Hamburger Straßennamen -
nach Personen benannt

Gräningstieg

Stellingen (1962): Richard Gräning (7.11.1897 Schwerin - 1958), Geschäftsführer und Vorstandsmitglied der Gemeinnützigen Baugenossenschaft freier Gewerkschafter.


Siehe auch: Ostermeyerstraße

Der gelernte Kaufmann und ehrenamtlich tätiges Gewerkschaftsmitglied Richard Gräning wurde 1931 zum geschäftsführenden Vorstandsmitglied der Gemeinnützigen Baugenossenschaft freier Gewerkschafter ernannt.
„Die Anfänge der Baugenossenschaft freier Gewerkschafter gehen auf 24. Februar 1922 zurück. Mit dem erklärten Ziel, der Wohnungsnot in der Hansestadt zu begegnen und sicheren Wohnraum zu günstigen Preisen zu schaffen, trafen sich 16 Gewerkschafter und gründeten die Genossenschaft. Die erste Geschäftsstelle war im Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof. Einen prägenden Einfluss hatte Richard Gräning (1897–1958), der von 1926 bis 1958 im Vorstand war und 1931 zu einem hauptamtlichen geschäftsführenden Vorstandsmitglied bestellt wurde. Er blieb bis 1958 in dieser Funktion. Die Straße Gräningstieg in Stellingen wurde 1962 nach ihm benannt. Dort befindet sich auch eine Wohnanlage der bgfg. (…).“ 1)

Über die ersten Wohnhäuser der Gemeinnützigen Baugenossenschaft auf dem Gelände Marckmannstraße/Freihafenstraße/Billhorner Kanalstraße heißt in der Chronik der Baugenossenschaft u. a.: „Der damals bekannte Architekt F R. Ostermeyer [siehe: Ostermeyerstraße] - einer der Planer. die mit dem Baudirektor Fritz Schumacher [siehe: Fritz-Schumacher-Allee] dem Kleinwohnungsbau in Hamburg besondere Gestalt verliehen - erhielt den Auftrag für Planung und Durchführung.

Er entwarf eine Wohnanlage mit 242 Wohnungen. die den Vergleich mit den besten Arbeiten dieser Zeit (z. B. Dulsberg) nicht zu scheuen brauchte. Der Baukörper wies an seinen Flügeln fünf und in seinem Mittelteil sechs Geschosse auf. An den Nahtstellen gaben Turmhäuser mit sechs Wohngeschossen und einem hohen Bodenraum unter einem Flachdach dem Block sein besonderes Gepräge. An der Straßenseite waren die Häuserfronten mit einem dunkelroten Verblendmauerwerk ausgeführt, das kunstvoll verziert war mit Schmucksteinen und Terrakotten.
Baugenehmigungen und Ausführungen erfolgten in einem aus heutiger Sicht atemberaubenden Tempo. Die Rammarbeiten begannen am 25. Februar 1924. Im Juli 1926 waren alle vier Bauabschnitte mit insgesamt 242 Wohnungen bezogen. Ein weiteres Beispiel: Gegenüber vom Block Marckmannstraße wurde auf der Ostseite der Freihafenstraße eine weitere Hauszeile mit drei Eingängen und fünf Geschossen errichtet. Grundlage waren die Pläne von Ostermeyer für die Marckmannstraße. Die Baugenehmigung lag am 6. Juni 1924 vor. Die Wohnungen wurden im April 1925 bezogen – nach etwas über 10 Monaten Bauzeit. (…) Das Bauvorhaben wurde zu 85 Prozent durch staatliche Beihilfen und 15 Prozent Eigengeld finanziert.“ 2)

Über die Arbeit des Vorstands, in dem Gräning tätig war, heißt es: „Das Trio Gräning / Hellmuth /Baumann (bis 1929 Paarmann) konnte in enger Zusammenarbeit mit dem Aufsichtsrat bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 ein gewaltiges Bauprogramm verwirklichen:
• 1927 Süderstraße/ Borstelmannsweg (Hamm), 84 Wohnungen, 2 Läden. Damals schon mit Bädern, zentraler Warmwasserversorgung, Etagenheizung (NARAG) und Gemeinschaftswaschküche.
• 1928 Elligersweg (Barmbek -Nord), 101 Wohnungen, 1 Laden. Technische Ausstattung wie vor. Die besondere Attraktion: Den Hausfrauen wurde die Arbeit erleichtert. Sie konnten ihre Wäsche in die Wäscherei geben. Eine bei der Genossenschaft angestellte Wäscherin besorgte die Arbeit in einer modern eingerichteten Wäscherei. Für einen günstigen Preis wurde die Wäsche in einem Tag schrankfertig ausgeliefert. Im Innenhof befand sich für die Kinder auf dem Spielplatz ein Planschbecken. Wäschereien und Planschbecken wurden zum ‚Markenzeichen‘ der Genossenschaft.
• 1929/30 Wilhelmsburger Straße/ Am Gleise (Veddel), direkt am Freihafen - 160 Wohnungen, 2 Läden. 1931 Alsterdorfer Straße/Bilser Straße (Alsterdor0. 188 Wohnungen und eine Ladenzeile.
• 1931 Rümkerstraße (Barmbek-Nord), im Anschluss an die Wohnanlage Elligersweg, 113 Wohnungen, 2 Läden.
In sieben Jahren hatte die Genossenschaft 646 Wohnungen errichtet - und das mit einem ehrenamtlichen Vorstand! Erst 1931 wurde Richard Gräning zu einem bescheidenen Gehalt als geschäftsführendes Vorstandsmitglied hauptamtlich bestellt.“3)

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurden die Baugenossenschaften „gleichgeschaltet“.
„Gleichschaltung“ bedeutete auch, dass die jüdischen Mitglieder der Baugenossenschaft aus der Mitgliedschaft ausgeschlossen wurden. Aus diesem Grunde, um ihre jüdischen Mitglieder nicht ausschließen zu müssen, gab es Vereine, die sich selbst auflösten.

Die Satzung der Genossenschaft wurde NS-konform angepasst. So wurde z. B. der Satz aufgenommen: „Juden können nicht Mitglieder und Mieter unserer Genossenschaft sein.“ Dieser Satz wurde nach der Befreiung vom Nationalsozialismus wieder aus der Satzung gestrichen.

Aber was geschah mit den jüdischen Familien, die Mieterinnen solcher Wohnungen waren? In der Chronik wird darüber nicht berichtet.

In der Chronik der Baugenossenschaft heißt es über die „Übernahme“ der Baugenossenschaft durch die Nationalsozialisten: „Die Vorstandsmitglieder unserer Genossenschaft mussten ihre Ämter niederlegen. Der gesamte Aufsichtsrat wurde zum Rücktritt gezwungen. Nur das geschäftsführende Vorstandsmitglied Richard Gräning blieb im Amt. Auf seine Kenntnisse wollten die Nazis nicht verzichten. Kollegen hatten ihn gebeten, die Genossenschaft über die schwere Zeit hinwegzuretten. Richard Gräning trat der Partei (NSDAP) bei [Eintritt 1937, Mitgliedsnummer 4051700, R. B. 4)], vergaß aber nicht seine alten Genossen und half wo er konnte. So kam es, dass er nach Kriegsende 1945 ausdrücklich als Vorstand bestätigt wurde.

Auf der Generalversammlung 1933 wurden ‚politisch einwandfreie‘ Parteigenossen in den Vorstand gewählt: Gustav Buck (Händler) und Otto Buchholz (Kraftfahrer) quasi als ‚Aufpasser‘ für Gräning. Natürlich war für die Nazis, die gerade die Gewerkschaften liquidiert hatten, der Titel ‚Baugenossenschaft freier Gewerkschafter‘ untragbar und so wurde der nichtssagende Titel ‚Baugenossenschaft deutscher Arbeiter‘ eingeführt. Block- und Hausobleute wurden abgeschafft. Alle Genossen mussten statt einer Gewerkschaft nun der ‚Deutschen Arbeitsfront‘ (DAF) angehören.“ 5)
Es handelte sich um eine „freiwillige aber erwünschte“ Einheitsmitgliedschaft. Die DAF war ein rechtlich der NSDAP angeschlossener Verband „mit ca. 23 Mio. Mitgliedern (1938) die größte NS-Massenorganisation. Als Einheitsgebilde ‚aller schaffenden Deutschen‘ konzipiert, schuf ihr Reichsleiter Robert Ley ein vielgliedriges, bürokratisch aufgeblähtes Organisationsimperium, mit dem er nahezu alle Felder der nat.soz. Wirtschafts- und Sozialpolitik einzudringen trachtete. Entscheidender Einfluß auf materielle Belange in diesem Bereich blieb der DAF jedoch verwehrt, vielmehr musste sie sich auf die allgemeine Betreuung und weltanschauliche Schulung ihrer Mitglieder beschränken.“ 6)

Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus fand am 18. November 1945 im Gewerkschaftshaus die erste Generalversammlung der Genossenschaft statt. „Vom alten Vorstand und Aufsichtsrat erschien nur Geschäftsführer Richard Gräning zu der Versammlung, um Rechenschaft abzulegen. Der in der NS-Zeit tätige Aufsichtsrat hatte seinen Rücktritt erklärt und den Vorsitzenden des ‚Überwachungsausschusses‘. Max Kretzschmer, beauftragt, die Mitgliederversammlung zu leiten. Der Ausschuss hatte von der Militärregierung den Auftrag erhalten, den ‚nationalsozialistisch behafteten‘ Aufsichtsrat zu überwachen. bis ein neuer gewählt ist.

Gräning gab einen Überblick über die Geschäftsjahre 1943 und 1944. In der Aussprache unterstrich Andreas Nielsen. der später mit großer Mehrheit zum Aufsichtsratsvorsitzenden gewählt wurde. dass Richard Gräning von Genossenschaftsmitgliedern den Auftrag hatte, die Genossenschaft über die Nazi -Zeit hinwegzuretten und Gräning deshalb der NSDAP beitreten musste. (…).“ 7)

Die „Entnazifizierung“ fand folgendermaßen statt. „Schon auf der ersten Generalversammlung wurde die Satzung wieder den alten Idealen angepasst und vom nationalsozialistischen Gedankengut entrümpelt. Der alte Name ‚Baugenossenschaft freier Gewerkschafter‘ wurde wieder angenommen. (…)

Einstimmig beauftragte die Versammlung den Aufsichtsrat, den als ‚aktive Nazis‘ aufgefallenen Mitgliedern die Wohnungen zu entziehen und ausgebombten Mitgliedern durch die Behörde zuweisen zu lassen. Einige Monate später beschlossen Aufsichtsrat und Vorstand, neun Mitglieder auszuschließen und ihnen die Wohnung zu entziehen. (…)

Besser erging es Parteimitgliedern, die im Block Veddel wohnten. Als die englische Militärregierung für einige Monate zwei Häuser des Blocks für Mitarbeiter beschlagnahmt hatte, mussten die politisch belasteten Familien zusammenrücken und sich jeweils zu zweit eine Wohnung teilen. Die auf diese Weise frei werdenden Wohnungen wurden den Familien zugewiesen. die den Engländern weichen mussten. Hermann Neuburg. Mitglied des Aufsichtsrates, sagte den ehemaligen Wohnungsinhabern zu, dass sie nach Aufhebung der Beschlagnahme wieder in ihre Wohnung zurück dürften. Der Aufsichtsrat akzeptierte diese Zusage. Damit war die ‚Entnazifizierung‘ in der Genossenschaft abgeschlossen.“ 8)

Nun begann der Wiederaufbau. Es herrschte große Wohnungsnot und Gräning packte wieder an. „Die 50er Jahre mit dem schnellen Wiederaufbau zerstörter Wohnanlagen wurden geprägt von Richard Gräning, der seit 1923 der Genossenschaft angehörte und seit 1926 geschäftsführender Vorstand war. Er pflegte die Verbindung zu den Ämtern, den Unternehmen, kannte jeden Block- und jeden Hausobmann persönlich. Er war bescheiden und trotzdem durchsetzungsfähig. Mit Fritz Kanngießer als technischem Vorstandsmitglied an seiner Seite gab es keine Probleme, die nicht zu lösen waren. Als nebenamtliches Vorstandsmitglied stand Paul Eckelmann seinen Kollegen zur Seite. (…).“ 9)

1958 verstarb Gräning unerwartet nach kurzer Krankheit im Alter von 61 Jahren.