Reinhold-Meyer-Straße
Niendorf (1982): Reinhold Meyer (18.7.1920 Hamburg -12.11.1944 Polizeigefängnis Hamburg Fuhlsbüttel), Student, Juniorchef der Evangelischen Buchhandlung des Rauhen Hauses am Jungfernstieg 50, Widerstand gegen den Nationalsozialismus.
Sie auch: Anneliese-Tuchel-Weg
Stolperstein: Edmund-Siemers-Allee 1 (Hauptgebäude Universität Hamburg): Inschrift: „Hier lernte Reinhold Meyer Jg. 1920 im Widerstand Weiße Rose verhaftet 1943 KZ Fuhlsbüttel ermordet 12.11.1944.“
Mahnmal: Tisch mit 12 Stühlen, siehe dazu im Kapitel: Widerstandskämpfer, hier unter: Georg-Appel-Straße.
Bis vor gut 15 Jahren befand sich in dem von Johannes Grotjan (1843-1922) 1879 erbauten gründerzeitlichen Etagenhaus am Jungfernstieg 50 die Buchhandlung „Agentur des Rauhen Hauses“ – seit 1960 unter dem Namen „Buchhandlung am Jungfernstieg Anneliese Tuchel“ –, seit 1950 geführt von Anneliese Tuchel (siehe: Anneliese-Tuchel-Weg). Eine Gedenktafel an der Fassade erinnert an den Widerstandskreis. „In der Buchhandlung dieses Hauses trafen sich während des Zweiten Weltkrieges Gegner des NS-Regimes bei dem Junior-Chef und Studenten Reinhold Meyer, dem Bruder von Anneliese Tuchel. Als Widerstandskreis verbreiteten sie u. a. die Flugblätter der ‚Weißen Rose‘ aus München. Ende 1943 verhaftete die Gestapo etwa 30 Angehörige der Gruppe. Durch unmenschliche Haftbedingungen oder Hinrichtung fanden den Tod: Frederik Geussenhainer, Elisabeth Lange [Elisabeth-Lange-Weg], Dr. Kurt Ledien [Kurt-Ledien-Weg], Hans Leipelt [Leipeltstraße], Dr. Katharina Leipelt, Reinhold Meyer, Margarethe Mrosek [Margarethe-Mrosek-Bogen] und Margaretha Rothe [Margaretha-Rothe-Weg].“ Der Freundeskreis, der sich hier traf, nannte sich selbst nicht ‚Hamburger Zweig der Weißen Rose‘. So wurde er erst nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet, weil die 1942/43 an der Münchner Universität studierenden Traute Lafrenz (geb. 1919) und Hans Leipelt „die Ideen und Flugblätter der ‚Weißen Rose’ in ihre Hamburger Freundeskreise brachten. Hier fand das Wirken der Münchner Widerstandsgruppe eine Fortsetzung. Der Kreis (…) bestand aus verschiedenen, voneinander unabhängigen Freundeskreisen. (…) In der Hamburger Innenstadt waren die Buchhandlung ‚Agentur des Rauhen Hauses’ am Jungfernstieg, die Hamburger Bücherstube Felix Jud in den Colonnaden und die Buchhandlung Conrad Kloss in der Dammtorstraße [dort im „Deutschlandhaus“] mit den Buchhändlern Reinhold Meyer und Felix Jud und der Buchhändlerin Hannelore Willbrandt [geb. 1923. Sie arbeitete als Buchhandelsgehilfin in der Buchhandlung Conrad Kloss und schrieb mit Albert Suhr das dritte Flugblatt der ‚Weißen Rose‘ ab; verhaftet am 18. Dezember 1943, Untersuchungshaftanstalt des Frauenzuchthauses Cottbus, Frauengefängnis Meusdorf, verurteilt zu einer langjährigen Haftstrafe, von den Alliierten befreit] Treffpunkte oppositioneller Intellektueller – viele von ihnen Studentinnen und Studenten der Universität Hamburg. (…) Ihre Mitglieder gehörten teils mehreren dieser Kreise an oder waren mit anderen Kreisen über Freundinnen und Freunde verbunden. (…)
Über die Verhaftungen von Hans Leipelt und Marie-Luise Jahn [seiner Freundin, geb. 1918, als „Hochverräterin“ Zuchthausstrafe von zwölf Jahren wegen des Hörens ausländischer Rundfunksender, wegen „Wehrkraftzersetzung“ und „Feindbegünstigung“. 29. April 1945 Befreiung zum Kriegsende durch US-Soldaten] im Oktober 1943 führten die Ermittlungen der Gestapo zu den Hamburger Freundeskreisen, in deren Reihen sich inzwischen auch ein Gestapospitzel befand. (…)
Am 6. November 1944 sandte der Generalstaatsanwalt beim Hanseatischen Oberlandesgericht die Ermittlungsunterlagen an den Volksgerichtshof. Die Gefährlichkeit der Hamburger Gruppe begründete die Staatsanwaltschaft u. a. mit angeblichen Plänen, die Lombardsbrücke in die Luft sprengen oder das Hamburger Trinkwasser vergiften zu wollen. Weiter warf sie der Gruppe vor: „Verbreitung jüdisch-bolschewistischer Ideen durch Veranstaltung von Leseabenden, Verteilung von dafür geeigneten Büchern und Schriften mit jüdisch-bolschewistischer oder sonst staatsfeindlicher Tendenz, wie auch durch persönliche Unterhaltung in diesem Sinne (…). Hervorzuheben ist, dass es sich bei den Beschuldigten mit wenigen Ausnahmen um Angehörige gebildeter Kreise (Studenten, Ärzte und Kaufleute), also um Intellektuelle mit staatsverneinender Einstellung handelt. Ihr zersetzender Einfluss geht über den Kreis der in diesen Verfahren erfassten Beschuldigten infolgedessen weit hinaus. Daraus ergibt sich die große Gefahr, die sie bis zu ihrer Festnahme gebildet haben.’“ 1)
Reinhold Meyer (1920 – 12.11.1944 Polizeigefängnis Fuhlsbüttel, angeblich an Diphtherie gestorben) hatte „in seinem Elternhaus eine religiöse, musische und humanistische Erziehung erhalten. Nach dem Abitur (…) absolvierte er ab April 1940 eine zweijährige Buchhändlerlehre und studierte anschließend an der Universität Hamburg Germanistik. Durch seinen Schulfreund Albert Suhr sowie auf Veranstaltungen seines Professors Wilhelm Flitner [1889 -1990] lernte er regimekritische Studentinnen und Studenten kennen: Die Buchhandlung ‚Agentur des Rauhen Hauses’ entwickelte sich zu einem ihrer Treffpunkte. Von Albert Suhr (…) erfuhr er von den Widerstandsaktivitäten in München. Die Gestapo verhaftete Reinhold Meyer am 19. Dezember 1943. Vernehmungen, Einzelhaft im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel und eine mehrmonatige Haft im KZ Neuengamme zerstörten seine Gesundheit“ 2), schreibt Herbert Diercks in seinem Buch über den Widerstand und die Verfolgung in Hamburg 1933- 945.
Reinhold Meyers Vater, der Buchhändler Johannes P. Meyer (?-1950), führte bis zu seinem Tod die evangelische Buchhandlung der Agentur des Rauhen Hauses. Mit „Unterstützung des Architekten Bernhard Hopp [1893-1962] und des Journalisten Hugo Sieker [1903-1979] stellte er dort ab 1939 Kunst aus. Wie die Besucherbücher ersehen lassen, in die sich auch NS-Anhänger und Gegner moderner Kunst eintrugen, fanden die Ausstellungen in Hamburg und auch außerhalb starke Beachtung. Die zweite Schau im Jahre 1942 zeigte etwa den verfemten und als ‚entartet’ geltenden Maler F.K. Gotsch [1900-1984]. (…). Reinhold Meyer und ein Freund retteten während der Bombenangriffe im Sommer 1943 Hunderte von Aquarellen Eduard Bargheers [1901-1979], der seit 1940 in Italien lebte, aus dessen brennendem Atelier am Jungfernstieg. Sie trugen sie zunächst in den Keller der Buchhandlung und lagerten sie später nach Worpswede aus. Rückblickend äußerte Hugo Sieker über den Buchhändler Johannes P. Meyer: „(…) Es war ihm vergönnt, in den Räumen der Agentur des Rauhen Hauses am Jungfernstieg etwas von einer echten freien Kulturgesinnung über chaotische Zeitläufte hinweg zu retten. Zustatten kamen dem schwäbischen Bauernsohn die von den Vätern ererbte Zähigkeit und sein Standvermögen. Er verlor den Sohn Reinhold im ‚Widerstandskampf’, war persönlich unaufhörlich von Bomben, geschäftlichen Widrigkeiten und Nazityrannei aufs schwerste bedroht. Doch führte er das Ausstellungsprogramm in der Agentur fort und sprach das unvergessene Wort: ‚Solange diese einzige Ausstellungsstätte im Stadtzentrum von Bomben verschont bleibt, soll die Kunst nicht untergehen!’“ 3), schreibt die Kunsthistorikerin Maike Bruhns in ihrem Buch „Kunst in der Krise“. Johannes P. Meyers Tochter Anneliese Tuchel (5.4.1926-27.2. 2000) wurde ebenfalls Buchhändlerin und „übernahm im Jahre 1950 die Buchhandlung. Sie setzte die Ausstellungen auch nach dem Krieg fort, zeigte zum Beispiel 1946 den Zyklus ‚Aus Tagen der Not’ des Malers Fritz Husmann [1897-1982].“ 4) Gleichzeitig hielt sie die Erinnerung an ihren Bruder und das Unrechtsgeschehen der Nazizeit bis zu ihrem Tode wach.