Lichtwarkstraße
Eppendorf (1938): Alfred Lichtwark (14.11.1852-13.1.1914), Direktor der Hamburger Kunsthalle.
Vor 1933 hieß die Straße Gabriel-Riesser-Straße, benannt 1921 nach dem Notar Dr. G. Riesser (1806-1863), der erste Richter jüdischer Religion in Deutschland. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde die Straße wegen Riessers jüdischer Herkunft umbenannt in Lichtwarkstraße. Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus wurde die Straße nicht rückbenannt. (siehe unter: Riesserstraße). 1957 wurde ein Teil der Sievekinsgallee in Riesserstraße umbenannt.
Siehe auch: Kalckreuthweg
Siehe auch: Herbstsweg
Siehe auch: Anita-Rée-Straße
Siehe auch: Erbestieg
Siehe auch: Justus-Brinckmann-Straße
Siehe auch: Petersenkai

Lichtwarks Vater Friedrich Carl Lichtwark betrieb eine Mühle in Reitbrook. Nachdem 1851 Friedrich Carl Lichtwarks erste Ehefrau, mit der er vier Kinder hatte, gestorben war, „heiratete er Helene Bach, die Tochter einer Schwägerin. Alfred war das älteste von vier Kindern, die aus dieser zweiten Ehe hervorgingen und von denen das jüngste schon nach neun Monaten starb. Die Halbgeschwister spielten im Leben Alfreds höchstens eine Randrolle. Um so stärker wurde die Bindung an seine zwei leiblichen Geschwister.“1) Alfred Lichtwark begleitete sein Leben lang ein starker Familiensinn. Er lebte auch als erwachsener Mann mit seiner Mutter und Geschwistern zusammen.
Über seine ersten Schritte zur Kunst und welche Bedeutung dabei eine alte Frau spielte, schreibt Lichtwark in einem Brief, in dem er das Wohnzimmer im Nachbarhaus seines elterlichen Hauses beschreibt: „‘Das einzige Wohnzimmer war nach hinten, dem Garten zugekehrt. Es war so sonderbar, daß alle meine Märchenvorstellungen der weißen Frauen, Rotkäpchens Großmutter usw. nach ihm gebildet sind.‘ Sein ‚alter Freund‘ in diesem Zimmer war der Ofen (…). Es handelte sich um einen Ofen, dessen Kacheln mit Szenen aus der Biblischen Geschichte geschmückt waren. (…) Stundenlang saß der kleine Alfred davor und ließ sich von der alten Frau die Geschichten zu den Bildern erzählen. (…) Später wird Lichtwark sagen: ‚Heute weiß ich, daß meine kindliche Seele hier zuerst Kunstwerke sehen gelernt hat, und daß die alte Frau mein erster Lehrer der Kunstbetrachtung gewesen ist.‘“ 2)
Alfred Lichtwarks Vater wurde Alkoholiker, was dazu führte, dass die Familie in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen leben musste. Nachdem er zum Pflegefall geworden war, musste die Mutter für den Familienunterhalt sorgen; „sie putzte, flickte, nähte in anderen Haushalten, oft bis in die Nacht hinein. Nebenbei versorgte sie die Kinder und tröstete den kranken Mann, der sich gern in Selbstbezichtigungen erging.
Das Hin und Her, der Abstieg, das Leben in beschränkten Verhältnissen müssen dem sensiblen Jungen zugesetzt haben. (…) die Bedrängnisse haben, anders als in vielen anderen Fällen, die Familie nicht zerrüttet, sondern den Zusammenhalt noch gestärkt. Lichtwark ist seiner Mutter sein Leben lang dankbar gewesen, und die Geschwister bildeten ein Trio von seltener Eintracht,“ 3) schreibt Rudolf Großkopff in seiner Biographie über Alfred Lichtwark. Lichtwarks Schwester Marianne („Sanni“), die als Erzieherin arbeitete, wurde neben der Mutter Lichtwarks wichtigste Bezugsperson.
Über Lichtwarks beruflichen Lebensweg heißt es im Bergedorfer Personen Lexikon u. a.: „L. besuchte (..) die Freischule für Mittellose. Der Schulleiter förderte den hochintelligenten und extrem fleißigen L. (…) Bis 1879 arbeitete der sich ständig autodidaktisch fortbildende L: an verschiedenen Hamburger Schulen als Lehrer. (…) 1877 kam L. schließlich auch zu den Vorlesungen und Übungen Justus Brinckmanns [siehe: Justus-Brinckmann-Straße]. Im Museum für Kunst und Gewerbe. Brinckmann förderte L. (…). Durch ein Stipendium (…) war es L. möglich, 1880 in Leipzig bei Anton Springer (…) Kunstgeschichte zu studieren. (…) 1884 wurde er Leiter der Bibliothek [des Kunstgewerbemuseums in Berlin]. (…) Am 1.10.1886 wurde L. zum ersten Direktor der 1869 eröffneten Hamburger Kunsthalle berufen (…). Durch gezielte Erwerbungen gelang es L, die nur provinziellen Maßstäben gerecht werdende Kunsthalle zu einer der führenden deutschen Galerien auszubauen. (…) Zu den überragenden Leistungen L. gehört der Aufbau einer der großen Museumssammlungen zur deutschen Kunst des 19. Jhd. (…). L. baute die Sammlung Hamburgischer Künstler systematisch aus und förderte junge Hamburger Maler. (…) L. gehörte zu den starken Förderern der Heimatschutzbewegung, die ein Leben im Einklang mit der Natur und die Rückbesinnung auf alte Kulturwerte forderte. (…).“ 4)
Über Lichtwarks Gefühlsleben schreibt Rudolf Großkopff: „Einen Schleier breitet er zum Beispiel stets über sein Gefühlsleben. Schon in Berlin, noch mehr in Hamburg, mögen ihn Frauen. Seine Haare beginnen sich zu lichten, Geheimratsecken bilden sich; aber er gilt als stattlicher Mann mit einem gut geschnittenen Gesicht, als glänzender Unterhalter, begehrter Tänzer. Er beteiligt sich um diese Zeit auch noch an gesellschaftlichen Vergnügungen, die Männer und Frauen zusammenführen. Aber er entfaltet, wie Pauli schreibt, seine Gaben ‚völlig und am wirksamsten in der Gesellschaft der Männer.‘ Lichtwark selbst referiert einmal zustimmend die Ansicht eines Freundes, der vier Gesellschaftstypen unterschieden hat: Herren-Damen, Damen-Damen, Damen-Herren und Herren-Herren. Pauli: ‚Zweifellos gehörte Lichtwark zu der letzteren Species.‘ (…)
Wenn er gefragt wird, ob er nicht heiraten wolle, entgegnet er ausweichend, daß er ja schon eine Frau habe – die Kunsthalle. Oder es kommt der Verweis darauf, daß ihm sogar zwei Frauen nahestünden – Mutter und Schwester. Hinweise auf engere Beziehungen zu anderen Frauen sind nicht bekannt. Allerdings gibt es genausowenig konkrete Indizien für eine manchmal behauptete Homosexualität. Zu schlicht ist jedenfalls die immer wieder von Verehrern und Verehrerinnen geäußerte Ansicht, er habe allein wegen der Sorge um seine Angehörigen oder wegen seiner großen Aufgabe keine eigene Familie gegründet und statt dessen mit seinen Verwandten zusammengelebt. Eher könnte man mutmaßen, daß er sich in die Arbeit und in die Familie geflüchtet habe, weil er Probleme mit seiner sexuellen Orientierung hatte. Gleichviel, Lichtwark hat auch dieses Geheimnis mit ins Grab genommen, und man sollte es ihm lassen“ 5)
Lichtwark schuf die Vereinigung der Kunstfreunde. In ihr „beschäftigte er Mitglieder, meistens Frauen, mit der Anfertigung von Fignetten und Zierleisten für Bücher und Zeitschriften. Er warb für geschmackvolleren Schmuck und immer wieder auch für eine kultivierte Art, sich zu kleiden. So vertrat er einmal in einem Vortrag zum Thema ‚Was können wir für die Kunst tun?‘ die Idee, die Männer sollten ihren unterentwickelten Farbsinn an Kravatten schulen. Das brachte ihm herbe Kritik von Leuten ein, die fürchteten, er nehme den Unterschied zwischen Dilettantismus und hoher Kunst nicht ernst genug.“ 6)
Über Lichtwarks weitere Beziehungen zu Frauen schreibt Rudolf Großkopff: „Er schätzt die Zusammenarbeit mit Frauen, weil er glaubt, daß sie im Vergleich zu den Männern einen höher entwickelten Geschmack und empfindsamere Augen haben. Die Frauen revanchieren sich, indem sie für ihn schwärmen und arbeiten. Viele Mitglieder, der von ihm gegründeten Vereinigungen sind weiblich, und er kann sich immer auf sie verlassen, wenn er Hilfe in Form von Arbeit oder Geld benötigt. Aber im Privaten sind Mutter und Schwester seine weiblichen Bezugspersonen.“ 7) Denn, so Grotkopff: „Das Familienleben in wechselnden Wohnungen auf der Uhlenhorst ist offensichtlich harmonisch. Er ist der Ernährer, dankbar für die Mühe, mit der die Mutter ihn und seine Geschwister durch eine schwierige Jugend gebracht hat. Die Frauen und Bruder ‚Hänschen‘ sind wie er Frühaufsteher. Bevor er gegen neun Uhr in die nicht weit entfernte Kunsthalle geht, hat er schon mit den anderen ausgiebig gefrühstückt und geplaudert. In die übliche Sommerfrische reist er meistens mit Mutter und Schwester. (…) Die Schwester (…) organisiert den Haushalt. Aber auch Alfred läßt sich nicht nur bedienen. Schiefler notiert in seinem Tagebuch, wie er mit dem Direktor nach einem Vortrag über die Lombardsbrücke gegangen ist und Lichtwark Brot für das Abendessen gekauft habe.“ 8)
Lichtwark starb an Magenkrebs. Seine Geschwister waren bei ihm, als er in der gemeinsamen Wohnung am 13. Januar 1914 kurz vor Mitternacht dahinschied.