Güntherstraße
Hohenfelde (1863): Johann Arnold Günther (9.4.1755 Hamburg -20.8.1805 Hamburg), Vorbesitzer des Geländes. Senator, Aufklärer, Mitbegründer der Allgemeinen Armenanstalt
Siehe auch: Gräpelweg
Johann Arnold Günther war der Sohn von Johann Arnold Günther Senior (1715-1794), ein wohlhabender Hamburger Kaufmann und dessen Ehefrau Christina, geborene Hey (1728-1770). Johann Arnold Günther Senior wünschte, dass sein Sohn ebenfalls Kaufmann werde und nahm ihn, als dieser 14 Jahre alt war, von der Schule, und schickte ihn ins Kontor.
Doch der Junior interessierte sich schon seit Kindertagen mehr für Literatur und ließ sich nicht davon abbringen. Dazu schreibt Franklin Kopitzsch in seiner Biografie über Günther: „Erste Veröffentlichungen des Sohnes in den ‚Hamburgischen Addreß-Comtoir-Nachrichten‘ und im ‚Wandsbecker Bothen‘ führten dazu, dass Günther doch noch das Johanneum und das Akademische Gymnasium besuchen konnte. Mit Johann Carl Daniel Curio und Friedrich Johann Lorenz Meyer gehörte er einer literarischen Gesellschaft Hamburger Schüler an.“ 1)
Hartmut Ring, ein Nachfahre von Johann Arnold Günther, schreibt in seinem Buch „Ein Porträt der Aufklärung. Auf den Spuren eines Pastellgemäldes aus dem 18. Jahrhundert“, das Johann Arnold Günthers Ehefrau darstellt, dass der damals 15-jährige Johann Arnold Günther im Todesjahr der Mutter 1770 seine Gedichte seinem verwitweten Vater widmete. „Offenbar war der nüchterne Kaufmann, dem die Literatur eine fremde Welt war, darüber sehr gerührt. Jedenfalls machte er nun ein weiteres Zugeständnis: Der Sohn durfte wieder die Schule besuchen (.,.).“ 2)
Bevor Günther zum Studieren nach Göttingen ging, verlobte er sich heimlich mit seiner zwei Jahre älteren Cousine Maria Cornelia, genannt Nelly Krochmann (14.9.1753 Hamburg – 10.9.1796 Marburg). Sie war die Schwester von Anna Catharina Gräpel, geborene Krochmann (siehe: Gräpelweg). „Eines seiner frühen Gedichte: ‚Einer Freundinn am Rande der Elbe entgegen gesungen‘, hatte Arnold für Nelly geschrieben. In diesem Gedicht nähert sich die Besungene ‚mit bescheidenem Lächeln‘ in einem Nachen ‚des Gestades Blumenrand‘, während der Wind ‚des besten Mädchens Rosenwangen kühlt‘.“ 3)
Johann Arnold Günther studierte Rechts- und Kameralwissenschaften, Geschichte und Statistik. 1778 schloss er das Studium mit dem juristischen Licentiatengrad ab. Danach unternahm er – wie damals viele junge Männer nach Beendigung ihres Universitätsstudiums – eine längere Reise durch europäische Städte – Günther lernte Böhmen, Ungarn und andere Städte und Gegenden Deutschlands kennen. „Im J. 1780 nach Hamburg zurückgekehrt, beschäftigte sich der vermögende junge Gelehrte [er hatte von seinem Vater eine vorgezogene Erbschaft erhalten, R. B) weniger mit der Advocaturpraxis, als vielmehr mit den öffentlichen Angelegenheiten seiner Mitbürger“ 4), schreibt Otto Beneke 1879 in seiner Biografie über Johann Arnold Günther.
Als Anwalt sah sich Günther nicht. Durch sein mütterliches Erbe, das er nach dem Tod seiner Mutter ausbezahlt bekam, war er materiell unabhängig geworden und war auf den Broterwerb als Advokat nicht angewiesen. 1781 trat er der Patriotischen Gesellschaft bei, wurde bereits ein Jahr später Vorsteher und 1790 Sekretär der Gesellschaft.
In dieser Zeit, 1781, heiratete Günther seine Cousine Maria Cornelia Krochmann (1753 - 1796). Zuvor war er während des Studiums einige Zeit ins Wanken gekommen, denn er hatte sich in eine andere Frau verliebt und wollte später ehelos bleiben. Doch als er seine Verlobte wiedersah, schrieb er an einen Freund: „Mein Entschluss, ehelos zu bleiben, wurde wankend, mein ganzes Herz erwärmt, die Reinigkeit dieser Engelsseele – Freund du kennst sie – verbreitete sich in die meinige und in der glücklichsten Stunde meines Lebens gelobten ich und Cornelia Krochmann uns ewige Liebe. Unsere Verwandte gaben ihren herzlichen Beyfall, mein Vater fand alle seine Wünsche erfüllt und in drei Monaten hoffe ich der glücklichste Ehemann zu seyn. Lieber Wagenseil, ich will alles hingeben, um mich des guten., lieben Weibes würdig zu machen, will mich von ihr leiten und lenken lassen! Finde ich bey ihr nicht den Frieden, der mich bisher floh, so finde ich ihn nirgends! 5).
Da die Ehe kinderlos blieb, übernahm Günther eine Vaterrolle für seine damals zweieinhalbjährige Nichte Kätchen Ruesz (1779-1811), deren Vater vier Monate nach Günthers Hochzeit gestorben war. Günther wurde Kätchens Vormund, Nelly die Patentante. Kätchen Ruesz heiratete Georg Kirchenpauer (1773-1844) und bekam mit ihm den Sohn Gustav Heinrich Kirchenpauer (1808-1887), nach dem der Kirchpauerkai und die Kirchenpauerstraße benannt wurden (siehe: Kirchenpauerkai).
Günther war Anhänger der Aufklärung und gehörte der sich seit 1783 monatlich treffenden Tischgesellschaft an, deren Mitglieder zum Beispiel Johann Georg Büsch (siehe: Büschsstraße) und Friedrich Gottlieb Klopstock (siehe: Klopstockstraße) waren.
Günther war Anhänger der Aufklärung und gehörte der sich seit 1783 monatlich treffenden Tischgesellschaft an, deren Mitglieder zum Beispiel Johann Georg Büsch (siehe: Büschsstraße) und Friedrich Gottlieb Klopstock (siehe: Klopstockstraße) waren.
Günther sah in Hamburg viele soziale Missstände, die er bekämpfen wollte. Er war der Überzeugung, dass zum Beispiel die Verarmung von Witwen und Waisen vermieden werden könne. Dabei hatte er die Witwen und Waisen des Bürgertums im Auge, die geerbt hatten. „Das Vermögen von Witwen und Waisen, das meistens in Grundbesitz und Renten (Hypotheken) angelegt war und das bei dem starken Rückgang der Miet- und Grundstückpreise oft gefährdet wurde, mußte besser gesichert werden. Seine Reformversuche auf diesem Gebiet fanden bald Anklang, und er wurde zum Mitdirektor der Allgemeinen Versorgungsanstalt gewählt, die sich in der Hauptsache der Vermögenslage unversorgter Frauen und Mädchen [des Bürgertums, R. B.] annahm.“ 6)
Aber auch um die Armut kümmerte sich Günther: „Günther war 1788 zusammen mit Büsch, Nicolaus Matsen und Caspar Voght [siehe: Caspar-Voght-Straße] maßgeblich an der Gründung der Allgemeinen Armenanstalt beteiligt.“ 7) Das Prinzip der Allgemeinen Armenanstalt war, Armen Arbeit zu geben anstatt Almosen, Alte und Kranke zu versorgen und Kindern eine Ausbildung zu vermitteln.
Was bot die Allgemeine Armenanstalt armen Frauen?
Die 1788 ins Leben gerufene Allgemeine Armenanstalt, deren Sitz im alten Waisenhaus war, unterstützte Arme, die ohne fremde Hilfe finanziell nicht ihr Auskommen hatten. In der Regel mussten sie als Gegenleistung für die Armenanstalt arbeiten.
Bei der Armenanstalt handelte es sich nicht um eine staatliche Armenpflege, der Staat übernahm die Anstalt erst 1865. Die Armenanstalt war eine unter obrigkeitlicher Leitung stehende milde Stiftung. Der Staat beteiligte sich an der Verwaltung und ihrer Finanzierung, gab der Anstalt polizeiliche Befugnisse über die Armen. Die Kosten wurden hauptsächlich durch „milde Beiträge“ aufgebracht. Die Stadt wurde in 60 Armenquartiere eingeteilt. In jedem Quartier teilten sich drei freiwillige Pfleger die Arbeit. 12 Armenquartiere wurden zu einem Hauptarmenbezirk zusammengefasst. Solch einen Hauptarmenbezirk standen zwei freiwillige Armenvorsteher vor, die mit fünf Senatoren und zwei Oberalten die Verwaltung des „kleinen Armen=Collegiums“ bildeten.
Im 18. Jahrhundert zählte ein Drittel der Hamburger Bevölkerung zur Armutsschicht. Armut traf in erster Linie Frauen. Von den in den Jahren 1793-96 von der Allgemeinen Armenanstalt unterstützten Armen waren 75% alleinstehende Frauen. Das waren in der Hauptsache alte Witwen, die aufgrund ihres Alters auf dem freien Arbeitsmarkt keine Arbeit mehr fanden (Renten gab es damals noch nicht) und alleinstehende jüngere Frauen, besonders, wenn sie Kinder zu versorgen hatten.
Ursachen der Verarmung von Frauen:
- ein zu geringer Verdienst. Frauenarbeit wurde nur als Zuverdienst zum Einkommen des Ehemannes angesehen,
- Arbeitslosigkeit. Frauen verrichteten hauptsächlich Saisonarbeit,
- Tod des Ehemannes als dem Haupternährer der Familie.
- Eine nicht unerhebliche Anzahl von Männern, die im Stande war, ihre Familie zu ernähren, verließ diese und war weder durch die Ermahnungen der Vorsteher und Pfleger der Allgemeinen Armenanstalt noch durch Gerichtsbeschluss dazu zu bewegen, etwas zum Unterhalt ihrer Ehefrauen und ihrer Kinder aufzuwenden.
- Ein Teil der arbeitsfähigen Männer zwang seine Frauen, das Almosen, welches den Frauen zugesprochen war, mit ihm zu teilen. Durch dieses Vorgehen der arbeitsfähigen, aber nicht arbeitswilligen Ehemänner, verarmten die Ehefrauen durch die Schuld ihrer Ehemänner.
- Im 18. Jhd. verarmte außerdem ein großer Kreis von Bürgersfrauen, die der kleinen „von der Krämergilde freigelassenen Krämerei“ angehörten.
- Auch verarmten ledige erwerbstätige Frauen völlig, wenn sie ein Kind bekamen.
Als Gegenleistung für die gewährte Unterstützung mussten die Armen für die Armenanstalt arbeiten, z. B. in der manufakturmäßig organisierten Flachsspinnerei. Von November 1789 bis Oktober 1790 waren 1353 Spinnerinnen dort tätig.
Zwischen Besitzern von Hamburger Manufakturen und der Allgemeinen Armenanstalt kam es zu einer Zusammenarbeit, wenn sich arbeitssuchende Arme bei der Armenanstalt meldeten. Um ihnen Arbeit zu geben, schickte die Armenanstalt sie zur Arbeit in Manufakturen, mit deren Besitzern die Anstalt zuvor einen Vertrag abgeschlossen hatte, damit diese Armen in Arbeit genommen wurden. Der Manufakturbesitzer brauchte nur ein Viertel des üblichen Lohnes an diese Armen zahlen, der Rest des Lohnes wurde von der Allgemeinen Armenanstalt ausgezahlt. Manufakturbesitzer und Armenanstalt waren sich einig darüber, dass der Lohn das Existenzminimum nicht überschreiten sollte.
Zwischen den Männer- und Frauenlöhnen, die die Allgemeine Armenanstalt zahlte, herrschte jedoch eine große Diskrepanz. So bekam ein halb arbeitsfähiger Mann, der sich bei der Fabrik-Deputation der Allgemeinen Armenanstalt als Armer hatte registrieren lassen und daraufhin Fortifikationsarbeiten verrichtete, wöchentlich 36 Schillinge Lohn. Eine bei der Allgemeinen Armenanstalt beschäftigte Spinnerin hingegen erhielt wöchentlich nur zwischen 22 und 40 Schillinge, wobei 40 Schillinge nur eine sehr gute Spinnerin bekam, im Gegensatz zu dem halb arbeitsfähigen Mann, der 36 Schillinge die Woche erhielt.
Obwohl die Arbeitsgänge nicht vergleichbar sind, da es sich nicht um gleiche Arbeit handelte, muss eine Gegenüberstellung der Einkünfte aus diesen unterschiedlichen Arbeitsbereichen zulässig sein, denn die Fortifikationsarbeit der Männer und auch die Flachsgarnspinnerei der Frauen waren Arbeiten, die die Allgemeine Armenanstalt denjenigen Armen gab, die Unterstützung bedurften, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Diese Männer und diese Frauen hatten also die gleichen schlechten Lebensbedingungen und sowohl der Mann als auch die Frau waren gezwungen, genügend zu verdienen, um sich damit das Nötigste zum Leben leisten zu können. Da die wöchentlich an den Mann gezahlten 36 Schillinge Lohn die allgemein errechnete Geldsumme war, die eine Person wöchentlich zum Leben benötigte, wurden die bei der Allgemeinen Armenanstalt beschäftigten Frauen also empfindlich benachteiligt. Denn das Gros der Frauen war nicht die mitverdienende Ehefrau, sondern die alleinstehende Frau, die für Miete (z.B. 3 Schillinge in der Woche), Kleidung, Heizung etc. genauso viel aufbringen musste wie ein alleinstehender Mann.
Wenn Frauen und Männer von der Armenanstalt abhängig wurden, dann waren sie starken Reglementierungen ausgesetzt, die in ihre Lebensweise eingriffen. So wurden z. B. die Wohnverhältnisse der Armen von Inspektoren kontrolliert. Den Armen wurden Vorschriften gemacht, wie sie zu leben hätten. Weißbrot und Bohnenkaffee galten als verwerflicher Genuss. Mit scharfen Sanktionen wurde gegen diejenigen Armen vorgegangen, die sich der ihnen von der Allgemeinen Armenanstalt auferlegten Art zu leben und zu arbeiten widersetzten. So hieß es in § 12 der Armenordnung von 1788: „Wer nicht arbeiten will, faul dabei ist, betrunken ist, Zahlen-Lotto spielt, Materialien verdirbt, versetzt oder verkauft, kommt ins Zuchthaus und wird dort so lange zur Arbeit gezwungen, bis man meint, dass er gebessert ist.“.
Wie weit die Allgemeine Armenanstalt in die Lebensführung armer Frauen eingriff, wird deutlich in der Lebensbeschreibung der Anna Maria Meiern.
Aus dem Studium der Akten der Allgemeinen Armenanstalt und der Gefängnisverwaltung konnten typische Frauen“schicksale“ ermittelt werden. Hier der der fiktive Lebenslauf von Anna Maria Meiern: Anna Maria Meiern war 18 Jahre alt. Sie wohnte mit ihren Eltern und ihren zwei Schwestern in einem Saal im Trampgang. Der Saal war das obere Stockwerk eines Hauses, in den man über eine steile, schmale Treppe gelangte. In dieser Wohnung gab es weder Toiletten noch Wasserstellen; diese befanden sich auf dem Hof.
Das Mobiliar bestand aus einem alten Schrank, einem Tisch, einigen Kisten, einem Stuhl und zwei Betten. In dem einen Bett, in dem als Unterlage Stroh lag, das mit einer wollenen Decke bedeckt wurde, musste Anna Maria mit ihren zwei Schwestern schlafen.
Ihr Vater arbeitete als Arbeitsmann bei den Maurern, ihre Mutter wusch für fremde Leute und die beiden kleineren Schwestern gingen in die Spinnschule, die von der Allgemeinen Armenanstalt unterhalten wurde. Dort lernten die Mädchen Spinnen und Stricken. Sie sollten zu fähigen Arbeiterinnen erzogen werden, die mühelos nach der Konfirmation in den Wirtschaftsprozess eingegliedert werden konnten. Denn das Bürgertum und damit auch die Allgemeine Armenanstalt ging davon aus, dass die Frauen aus der Unterschicht ständig einer Lohnarbeit nachgehen müssten, auch wenn sie verheiratet waren.
Anna Maria Meiern arbeitete als Kattunschilderin in einer Kattundruckerei. Dort hatte sie einen 12stündigen Arbeitstag und musste einer Arbeit nachgehen, die nur als Anlernarbeit galt und dementsprechend gering bezahlt wurde. Ihre Tätigkeit bestand darin, Farben, die nicht mit der Druckplatte aufgetragen werden konnten – z. B. das Indigo – ein blauer Farbstoff – mit dem Pinsel auf den Stoff aufzumalen.
Aber ihre Tätigkeit als Kattunschilderin währte nicht lange. Als im Winter die Bleichen mit Schnee bedeckt waren, die Alster zugefroren war und die Schiffe, die aus Übersee die Baumwolle (Kattun) brachten, nicht mehr so häufig einlaufen konnten, wurden nicht mehr so viele ArbeiterInnen benötigt – Anna Maria wurde arbeitslos.
Da ihre Familie sie nicht noch zusätzlich unterhalten konnte, versuchte Anna Maria auf dem freien Arbeitsmarkt eine neue Stelle zu finden. Doch sie bekam nur abschlägige Antworten. So blieb ihr nichts anderes übrig, als bei der Allgemeinen Armenanstalt anzufragen. Und siehe da: hier bekam sie sofort Arbeit. Sie wurde zum Tuchfabrikanten Dreyer geschickt, in dessen Manufaktur sie auf dem großen Rade Wolle spinnen sollte. Bei diesem Herrn hatte Anna Maria einen Tag zuvor nach Arbeit gefragt und eine abschlägige Antwort erhalten. Nun aber wurde sie von der Allgemeinen Armenanstalt zu ihm geschickt, mit der Herr Dreyer in einem Kontraktverhältnis stand. Erhielt er von der Allgemeinen Armenanstalt Arbeitskräfte vermittelt, dann brauchte er diesen nur ein Viertel des ortsüblichen Lohnes zu bezahlen, weil die Allgemeine Armenanstalt den Rest des Lohnes entrichtete.
Von dem Tage an, an dem Anna Maria bei der Allgemeinen Armenanstalt registriert war, wurde ihrer Lebensweise überwacht. Ihr wurden Vorschriften gemacht, wie sie als Arme zu leben habe; so sollte sie Kleie- anstatt Weißbrot essen und auch keinen Bohnenkaffee trinken.
Besonders schlimm spürte Anna Maria die Verachtung des Bürgertums, als sie sich genötigt sah bei der Allgemeinen Armenanstalt um Kleidung zu bitten. Die von der Armenastalt ausgegebene Kleidung bestand aus einem braunen Leibchen, einem braunen Rock, grauen Wollstrümpfen und Holzschuhen. Darüber hinaus musste sich Anna Maria ein sichtbares großes A. O. auf die Kleidung heften. Durch diese Maßnahme wollte die Armenanstalt verhindern, dass die Armen die Kleidung verkauften. Doch mit den großen Buchstaben A 0 (Armenordnung) auf ihrer Kleidung war sie öffentlich als Arme stigmatisiert. Da sie noch jung und gesund war und damit voll arbeitsfähig, wurde sie öffentlich als faul und lasterhaft beschimpft. Dies machte sie sehr wütend, hatte sie doch erkannt, dass sie ihre Armut nicht selbst verschuldet hatte, sondern die geringen Arbeitsmöglichkeiten und besonders der geringe Verdienst für Frauen daran schuld waren. Frauen erhielten für gleichwertige Arbeit 40-50% weniger Lohn als Männer. Das sah Anna Maria nicht ein und so verlangsamte sie ihr Arbeitstempo in der Kattundruckerei. Der Manufakturbesitzer Dreyer bemerkte dies und beschwerte sich bei der Allgemeinen Armenanstalt über Anna Maria Meiern. Armenanstalt und Unternehmer hatten die Möglichkeit, solche „widerspenstigen“ Frauen und Männer zu einer acht bis vierzehn-tägigen oder auch vierwöchigen Zuchthausstrafe ins Werk- und Zuchthaus zu schicken. Anna Maria musste vier Wochen im Werk- und Zuchthaus verbleiben und körperlich schwere und gesundheitsgefährdende Arbeit verrichten: sie hatte täglich drei Pfund Kuhhaare zu verspinnen und durfte sich nicht aus dem Arbeitszimmer entfernen, bis sie das Arbeitspensum erledigt hatte. Das Kuhhaareverspinnen war deshalb so gesundheitsgefährdend, weil die Arbeiterinnen dadurch oftmals eine sehr schwere Krätze bekamen.
Nach Beendigung ihrer Strafzeit wurde Anna Maria Meiern in die Wohnung ihrer Eltern zurückgebracht und musste sich wieder bei der Allgemeinen Armenanstalt melden und für diese Spinnarbeit verrichten.
Als der Sommer kam, hatte Anna Maria Meiern nicht mehr die Möglichkeit, erneut als Kattunschilderin zu arbeiten, denn durch ihren Zuchthausaufenthalt war sie nun kriminalisiert und erhielt deshalb auf dem freien Arbeitsmarkt keine Arbeit mehr. Damit war ihre Zukunft besiegelt. Sie blieb abhängig von der Allgemeinen Armenanstalt. 8)
So erging es armen Frauen in der Zeit der Aufklärung und in von Aufklärern initiierten Institutionen.
Johann Arnold Günthers „gemeinnütziges Wirken war ausschlaggebend für seine Wahl im Februar 1792 in den Senat. Wenig später gewann er mit seinem Beitrag zur Frage ‚Wie dem Wucher ohne Strafgesetze am besten zu steuern sey‘ den ersten Preis eines Wiener Wettbewerbs. Im Senat setzte er sein gemeinnütziges Wirken fort und entwarf neue Medizinal- und Feuerkassenordnungen.“ 9)
Franklin Kopitzsch schreibt über Günthers weitere Aktivitäten: „Günther war auch publizistisch tätig, schrieb zahlreiche Beiträge für Zeitungen und Zeitschriften, für die von ihm begründeten ‚Verhandlungen und Schriften‘ der Patriotischen Gesellschaft (…).“ 10)
Auf einer Reise im Jahr 1796 durch Deutschland und die Schweiz, „die im Zeichen von Aufklärung, Empfindsamkeit und Gemeinnützigkeit stand“ 11) starb auf der Rückreise Günthers Ehefrau Nelly im Alter von 43 Jahren an der Ruhr. „Erholung fand der nun vereinsamte, oft kranke und überarbeitete Günther im Kreise vertrauter und verwandtschaftlicher Freunde auf seinem Landsitz in Hamm.“ 12)