Hamburger Straßennamen -
nach Personen benannt

Reimarusstraße

Neustadt, seit 1902, benannt nach Hermann Samuel Reimarus und Johann Albert Reimarus. 2001/2002 ergänzt um die ebenso bedeutende Tochter und Schwester Elise Reimarus.
Neuer Erläuterungstext: benannt nach Hermann Samuel R. (22.12.1694 Hamburg –1.3.1768 Hamburg), Professor am Hamburger Akademischen Gymnasium, dessen Sohn Dr. Johann Albert Heinrich R. (11.11.1729 Hamburg – 6.6.1814 Rantzau), Professor ebenda und Arzt, und deren Tochter bzw. Schwester Margaretha Elisabeth, genannt Elise R. (22.1.1735 Hamburg–2.9.1805 Hamburg), Erzieherin, Schriftstellerin und zentrale weibliche Persönlichkeit der Aufklärung in Hamburg


Siehe auch: Klopstockstraße, Rudolphiplatz, Schlegelsweg, zu Schelling: siehe unter Schlegelsweg
Siehe auch: Baron-Voght-Straße, Groß Flottbek, seit 1928: Baron Caspar Voght (1752– 1839), Kaufmann, machte seinen Besitz in Flottbek zu einem landwirtschaftlichen Musterbetrieb, und Caspar-Voght-Straße, Hamm-Nord, seit 1916,
Siehe auch: Lessingstraße, Hohenfelde, seit 1863: Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), Dichter, Schriftsteller
Siehe auch: Moses-Mendelssohn-Brücke, Harburg, seit 1998: Moses Mendelssohn (1792–1786), Philosoph
Siehe auch: Poelsweg, Hamm, seit 1929: Piter Poel (1760–1837), Schriftsteller, Herausgeber des altonaischen Mercurius
Siehe auch: Sievekingsallee, Hamm, seit 1929: Dr. Karl Sieveking (1787–1847), Senatssyndikus. Hier Text zu seiner Mutter Hannchen Sieveking.
Siehe auch: Tiecksweg, Eilbek, seit 1904: Ludwig Tieck (1773–1853), Dichter, Dramaturg
Siehe auch: Fabriciusstraße

Die Familie Reimarus lebte im 18. Jahrhundert in der Hamburger Fuhlentwiete 122. Diese ehemals zum Rödingsmarkt führende Straße heißt heute in ihrem unteren Abschnitt Stadthausbrücke. Der Hausherr war Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), Professor für orientalische Sprachen am Akademischen Gymnasium, seine Frau Johanna Friderica, geb. Fabricius, die ebenfalls einer Gelehrtenfamilie entstammte, aber anscheinend keine besondere Bildung erhalten hatte. Von ihren drei Kindern, Johann Albert Hinrich, Margaretha Elisabeth (Elise) und Hanna Maria blieb die unverheiratete Elise (22.1.1735 Hamburg–2.9.1805 Hamburg) im Elternhaus. Und auch der Sohn, der Arzt und Naturforscher Johann Albert Heinrich, kehrte mit seiner zweiten Frau Sophie 1770 in die Fuhlentwiete zurück, nachdem der Vater zwei Jahre zuvor gestorben war.

Man führte ein offenes Haus, dessen Mittelpunkt die Frauen Elise und Sophie Reimarus, geb. Hennings (14.4.1742 Pinneberg–30.9.1817 Hamburg), waren. Ihr Theetisch bildete bald einen weit über die Grenzen der Stadt hinaus berühmten Ort der Hamburger Aufklärung.

Elise Reimarus hatte eine umfangreiche Bildung genossen, und als die erste Frau ihres Bruders, Johanna Maria, geb. Thorbecke, 1762 im dritten Kindbett starb, übernahm Elise im elterlichen Haus die Pflege und Erziehung des dreijährigen Neffen Hermann Dietrich und seiner ein Jahr jüngeren Schwester Johanna Margaretha, gen. Hannchen, (siehe: Sievekingsallee) während der Vater der Kinder zunächst weiter bei seinen Schwiegereltern wohnte. Später unterrichtete sie auch an der 1787 von ihrer Freundin Caroline Rudolphi (1754–1811) (siehe: Rudolphiplatz) in der Hammer Landstraße 75 gegründeten „Erziehungsanstalt für junge Demoiselles” von sechs bis 21 Jahren.

Zu der praktischen pädagogischen Arbeit gesellte sich ein schriftstellerisches Werk. Zwischen 1764 und 1766, als gute Kinderliteratur noch Mangelware war, schrieb die einem aufklärerischen Bildungsideal verpflichtete Elise Reimarus Texte für Kinder – meist in Dialogform oder als kleine Bühnenstücke mit genauen Altersangaben für die Hauptpersonen. Wie kindgerecht diese Stücke waren, zeigt sich darin, dass der Schriftsteller und Pädagoge Joachim Heinrich Campe sie später in seine „Kleine Kinderbibliothek“ (Hamburg 1778–1785) aufnahm. In seinem Almanach erschienen nur Beiträge, die vorher mit Kindern erprobt worden waren. Zwei die Kindererziehung theoretisch fundierende Stücke von Elise Reimarus ließ Campe 1778 in den vom Dessauischen Philanthropinum herausgegebenen „Pädagogischen Unterhandlungen“ drucken. Auch das bisher unveröffentlichte Manuskript „Die Freundschaft auf der Probe“, die in Gegensatzpaaren konstruierte rührende Geschichte zweier Freunde, die sich an Edelmut und Treue überbieten, gehört in den Bereich der didaktischen Literatur, wie schon die ersten Sätze der Erzählung zeigen: „In einer von den Sittenschulen, die die englische Jugend besucht, die Pflichten des Menschen und Bürgers zu erlernen, ihren Geist aufzuklären und ihr Herz zu veredlen, waren Nelfon und Blanford durch eine Freundschaft bekannt, die der ältesten Zeiten würdig war. Nach geendigten Studien, ergriff jeder den Stand, dazu ihn die Natur berief. Blanford, thätig, stark und muthvoll, entschied sich für die Waffen und den Seedienst. Reisen wurden eine Schule. Abgehärtet zu den Beschwerden, durch Gefahren unterrichtet, stieg er, von Stufe zu Stufe, bis zum Commando eines Schiffes. Nelfon, mit einer männlichen Beredsamkeit und einem klugen tiefdenkenden Geiste begabt, war Mitglied jener Deputirten, aus denen die Nation ihren Rath besetzt; und in kurzer Zeit machte er sich bey denselben berühmt. Also diente jeder von ihnen seinem Vaterlande, glücklich durch das Gute was er ihm erwies.“

Mit ihren Übersetzungen von Dramen aus dem Englischen und Französischen bereicherte Elise Reimarus das damals noch dürftige Repertoire deutscher Bühnenstücke und trug zum Spielplan des 1779/80 in eine Krise geratenen Stadttheaters bei. Über ihre Übersetzung des „Cato“ von Joseph Addison führte sie mit Lessing (siehe: Lessingstraße), mit dem sie seit seiner Hamburger Zeit freundschaftlich verbunden war, einen Briefwechsel. Voller Vertrauen in ihr schriftstellerisches Talent ermunterte er sie, das Stück in die damals beliebten Blankverse zu übertragen. Seinerseits bat er sie fast ängstlich um ihr Urteil zu seinem „Nathan“: „Nötig hätt ichs wohl, daß Sie ein wenig gut davon urteilten, um mich wieder mit mir selbst zufrieden zu machen.“ (Brief vom 14.5.1779). Neben Lessing waren Männer wie Moses Mendelssohn (siehe: Moses-Mendelssohn-Brücke, ) und Friedrich Heinrich Jacobi Elise Reimarus’ Briefpartner.

Ebenso bedeutend war Elise Reimarus’ jüngere Schwägerin Sophie, die allgemein nur „die Doktorin“ genannt wurde. Leider ist nach ihr die Reimarusstraße nicht mit benannt worden. Sophie war dem aufklärerischen Gedankengut von Vernunft und Toleranz verpflichtet. „Hier kommt und geht, wer will, und denkt auch, was er will, und sagt es ziemlich dreist, und niemand kümmert sich darum“ 1), beschrieb sie einmal ihren Theetisch, der einer der zentralen Orte der Hamburger Aufklärung und Anziehungspunkt für zahlreiche fremde Besucher der Stadt war. Hier herrschte Offenheit, Herzlichkeit und ein ganz auf geistige Genüsse gerichteter Sinn. Mehr als einen Tee hatten die Besucherinnen und Besucher kaum zu erwarten. Der Archäologe, Altphilologe und Schriftsteller Karl August Böttiger nannte die Familie Reimarus den „Licht- und Mittelpunkt des geistigen Hamburg“, und weiter: „Nichts ist in der That fröhlicher und genußreicher als eine Theetischconversation im Kreise dieser Familie, zu der ich während meines Aufenthaltes in Hamburg so oft eilte, als ich mich anderswo wegschleichen konnte. Während Vater Reimarus im Kaftan und mit Pfeife bald mit einsitzt, bald in dem benachbarten Zimmer Arzneien zubereitet, aber auch von daher durch die geöffnete Thür den Faden des Gesprächs festhält und oft seine Bejahung oder Verneinung mit vorgestrecktem Kopfe hereinruft, sitzt die Mutter Reimarus am dampfenden Theeständer, ihr zur Seite die ehrwürdige Elise und zwei unverheiratete Töchter des Doctors.“ 2) Die Hamburger Caspar Voght (siehe: Caspar-Voght-Straße), Johann Georg Büsch, Friedrich Gottlieb Klopstock (siehe: Klopstockstraße) und Gotthold Ephraim Lessing (siehe: Lessingstraße) in seiner Hamburger Zeit gingen hier ebenso ein und aus wie durch Hamburg reisende Gelehrte und Schriftsteller wie Adolph Freiherr von Knigge, Karl Leonhard Reinhold oder Karl August Böttiger.

Sophie Reimarus war die Tochter des Pinneberger Staatsrats Martin Hennings, der ihr eine ausgezeichnete Ausbildung angedeihen ließ. Schwester des bedeutenden Aufklärers August Hennings, zweite Ehefrau des nicht weniger angesehenen Arztes und Gelehrten Johann Albert Heinrich Reimarus, Schwägerin der klugen und gebildeten Elise Reimarus, Stiefmutter von Hannchen Sieveking (siehe: Sievekingsallee), die ein großes Haus und nach dem Tod des Ehemannes eine Zeitlang auch sein Handelshaus führte.

Sophie Reimarus wurde von ihren Zeitgenossen als geistvolle und lebhafte Gesprächspartnerin beschrieben. Wilhelm von Humboldt rühmte 1796 in seinem Reisetagebuch ihren „in hohem Grade gebildeten Verstand, und eine sehr angenehme und heitere Laune im Umgang“ und notierte weiter: „Sie soll ein außerordentliches Talent zu der leichten Gattung des Stils haben, und über die Vortrefflichkeit ihrer Briefe herrscht nur eine Stimme.“ 3) Ein Blick in ihre Briefe an den Bruder August Hennings bestätigt das. Es sind gescheite und schlicht formulierte Dokumente ihrer Gedanken zu Politik, Philosophie und Literatur. In ihren Berichten von den Teegesellschaften zeichnet sie mit wenigen Sätzen plastische Portraits der Besucher. Immer sind ihre Ansichten und Urteile geprägt von Vernunft und Maß. Schwärmerei und romantischen Tendenzen steht sie voller Skepsis gegenüber, hier können ihre Urteile auch einmal hart und scharf ausfallen. So mokiert sie sich beispielsweise in drastischer Form über Caspar Voghts Eitelkeit, als er sich mit dem Etatsratstitel, dem Eintrittsbillet in den Adel, schmückte. Und in einem Brief an den Kaufmann Sulpiz Boesserée fragte sie: „Aber auf welche Universität wollen Sie dann ziehen? Jena hat seit einiger Zeit seine berühmtesten Männer verlohren und unter den bösen Phenomenen der Schellingschen Philosophie (siehe: Schellingstraße und Schlegelsweg) gehört auch wohl diese Gährung. Wenn nun diese ledigen Lehrstühle mit den Schlegeln und Tieck (siehe: Tiecksweg) besetzt, und von Jacob Böhme beschützt werden, wird es vollends junge Köpfe verdrehen. Seit Kurzem sind uns 3 Junge Herren vorgekommen, die halbtot, wenigstens zu allem nützlichen verdorben waren.“ 4) Und auch die anfängliche Revolutionsbegeisterung – ausführlich hatte Sophie ihrem Bruder von der Revolutionsfeier bei Sievekings berichtet und sich später begeistert über den Mainzer Jakobinerklub geäußert – schlug bald um. Mitte Dezember 1792 schrieb sie in einem Brief an den Bruder: ,Nein, die Franzosen sind keine Nation, mit der man sich brüderlich verbinden kann! (…) Gute Freiheit, warum bist du nicht in andere Hände gefallen!‘“ 5) Und in einem Gedicht pries sie wie viele von der Revolution enttäuschte Zeitgenossinnen und Zeitgenossen den Rückzug ins Private, Überschaubare, Geordnete:

„(…) Ein grauenvolles Zeitungslesen

Zerstört oft unser ganzes Wesen,

(…)

Was gute Menschen kaum begannen

Sinckt schrecklich hin durch VolksTyrannen,

(…)

Hinweg denn mit dem großen Traume

Die Freiheit haußt im engen Raume

Wohnt in der Brust der Redlichkeit

Sie wohnt in unserm kleinen Zimmer

Und unser Theetisch sey ihr immer

Zum bleibenden Altar geweiht.“ 6)

Sophie Hennings hatte im Alter von 28 Jahren, am 8.6.1770, den Arzt, Naturforscher und Philosophen Johann Albert Heinrich Reimarus geheiratet. Sie hatte ihn kennengelernt, als sie von Pinneberg nach Hamburg gereist war, um sich der von ihm in Hamburg eingeführten Pockenimpfing zu unterziehen. Zu Hannchen, der Tochter aus der ersten Ehe ihres Mannes, gesellten sich 1771 die Tochter Christine, (1771–1815), die später (1786) den französischen Gesandten in Hamburg, Karl Reinhard heiratete und einen umfänglichen Briefwechsel mit Wilhelm von Humboldt führte, und 1774 der Sohn Hermann, der Kaufmann wurde.

Der Tagesablauf im Hause Reimarus, den Piter Poel (siehe: Poelsweg) beschreibt, bestätigt noch einmal die geistige Beweglichkeit und Bildung Sophie Reimarus’: „Der Theetisch vereinigte die Gatten früh morgens, dann im Laufe des Vormittags, wenn der Mann sich ein halbes Stündchen von seinen Patienten abmüßigen konnte und nach dem Abendessen, selbst wenn sie erst spät aus der Abendgesellschaft nach Hause gekommen waren. Dann hatte sie immer Journale in Bereitschaft mit den angemerkten Stellen, die ihn der Mühe überhoben, das Ganze durchzulesen, oder sie trug mündlich ihm vor, was ihn auf andre Weise erfreuen konnte.“ 7)

Wie sehr sich ihre Wesensart von der ihrer Stieftochter Hannchen unterschied, die die Seele eines anderen namhaften gesellschaftlichen Treffpunkts in Hamburg jener Zeit war, zeigt die folgende Begegebenheit: Als das Sievekingsche Handelshaus 1811 Konkurs gemacht hatte, bat Hannchen ihren Vater ins Elternhaus zurückkehren zu dürfen: „Ich will mein Kinderleben wieder anfangen, will Papa mich bei sich aufnehmen?“ Sophie Reimarus Antwort: „Gutes Kind. Du hast nie aufgehört, es zu führen; denn rein und kindlich ist dein Leben immer gewesen.“ 8) Diese kindliche Liebe sollte Sophie Reimarus in besonderem Maße zuteil werden, als sie bettlägerig wurde und Hannchen sie aufopfernd bis zu ihrem Tode pflegte. Sophie Reimarus starb drei Jahre nach dem Tode ihres Mannes, am 30. September 1817.

Text: Brita Reimers