚Aber ihres Mannes politische Gegner waren ihr ein persönlicher Greul, viel mehr als ihm selber.‘ [ Petrich Hermann: Bismarck und Pommern. 50 Bismarckgeschichten aus seinen pommerschen Tagen. Hagenow 2007, S.85].“ 16)
Bismarck selbst schrieb einmal an seine Frau, warum er sie geheiratet habe: „(…) ich habe Dich geheiratet, um Dich in Gott und nach dem Bedürfnis meines Herzens zu lieben und um in der fremden Welt eine Stelle für mein Herz zu haben, die all ihre dürren Winde nicht erkälten und an der ich die Wärme des heimatlichen Kaminfeuers finde, an das ich mich dränge, wenn es draußen stürmt und friert; nicht aber, um eine Gesellschaftsfrau für andre zu haben.“ 16)
Das Ehepaar Bismarck bekam drei Kinder. Über seine Gefühle als Vater und Ehemann, der oft nicht zu Hause sein konnte, weil er seinen politischen Geschäften in Berlin nachgehen musste, schrieb er einmal: „Das Herz eines Ehemannes und Vaters, wenigstens das meinige in diesen Verhältnissen, paßt nicht in das Treiben der Politik und Intrique.“ 17)
Und Waltraut Engelberg schreibt über das Eheleben der Bismarcks: „Im Gegensatz zu seiner neun Jahre jüngeren Frau, die sich ständig in Pflicht- und Pflegeeifer verzehrte, beherrschte Bismarck die Kunst, sich zu entspannen. Vorzüglich gelang ihm das bei der Jagd (…).“ 18)
Kurz vor Johanna von Bismarcks Tod erklärte Bismarck gegenüber dem behandelnden Arzt Schweninger: „Ich habe nur noch sie – und wenn sie abberufen wird, möchte ich auch nicht hierbleiben. Mann nennt mich immer fälschlich den ‚Einsiedler im Sachsenwald.‘ ich bin aber ein Zweisiedler … Alles, was ich geworden bin, verdanke ich meiner Frau (…).“
Unter dem Tod seiner Frau Johanna litt Bismarck sehr, empfand alles als öde und leer und zog sich nach Friedrichsruh zurück. Seine Tochter Marie folgte ihm mit ihrer Familie, um ihn nicht allein dort leben zu lassen.