Stockmeyerstraße
HafenCity (1854): Heinrich Christian Meyer (4.6.1797 Nesse -26.7.1848 Hamburg). Hamburgs erster Großindustrielle, der an dieser Straße eine Stockfabrik betrieb. Vater von Heinrich Adolph Meyer und Christian Meyer sowie von Bertha Ronge, geschiedene Traun, geborene Meyer.
Siehe auch: Traunweg
Siehe auch: Charitas-Bischoff-Treppe
Siehe auch: Meyerstraße
Siehe auch: Schurzalleebrücke
Siehe auch: Stresowstraße
Siehe auch: Poppenhusenstraße
Siehe auch: Rupertistraße: Zusammenarbeit in der Immobilienbranche
Heinrich Christian Meyer stammte aus einer wenig begüterten Familie, die 1803 von Nesse bei Bremerhaven nach Hamburg gezogen war. Sein Vater hatte als Tischler keine Anstellung gefunden und betätigte sich als Rohrflechter. Aus Stuhlrohr (Rattan), das aus den asiatischen Kolonien über Holland kam, fertigte er Sitzflächen für Stühle sowie Ausklopfer aus den übrig gebliebenen Enden. Fischbein, aus dem Meyer Regenschirme und umflochtene Spazierstöcke herstellte, wurde aus den Barten großer Wale gewonnen; zur Weiterverarbeitung wurde es hauchdünn gerissen. Die Spazierstöcke musste Sohn Heinrich Christian bereits mit acht Jahren bei jedem Wetter auf den Straßen der Hamburger Innenstadt verkaufen, wodurch er schon in jungen Jahren zu dem Spitznamen „Stockmeyer“ kam. An eine Schulausbildung war nicht zu denken; er lernte notdürftig lesen und schreiben und sprach nur Plattdeutsch. Heinrich Christian Meyer war sein Leben lang bestrebt, vom Hamburger Großbürgertum als „ein einfacher Junge vom Lande“ akzeptiert zu werden. Mit zwanzig Jahren richtete er in der Hamburger Altstadt eine kleine Werkstatt, die Spazierstock- und Fischbeinfabrik H.C. Meyer jr., ein.
Die Geschäfte liefen gut, und bereits vier Jahre später bezog Meyer ein mehrstöckiges Haus, das Platz für die mittlerweile sechsköpfige Familie, ein Ladengeschäft, ein Lager und eine Werkstatt bot. Seine Spezialität waren nach wie vor die Spazierstöcke und Rattanstühle, doch jetzt verarbeitete er auch weitere Rohstoffe aus den überseeischen Kolonien der europäischen Großmächte: Kokosnüsse, Perlmutt, Schildpatt, Hippopotamus-Zähne und Elfenbein. Aus diesen wurden Luxusgegenstände für das aufstrebende Bürgertum gefertigt, anfangs Knäufe für Spazierstöcke, Regenschirme und Griffe für Tafelbesteck, später auch Klaviertasten, Billardkugeln, Fächer, Gebetbuch- und Bürstendeckel. Aus Bambus und Zuckerrohr wurden Waffenstöcke, scharfe Klingen in schmalen Röhren als modische Accessoires produziert.
Die Elefantenjagd und der Transport der sperrigen Stoßzähne waren schwierig und kostspielig, und lange Zeit gehörte Elfenbein zu den knappen und begehrten Rohstoffen aus Afrika. Die daraus gefertigten Produkte galten als besonders wertvoll. Doch mit der Kolonisierung, mit zunehmendem Export von Schusswaffen nach Afrika und mit der Ausweitung der Jagdgebiete tief ins Landesinnere kam deutlich mehr Elfenbein nach Europa. In der Folge sanken die Weltmarktpreise. Die Agenten der europäischen Kaufleute drängten immer aggressiver in das Geschäft mit dem Elfenbein vor Ort, der bis dahin traditionell in den Händen arabischer und afrikanischer Händler gewesen war. Die Handelsplätze verlagerten sich jetzt von den Küstenorten in Afrika nach Liverpool, London, Antwerpen und Amsterdam. In langen Karawanen mussten die schweren Elefantenstoßzähne in wochenlangen Märschen zu den fernen Häfen getragen werden. Wie eine Vielzahl Träger zu finden war, meldete ein Angestellter der Gesellschaft für Südkamerun nach Hamburg: „Die Bewohner [eines Dorfes] werden gefangengenommen, gefesselt und zur Arbeit gezwungen.“ Für die europäischen Kaufleute hatten die Karawanen einen doppelten Nutzen: Auf dem Rückweg in Landesinnere mussten die versklavten Träger Tauschwaren wie Stoffe, Perlen und weitere Luxusgüter sowie Schnaps, Waffen und Munition schultern.
Der Sohn Heinrich Adolf Meyer mit dem Spitznamen „Elfenbeinmeyer“ wurde zu einem der weltgrößten Importeure für Elefantenstoßzähne. Sein Unternehmen mit Fabrikation in Barmbek rüstete vom ostafrikanischen Sansibar aus Karawanen mit bis zu 600 Trägern aus. Von 1880 an ließen die Händler durchschnittlich 65.000 Elefanten pro Jahr abschlachten. Der schonungslose Umgang mit menschlicher Arbeitskraft und den natürlichen Ressourcen in den Kolonien für europäische Luxusgüter hatte schon vor Jahrzehnten begonnen. In Heinrich Christian Meyers Fabrik wurden massenhaft Federhalter aus Schildpatt hergestellt, der von den Bahamas, den Antillen, den Kapverdischen Inseln und aus Guyana importiert wurde. Ein Freund aus Kindertagen reiste 1823 in Meyers Auftrag nach England, um dort günstig „(…) mehrere Lots Ballzähne [von Elefantenkühen, Anm. d. Verf.], Bambus, Zuckerrohr und einige Dragon Canes [Rattan, Anm. d. Verf.] sowie Büffelspitzen und Ebenholz“ zu kaufen. Aus den Spitzen von Büffelhörnern aus Südamerika ließ H.C. Meyer Schnupftabakdosen produzieren.
Der wirtschaftliche Aufschwung ließ das neu angemietete Haus schnell zu klein werden. 1823 erwarb Meyer ein größeres Fabrik- und Wohngebäude in der Hamburger Altstadt. Für die Arbeiterschaft gründete er eine Kranken- und eine Invalidenkasse. Meyer war – für die Gründerjahre typisch – ein patriarchalischer Arbeitgeber, der sich als „Vater“ seiner Arbeiter verstand. Für Güte und Fürsorge erwartete er von seinen „Kindern“, den Arbeiterinnen und Arbeitern, Gehorsam, Loyalität, Treue und Dankbarkeit. Die Wochenarbeitszeit betrug nicht selten 87 Stunden bei einem Lohn, der gerade als Existenzminimum reichte.
Von einem Besuch im industrialisierten England inspiriert, beschloss Meyer, seinen Handwerksbetrieb in eine Fabrik umzubauen. 1836 legte er auf einem großen Grundstück auf Grasbrook den Grundstein für eine moderne Produktionsstätte, die – ein Novum in Hamburg – mit Dampfkraft betrieben wurde. Zwischen 1823 und 1838 verzwölffachte sich Meyers Vermögen und verdoppelte sich von da an jeweils im Zeitraum von fünf Jahren noch einmal. Grasbrook war zu dieser Zeit noch eine sumpfige, vom Hochwasser bedrohte Insellandschaft. Einige Werften hatten sich dort angesiedelt; ansonsten war das Gebiet kleinteilig parzelliert: Die Wiesen hatten lange Zeit als Bleichplätze für Baumwolle gedient. Vermögende Tuchhändler hatten hier „Wand“ (Plattdeutsch für „Gewand“) auf Rahmengestellen gespannt an der Sonne bleichen lassen; die Straßennamen Alter Wandrahm und Neuer Wandrahm erinnern daran. Baumwolle war ein wichtiges Wirtschaftsgut im transatlantischen Dreieckshandel, in dessen Zentrum der Menschenhandel mit Versklavten aus Afrika stand. 1837 erließ Hamburg ein Sklavenhandelsverbot, indes wurden Formen von Zwangsarbeit in den Kolonien fortgesetzt. Vorausschauend und in aller Stille hatte Meyer ab 1831 angefangen, diese kleinen „Rahmenplätze“ auf Grasbrook günstig aufzukaufen, ab 1840 im Schulterschluss mit dem Kaufmann Justus Ruperti und dem Investor August Abendroth. Mit den 37 Parzellen, zudem mit Grundstücken in Hammerbrook und auf Billwerder, wollten die Investoren im Hinblick auf die geplante Hafen- und Stadterweiterung spekulieren. Sie hatten auch den geplanten Bau einer Eisenbahnlinie bis nach Berlin fest im Auge. Die Teilstrecke nach Bergedorf sollte durch eigenes Terrain führen. Zugleich bildeten sie den zuständigen Ausschuss für die Hamburg-Bergedorfer Eisenbahn-Gesellschaft HBE. Dazu passend nahm Meyer auch Eisenbahnschwellen in sein Sortiment auf. Nach dem Brand 1842 war Hamburg vor große Stadtplanungsaufgaben gestellt. William Lindley, englischer Ingenieur, Eisenbahn- und Kanalisationsfachmann, entwickelte einen Plan zur Entwässerung des Geländes und vermittelte geschickt zwischen den drei Grundstücksspekulanten und der Stadt Hamburg. Doch erst nach Meyers Tod kaufte die Stadt 1854 nach langem Zögern das Areal. Die Öffentlichkeit nahm regen Anteil an der Diskussion um die „Grasbrook-Angelegenheit“. Es wurde verbreitet, dass die Landaufkäufe durch Private nicht rechtmäßig gewesen seien und dass zu hohe Kosten für die Stadt entstanden seien. Dem Trio wurde vorgeworfen, nicht „patriotisch“, also nicht im Sinne des Gemeinwohls, gehandelt zu haben. Heinrich Christian Meyer starb 1848 mit 51 Jahren an Tuberkulose. Seine Freunde sammelten Geld, um für ihn ein Denkmal zu errichten. Nach mehreren Verlegungen steht das Monument seit 1985 am Mittellandkanal in Hammerbrook.
Text: HMJokinen, Mitarbeit: Frauke Steinhäuser
In den letzten Jahren gab es in Hamburg immer wieder öffentliche Diskussionen zum Umgang mit nach Kolonialakteuren benannte Straßennamen, so auch die Stockmeyerstraße. Die kontrovers geführten Diskussionen führten bislang zu keinem abschließenden Ergebnis (Stand: Februar 2024); gleichwohl wurde 2018 ein weiterer Straßenabschnitt in der HafenCity in Stockmeyerstraße benannt, der vorher zum Straßenabschnitt Lohseplatz gehörte.
(Quelle: Amtlicher Anzeiger vom Mai 2018: „ die nachstehend beschriebenen Verkehrsflächen wie folgt umbenannt: im Bezirk Hamburg-Mitte Stadtteil HafenCity – Ortsteil 104 –die etwa 40m lange und etwa 17m breite, südlich der Ericusbrücke nach Süden zur Koreastraße führende Teilfläche sowie die von der Koreastraße etwa 30m nach Nordosten zur Stockmeyerstraße führende Teilfläche sowie schließlich eine etwa 20m lange, nördlich des Lohseparks belegene dreieckige Restfläche, die bisher mit den vorstehend genannten Teilflächen zum Lohseplatz gehörte, gemeinsam in Stockmeyerstraße.“)
Verheiratet war Heinrich Christian Meyer mit der drei Jahre älteren Agathe Beusch (12.5.1794 Hamburg – 27.8.1833 Hamburg), die er als Schüler während seiner Schulbesuche kennengelernt hatte und die er als 18-Jähriger gegen den Willen des Vaters heiratete. In der Werkstatt, die er im Alter von 20 Jahren einrichtete, arbeitete auch seine Schwägerin Katharina Beusch, die den Haushalt und den Verkauf der Waren übernahm.
Das Ehepaar Meyer hatte elf Kinder. Die fünf Töchter Amalie (geb. 1816), Bertha (geb. 1818), Therese (geb. 1823), Agathe (geb. 1825) und Margarethe (geb. 1833) engagierten sich später „in der politisch-religiösen Richtung der frühen Frauenbewegung und waren an der Gründung einer Hochschule für das weibliche Geschlecht beteiligt. Bertha [verheiratet mit Friedrich Traun, siehe: Traunweg] brachte die Idee des Fröbel’schen Kindergartens nach England, Margarethe, verheiratet mit Carl Schurz [siehe: Schurzallee-Mitte, Schurzallee-Nord], gründete den ersten Kindergarten in Amerika“. 1)
Agathe Meyer, geb. Beusch, starb 1833 bei „der Geburt ihres elften Kindes [Margarethe]. Der Verlust verursachte eine tiefe Depression bei Heinrich Christian Meyer, die er durch intensivierte Tätigkeit bekämpfte.“ (Inge Grolle: Heinrich Christian Meyer, in: Franklin Kopitzsch, Dirk Brietzke: Hamburgische Biografie. Personenlexikon. Bd. 4. Göttingen, 2008, S. 238ff.)
Text: Dr. Rita Bake