Hamburger Straßennamen -
nach Personen benannt

Erna-Stahl-Ring

Ohlsdorf, (2007), benannt nach Erna Stahl (15.2.1900 Hamburg – 13.6.1980 Hamburg), Reformpädagogin, Gründerin der Albert-Schweitzer-Schule; Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus


Siehe auch: Margaretha-Rothe-Weg, Münterweg, Werfelring
Siehe auch: Landahlweg, Hummelsbüttel (1975): Heinrich Landahl (1895-1971), Senator in Hamburg
Siehe auch: Albert-Schweitzer-Ring, Tonndorf (1975): Albert Schweitzer (1875-1965), Arzt, ev. Theologe, Musiker, Kulturphilosoph. Friedenpreis des deutschen Buchhandels, 1952 Friedensnobelpreis
Siehe auch: Kandinskyallee, Billstedt (1971): Wassili Kandinsky (1866-1944), Maler
Siehe auch: Franz-Marc-Straße, Billstedt (1971): Franz Marc (1880-1916), Maler
Siehe auch: Thomas-Mann-Straße, Bramfeld (1961): Thomas Mann (1875-1955), Schriftsteller

Ein Erinnerungsstein befindet sich im Garten der Frauen auf dem Ohlsdorfer Friedhof.

0693 Stahl Erna
Erna Stahl; Quelle: privat

Erna Stahl entstammte einer musischen Familie. Ihr Vater war Inhaber einer Konzertagentur, ihre Mutter, eine Wienerin, kam aus dem Arbeitermilieu und war vor ihrer Heirat zeitweise als Musikerin tätig gewesen. Die musikalische Welt der Mutter faszinierte die Tochter, aber ebenso faszinierten sie von Kindesbeinen an Bücher.

Ab dem sechsten Lebensjahr besuchte Erna Stahl zehn Jahre lang eine Privatschule. Ihre frühe Eigenwilligkeit und sehr große Selbstständigkeit führten in der Schule hin und wieder zu Auseinandersetzungen. Nach dem Schulabschluss mit dem so genannten Einjährigen besuchte Erna Stahl das Lehrerseminar, was sie aber nicht zum Abschluss brachte, denn schon bald hörte sie an der Universität Gastvorlesungen. Zu einem richtigen Universitätsstudium bedurfte es aber des Abiturs, das sie 1925 nach dem Besuch der Helene-Lange-Schule ablegte. Eine Unterstützung von zu Hause bekam sie nicht. Erna Stahl verdiente ihren Lebensunterhalt selbst, durch Unterricht oder aber, was sehr häufig geschah: Sie spielte zum Tanz auf bei Freunden, in Gesellschaften oder bei Veranstaltungen. Ganz besonders gerne gab sie auch Kurse für Arbeiter in Deutsch und Geschichte.

1928 begann sie an der Hamburger Lichtwark-Schule zu unterrichten. Diese Schule war keine klassische Lehranstalt, sondern eine Modellschule der Reformpädagogik. Mädchen und Jungen erhielten gemeinsamen Unterricht, den musischen Fächern wurde breiter Raum gewährt. Es wurde Englisch und Französisch gelehrt und ein Kurssystem eingeführt, um unterschiedlichen Begabungen und Neigungen entsprechen zu können. Schülerinnen und Schüler bekamen ein Mitbestimmungsrecht, es gab einen Schülerinnen- und Schülerrat und eine Schulzeitung. Die bis dahin übliche, autoritär geführte Schulleitung wurde abgelöst, und es bildete sich eine Zusammenarbeit zwischen Schülern, Schülerinnen, Eltern und Lehrkräften. Zum ersten Mal standen Klassenreisen auf dem Schulplan. Leistungssport oder vormilitärische Ausbildung waren verpönt, stattdessen standen spielerisches Miteinander auf der Grundlage von Fairness und Toleranz im Mittelpunkt. Trotzdem wurde auf Disziplin und Leistungsbereitschaft nicht verzichtet. Kein Wunder, dass die Schule mit diesem Konzept den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge war. 1933 wurde der Schuldirektor, Heinrich Landahl (siehe: Landahlweg), entlassen. Man ersetzte ihn durch einen Nationalsozialisten und hob 1937 auch die Koedukation auf. Von dem Konzept der Lichtwark-Schule blieb nichts mehr übrig.

1935 wurde auch Erna Stahl entlassen. Sie hatte sich mutig den „neuen Kräften“ entgegengestellt. Nationalsozialistische Ideen fanden in ihrem Unterricht keinen Platz. Den Hitlergruß in der Schule lehnte sie ab und las in ihrer Wohnung mit ihren Schülerinnen und Schülern die „verbotene Literatur“. Auf diesen Leseabenden machte sie ihre Schüler und Schülerinnen bekannt mit Werken verbotener Dichter und Schriftsteller wie Werfel (siehe: Werfelring und Werfelstieg), Hofmannsthal, Georg Kaiser und Thomas Mann (siehe: Thomas-Mann-Straße) und stellte auch die Malerei des Expressionismus vor, wies auf Werke vom Marc (siehe: Franz-Marc-Straße), Kandinsky (siehe: Kandinskyallee) und Münter (siehe: Münterweg) hin. Erna Stahl wurde an das Alstertalgymnasium strafversetzt und musste in der Klasse von Hilde Ahlgrimm, die Biologie, Mathematik und Chemie gab, den Deutsch-, Geschichts- und Religionsunterricht übernehmen. Was zunächst in einem negativen Licht erschien, erwies sich als Glücksfall, denn zwischen beiden Frauen entwickelte sich eine Lebensfreundschaft. Gelegentlich unterschrieben die beiden Freundinnen ihre gemeinsamen Briefe mit „Stahl-Grimm“.

Aber auch am Alstertal-Gymnasium hielt sich Erna Stahl nicht streng an den von den Nationalsozialisten vorgeschriebenen Lehrplan.

An vielen Abenden trafen sich Erna Stahls ehemalige Schülerinnen und Schüler der Lichtwark-Schule weiterhin bei ihrer alten Lehrerin. Unter ihnen waren auch Heinz Kucharski und seine Freundin Margaretha Rothe (siehe: Margaretha-Rothe-Weg), die einen Widerstandskreis bildeten, der nach dem Krieg als Hamburger Zweig der Widerstandgruppe „Weiße Rose“ bezeichnet wurde.

Als die Bespitzelungen durch die Nationalsozialisten immer schärfer wurden, stellte Erna Stahl ihre Leseabende ein. Dennoch wurde sie am 4. Dezember 1943 verhaftet, nachdem einige Monate zuvor bereits vier Mitglieder der Hamburger „Weißen Rose“ verhaftet worden waren – darunter Heinz Kucharski und Margaretha Rothe. Erna Stahl wurde des „Hochverrats“ beschuldigt, sie hätte in „staatsfeindlichem Sinne“ die ihr anvertrauten Jugendlichen verführt und für ihre Anschauungen missbraucht.

Erna Stahl erhielt zehn Monate lang Einzelhaft im Hamburger Gestapogefängnis- Fuhlsbüttel. Dann begann ein langer Leidensweg durch mehrere Gefängnisse. Zunächst kam sie nach Cottbus, dann wurde sie über Berlin und Leipzig nach Bayreuth verlegt. Erna Stahl verlor in diesen Wochen in Bayreuth die Sprache, sie konnte keinen Satz mehr herausbringen. Man brauchte aber ihre Aussage, man musste ein Geständnis haben. Deswegen, und nur deswegen, erhielt sie Schreibwerkzeug und Papier. Nun aber brach es aus ihr heraus. Zwanzig Seiten schrieb sie, zwanzig Seiten Anklage, ihre große Anklage gegen den derzeitigen Verbrecherstaat und die nationalsozialistischen Machthaber. Doch damit hatte sie selbst ihre Verurteilung heraufbeschworen. Doch die Kriegsereignisse nahmen einen stürmischen Verlauf. Von Berlin aus setzte sich am 12. April 1945 der Volksgerichtshof nach Bayreuth ab. Am 15. April 1945 besetzten die Amerikaner die Stadt. Die Freiheit war wieder gewonnen.

Nach der Befreiung nahm Erna Stahl ihre Tätigkeit als Lehrerin wieder auf. Mit ihrer Freundin übernahm sie die Leitung der Oberschule für Mädchen im Alstertal. Da Schulbücher fehlten, schrieb Erna Stahl ein Lesebuch für den Deutschunterricht mit dem Titel „Im Kreislauf des Jahres“, das 1947 erschien.

Erna Stahl stellte auch einen Antrag auf Koedukation an ihrer Schule. Sie musste lange darum kämpfen - aber 1949 war es soweit. Als man ihr anbot, die Lichtwark-Schule neu zu eröffnen, lehnte sie ab, ebenso das Angebot, die Odenwaldschule zu leiten. Ihr schwebte inzwischen ein anderes, eigenes Schulmodell vor, das u.a. Elemente der Lichtwark-Schule mit denen der Waldorfschule verbanden. Nach vier Jahren erhielt Erna Stahl 1950 endlich grünes Licht für ihren pädagogischen Modellversuch. Diesen begann sie im Albert-Schweitzer Gymnasium (siehe: Albert-Schweitzer- Ring) mit zwei Klassen, die nach dem zehnten Schuljahr ihren Abschluss machten.

1954 konnte Erna Stahl die erste Gesamtschule Hamburgs, die Albert-Schweitzer- Schule, gründen, die bis zum Abschluss der zehnten Klasse führte.

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus nahmen Erna Stahls pädagogische Ideen eine neue Wendung, die sie in ihrer Gesamtschule verwirklichen wollte. Die Reformpädagogik der Weimarer Zeit hatte zwar viele Neuerungen gebracht; sie hatte aber nicht vermocht, junge Menschen im Denken und Handeln so zu leiten, dass „sie später der politischen Verführung aktiv begegnen“ konnten. Deshalb plädierte Erna Stahl für folgenden pädagogischen Ansatz: „Versuchen wir das im Kinde anzusprechen, was ewig und unzerstörbar ist, binden wir es damit – ohne viel davon zu reden – an eine höhere Welt. Es ist die einzige Bindung, aus der alles rechte Maß, alle rechte Kraft, alle rechte Liebe und alle rechte Freiheit fließt. Wer dieses Maß hat, oder doch als Ziel anstrebt, kann überall – ganz gleich in welchem Beruf, in welcher Partei, in welcher Konfession er einmal stehen will und wird, ein ganzer Mensch sein. Dazu sollten wir erziehen, nicht zum Beruf, nicht zu weltanschaulicher oder politischer Verfestigung. Welcher Art auch immer.“

Erna Stahls Erziehung war eine Erziehung ohne Auslese. In den ersten Schulklassen wurden keine Noten erteilt. Dies sollte die Individualität stärken. Von der ersten Klasse an fanden die musischen Fächer besondere Betonung.

Ein anderer Schwerpunkt war der Weg nach außen, hin zu anderen Völkern. So wurde z. B. Englisch schon ab der ersten Klasse, Französisch ab der fünften Klasse unterrichtet. Erna Stahl stellte sich gegen den „hochgezüchteten Intellekt“ der so genannten „wissenschaftlichen Oberschule“, die die seelische Entwicklung der Kinder vernachlässige. In ihrer Schule sollte der Mensch im Mittelpunkt stehen und jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten gefördert werden. Natürlich war es selbstverständlich, dass Mädchen und Jungen gemeinsam unterrichtet wurden. In der Wirtschaftswunderzeit wuchs bei Erna Stahl die Sorge „vor einer heraufkommenden Bildungspolitik, die alles streicht, was nicht unmittelbar das Rädchen Kind zu einem funktionierenden Rad in der Industriegesellschaft präpariert“. Der übersteigerte Leistungswahn erschien Erna Stahl als Bedrohung des Kindes und der Zukunft überhaupt.

Im März 1965 legte Erna Stahl die Schulleitung nieder. Zum Ende ihrer Abschiedsfeier stand Erna Stahl mit ihrer Freundin Hilde Ahlgrimm auf, hielt dann jedoch einen Augenblick inne und, so heißt es in einem auf sie gehaltenen Nachruf, „wandte sich um und, die Hand leicht erhebend, rief sie: ‚Singt mir noch einmal zum Schluss. Viele verachten die edle Musik’. Festen Schrittes durcheilte sie den Raum, verharrte aber kurz vor dem Ausgang noch einmal, hob den Kopf und sprach in den Gesang: ‚Vergesst die Kinder nicht.’ ”

Text: Kirsten Leppert