Sievekingsallee
Hamm (1929), Dr. Karl Sieveking (1.11.1787 - 30.6.1847), Senatssyndikus.
Siehe auch: Sievekingdamm
Siehe auch: Am Elisabethgehölz (Tochter von Karl S.)
Siehe auch: Amalie-Sieveking-Weg (Cousine von Karl S.)
Siehe auch: Reimarusstraße
Siehe auch: Wichernsweg
Siehe auch: Mettlerkampsweg
Siehe auch: Perthesweg
Siehe auch: Curtiusweg
Siehe auch: Griesstraße
Siehe auch: Von-Heß-Weg
Siehe auch: Chapeaurougeweg
Siehe auch: Neanderstraße
Siehe auch im Internet unter Koloniale Spuren im öffentlichen Straßenraum.
Siehe auch: Rupertistraße
Siehe auch: Johnsallee
Siehe auch: Friedrich-List-Straße
Siehe auch: Schrammsweg
Siehe auch: Dillstraße
Karl Sieveking war der Sohn des Kaufmanns Georg Heinrich Sieveking (1751-1799) und Hannchen, geborene Reimarus (siehe: Reimarusstraße). „Gemeinsam mit seinem Freund und Geschäftspartner Caspar Voght [siehe: Caspar-Voght-Straße] führte [Karls Vater Georg Heinrich Sieveking] eines der größten Handelshäuser der Hansestadt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die beiden profitierten von der Plantagenwirtschaft in Übersee und planten eine Sklavenfahrt, die allerdings nicht in die Tat umgesetzt wurde. Sieveking war ein begeisterter Anhänger der Aufklärung und vertrat die Ideale der Französischen Revolution,“ 1) die allerdings weder für Frauen noch für die indigene Bevölkerung in den Kolonien galten; ebenso nicht für die sogenannte Unterschicht. Dazu äußert Dietmar Pieper: „In einer Abhandlung zum Hamburger Währungssystem plädiert er für niedrige Arbeitslöhne, da dies für das städtische Wirtschaftsleben von größtem Vorteil sei.“ 2)
„Während der Hochphase des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges planten die Geschäftsleute 1782 eine Beteiligung am transatlantischen Versklavungshandel. Es wurden Vorbereitungen zur Abwicklung des Geschäfts getroffen. Die Fahrt fand schlussendlich jedoch nicht statt. Grund dafür waren nicht etwa moralische Überlegungen. Der Beteiligung norddeutscher Kaufleute am Sklavengeschäft standen erstens Hindernisse in Form von Kosten und Risiken entgegen, zweitens die merkantilistische Wirtschaftspolitik der europäischen Kolonialmächte. Die Planungen der Sklavenfahrt und auch der Handel mit Übersee geschah vor dem Hintergrund, dass sich Hamburg im 18. Jahrhundert als ein Zentrum des mitteleuropäischen Kolonialwarenhandels etabliert hatte. (…) Der Handel profitierte in ganz erheblichem Ausmaß von der versklavungsbasierten Plantagenwirtschaft.“3) heißt es in Wikipedia.
Caspar Voght und Georg Heinrich Sieveking handelten mit allen möglichen Kolonialwaren und profitierten damit vom Kolonialismus. „Der Schwerpunkt ihres Einfuhrhandels lag zunächst auf den Häfen der französischen Atlantikküste und Englands, doch schon mit Ausbruch des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges kamen auch mit Tabak, Reis und Indigo beladene Schiffe des Unternehmens aus den Häfen der nordamerikanischen Ostküste in der Hansestadt an.“ 4)
Karl Sievekings Mutter Hannchen Sieveking führte mit ihrem Mann Georg Heinrich einen „Teetisch“ – ähnlich den Salons in Berlin. Dieser „Teetisch“ war ein bedeutender Treffpunkt der damaligen sogenannten gehobenen Gesellschaft.
Zu seiner Mutter hatte Karl Sieveking ein besonders zärtliches Verhältnis. Als er als junger Mann auf Reisen war, um sich seinen Studien hinzugeben, schrieb er aus Göttingen an seine Mutter: „Jetzt bin ich Dir wieder um einige hundert Stunden näher. Ich habe die Aussicht öfter Menschen zu sehen, die Du gesehen hast und auf allerlei Weise von Dir zu hören; das ist mir ein sehr angenehmer Gedanke. Je mehr ich mit fremden Menschen umgehe, je mehr ich lerne, was man fordern darf und finden kann, je stärker und inniger wird meine Liebe zu Dir, zu dem, was mir angehört durch die Gewohnheit der früheren unbefangeneren Jahre. So lange wie Du hat mich niemand geliebt.“ 5)
An seinem 20. Geburtstag schrieb er seiner Mutter: „wenn ich denke, daß ich 20 Jahre alt bin, in dem Alter, wo andre schon im Gewühl des Lebens das, was sie in sich aufgezogen hatten, befestigten und in der Tat ausdrücken konnten, ohne Einigkeit mit mir selbst, ohne geprüftes Vertrauen auf meine Kraft, bald von kämpfenden Bestrebungen gedrängt, bald darin erschlafft. Ich suche etwas, woran ich mich halten kann, und ich fühle mich glücklich, daß ich eine Mutter habe, die durch immer sorgsame Liebe und klaren Sinn mir eine feste Stütze gibt. Gewiß, liebe Mutter, der Einfluß Deines immer gleichen Wesens bildet auch Deinen Sohn zum Guten und zu tätiger Liebe. (…).“ 6)
„Während der französischen Besetzung Hamburgs, als an die Stelle der Revolutionsbegeisterung Patriotismus und nationale Aufbruchstimmung traten, organisierte der junge Jurist Karl Sieveking, zusammen mit dem Buchhändler Friedrich Perthes [siehe: Perthesweg], dem Arzt Jonas Ludwig von Hess [siehe: von-Heß-Weg] und dem Bleideckermeister David Christoph Mettlerkamp [siehe: Mettlerkampsweg], die Aufstellung und Bewaffnung einer anti-napoleonischen Widerstandsarmee der Hanseatischen Legion.
Im August 1813 bildete Sieveking mit Perthes, Mettlerkamp und den beiden Juristen Carl Georg Curtius [siehe: Curtiusweg] und Johann Michael Gries [siehe: Griesstraße] eine Art Hamburger Exilregierung, das sogenannte ‚Hamburger Direktorium‘, dessen Ziel es war, Kontakte zu den gegen Napoleon verbündeten Regierungen aufzunehmen.
Nach der Vertreibung der Franzosen aber löste sich das Direktorium wieder auf,“ 7) schreibt Michael Reiter.
Karl Sieveking wurde zwar nicht in den Hamburger Senat berufen, aber er erhielt den Posten eines Senatssyndikus. In dieser Funktion war er hauptsächlich auf dem Gebiet der auswärtigen Beziehungen tätig. 1827 handelte er in Rio de Janeiro einen Handelsvertrag mit dem unabhängigen Brasilien aus. Damit wurde Hamburger Kaufleuten der südamerikanische Markt eröffnet.
1830 begann er seine Tätigkeit als Vertreter Hamburgs beim Bundestag des Deutschen Bundes in Frankfurt. „Über Kontakte zur englischen Neuseeland-Gesellschaft suchte er Kolonisationsprojekte deutscher Auswanderer nach Polynesien zu befördern.“8)
Karl Sieveking hatte in Brasilien eine Gruppe von deutschen Auswanderern kennengelernt, die hofften, in Brasilien ihr Auskommen schaffen zu können. Dabei kam Sieveking der Gedanke, Kolonialgründungen durch deutsche Auswanderergruppen zu befördern. Dazu Dietmar Pieper: „Den südamerikanischen Regierungen empfiehlt Sieveking, die Sklavenarbeit in ihren Ländern abzuschaffen und stattdessen deutsche Männer und Frauen als Tagelöhner zu beschäftigen, das sei besser und billiger (…).“9)
Karl Sieveking verfasste die Schrift „Waurikauri“, die er im Winter 1841 der Commerzdeputation vorlegte. „Hanseatische Kaufleute sollen eine Kolonisationsgesellschaft gründen, die Insel Waurikauri kaufen und dort eine deutsche Kolonie ins Leben rufen. Die Insel gehört zur Chatham-Gruppe, östlich von Neuseeland. Sieveking möchte, daß deutsche Auswanderer gemeinsam siedeln, statt sich über die Welt zu zerstreuen. Menschen, die Deutschland wegen politischer und religiöser Bedrückung verlassen, sollen auf Waurikauri nach freier Verfassung in einem idealen Staat leben. Am sichersten wäre eine solche liberale Kolonie unter dem Schutz Englands. Sieveking hat mit einer New Zealand Company, Sitz London, die ihm die Insel für 10.000 Pfund Sterling angeboten hat, einen vorläufigen Vertrag geschlossen. (…) Sievekings Plan geht durch die deutsche Presse und löst heftiges Pro und Kontra aus, Lobreden und Hohnlachen (…). Dann fliegt die New Zealand Company auf: Das Foreign Office in London teilt mit, die Gesellschaft könne nicht verkaufen, was sie nicht besitze, die Insel gehöre ihm,“ 10) schreibt Gabriele Hoffmann.
Malina Emmerink schreibt in ihrem Aufsatz über Karl Sieveking als weltgewandter Hanseat und kolonialer Phantast: "Karl Sieveking träumte davon, Hamburg zur Schaltzentrale eines großen deutschen Kolonialreichs zu machen. Durch das Hamburger Tor zur kolonialen Welt sollten viele tausend Auswanderungswillige aus den deutschen Staaten in die eigenen Kolonien gelangen und vielfältige Kolonialwaren ihren Weg auf die Märkte des deutschen Hinterlandes finden. Sievekings Vision war motiviert von der Möglichkeit einer planmäßigen Organisation der Überseeauswanderung, Prestigegewinn und außenpolitischen Machtzuwachs für die Hansestädte und die deutsche Nation sowie die Aussicht auf Handelsprofite und neue Absatzmärkte. Nachdem die deutschen Staaten ihr kolonialpolitisches Talent in der deutschen Antipodenkolonie im Südpazifik erprobt hätten, sollte von dort ein weltumspannendes Netz hanseatisch-deutscher Siedlungskolonie geknüpft werden.“11)
Karl Sieveking, der sich der christlichen Erweckungsbewegung angeschlossen hatte und auf dessen Landsitz in Hamm sich die Erweckten trafen, unter ihnen auch Amalie Sieveking (siehe Amalie-Sieveking-Weg), die Karl Sievekings Kinder unterrichtete, hatte den christlichen Missionsgedanken auch in seine Kolonisations-Argumentation einfließen lassen, „um in der Hamburger Öffentlichkeit und in kirchlichen Kreisen um Unterstützung zu werben“. 12) Deshalb unterstützte Johann Hinrich Wichern Sievekings Anliegen. Karl Sieveking hatte die Gründung des Rauhen Hauses gefördert, indem er Johann Hinrich Wichern (siehe: Wichernsweg) ein Grundstück aus seinem privaten Grundbesitz überlassen hatte.
Verheiratet war Karl Sieveking seit 1823 mit Caroline Henriette, geb. de Chapeaurouge [siehe: Chapeaurougeweg] (24.11.1797 Hamburg-12.3.1858 Hamburg). Durch diese Heirat wurde Karl Sieveking: „zum Erben der ausgedehnten Chapeaurouge’schen Ländereien in Hamm. Als solcher ließ er den Herrensitz des Hammer Hofes (…) ausbauen.
Wie das Haus seiner Eltern ein halbes Jahrhundert zuvor, so wurde auch der Hammer Hof zu einem weitbekannten Treffpunkt des kulturell interessierten Bürgertums; an die Stelle von Aufklärung und Freiheitsdrang traten hier freilich Romantik und Religiosität. Als Hammer Großgrundbesitzer konnte Sieveking auch Johann Hinrich Wichern ein Gelände für seine Rettungsanstalt, das Rauhe Haus, zur Verfügung stellen.“ 13)
Karl Sievkings Mutter Hannchen Sieveking
Karl Sievekings Mutter war die berühmte Hannchen Sieveking (Johanna Margaretha), geb. Reimarus (20.11.1760 Hamburg – 12.6.1832 Hamburg). Sie war der Mittelpunkt des gesellschaftlichen Treffpunktes auf dem Sievekingschen Landsitz in Neumühlen.
Caspar Voght (siehe: Caspar-Voght-Straße), der wohl engste Freund, schrieb in seinen Lebenserinnerungen über Hannchen Sieveking: „Der Geist des alten Vaters ruhte in ihren Zügen; der Ton ihrer Stimme drang ins Herz des Leidenden, den ihre Blicke an sich zu ziehen schienen. Ihr Leben war Liebe, ihre Liebe war Tat. Mit dieser Liebe hing sie an mir und meiner Geliebten.“ 14), und ein Jahr vor seinem Tode 1838, als er seinen Abschiedsbrief verfasste, bekannte er seinem Patenkind, Hannchens Sohn Karl Sieveking: „Sie hat mich am besten verstanden und am dauerndsten und am reinsten geliebt.“ 15)
Auch wenn der Ton Wilhelm von Humboldts im Ganzen zurückhaltender ist, spricht auch aus ihm Verehrung und Anerkennung: „Frau Sieveking hat ein anziehendes und vielversprechendes Äußeres, und man findet in ihr das überaus seltene Talent, einer sehr großen Haushaltung im genauesten Verstande treu und aufmerksam vorzustehen, und sich doch darum ganz und gar nicht der Gesellschaft zu entziehen. Dabei ist sie durchaus anspruchslos und bescheiden. Es ist schlechterdings unmöglich, angenehmer, als in ihrem Hause zu sein, in dem sich aller Überfluß des Reichtums mit der ganzen natürlichen Einfachheit des Mittelstandes verbindet“ 16)
Und auch Hannchen Sievekings eigene Worte bestätigen dieses übereinstimmende Bild der Zeitgenossen, als sie am Ende ihres Lebens sich und ihr Wirken in einem Brief an ihre Kinder darstellt. „Ich fühle, daß ich alt werde, und erschrecke nicht, denn ich bin mir keines Unrechts bewußt; nichts, was an meiner Ruhe nagt. Ich vertraue auf Gott und danke ihm für so viel Gutes, was mir geworden ist und mein Alter freundlich macht. Das Schicksal und die Unvollkommenheiten des Lebens lehrten mich, kleine Plackereien zu ertragen. So werde ich denn das Leben voll Dank und Liebe verlassen. Gott segne Euch in Euren Kindern und gebe und erhalte Euch Freunde, wie ich sie hatte und noch habe; dann veraltet und verkümmert das Herz nicht. Die nicht mehr sind, leben in uns fort, denn nichts vergeht ohne Spur, und die göttliche fühlen wir.“17)
Hannchen, wie sie allgemein genannt wurde, war eine geborene Reimarus (siehe: Reimarusstraße), Tochter aus einer der ersten Familien der Stadt. Ihr Vater war der Arzt und Gelehrte Johann Albert Heinrich Reimarus, die Mutter Anna Maria Thorbecke. Hannchen heiratete Georg Heinrich Sieveking. Die Familien Reimarus und Sieveking bildeten um sich herum zwei bedeutende gesellschaftliche Kreise der Stadt.
Nach dem sehr frühen Tod der Mutter am 17. Januar 1762 nahm sich Elise Reimarus (siehe: Reimarusstraße), die Schwester von Johann Albert Heinrich Reimarus, ihrer Nichte Hannchen Reimarus an. Als der Vater Sophie Hennings, die Schwester des Aufklärers August Hennings, heiratete, entfaltete sich im Hause eine reichhaltige Gastlichkeit. Hier traf sich alles, was von geistiger und literarischer Bedeutung in der Stadt war oder dorthin kam. So verkehrten hier auch die Kaufleute Caspar Voght und Georg Heinrich Sieveking, die seit dem Tod von Voghts Vater im Jahre 1781 dessen Firma gemeinsam führten. Am 2. Oktober 1782, nach zweimonatiger Verlobungszeit, wurde die Hochzeit gefeiert. Zwei Monate zuvor hatte Sieveking am 4. August Hannchen schriftlich seine Liebe erklärt. „Mit großer Offenheit stellte er gleichzeitig seine Fehler zur Schau: ‚Menschenkenntnis hat mich zurückhaltend und verschlossen gemacht; das macht mich zuweilen sehr ernst. – Ich fühle jedes Unrecht, das mir geschieht und oft zu sehr; jäher Zorn ist ein Fehler, von dem ich mich noch nicht ganz geheilt habe, so sehr ich auch auf mich selbst aufmerksam bin. Ich unterlasse manchmal eine gute Handlung aus Furcht, lächerlich zu werden.‘“ 18)
Das Paar wohnte zunächst in Harvestehude, denn wenn möglich, zog man damals aus der Enge der Stadt ins Freie. In Harvestehude wurden die ersten beiden Kinder Johannes (1785) und Karl (1787) geboren. Bald jedoch musste die kleine Familie das nur gemietete Haus verlassen. Sie zog an den Neuen Wall 149, wo auch das Kontor untergebracht war. Ein Garten vor dem Dammtor ermöglichte jetzt, der Stadt zu entfliehen. Hier wurde am 14. Juli 1790, dem ersten Jahrestag der Erstürmung der Bastille, die berühmte Revolutionsfeier abgehalten, die Hamburg den Ruf einer liberalen Oase einbrachte.
Im Jahre 1793 erwarb man gemeinsam mit zwei Freunden, dem Kaufmann Conrad Johann Matthiessen und dem Schriftsteller und Herausgeber des „Altonaer Merkur“, Piter Poel (siehe: Poelsweg), ein Landhaus in Neumühlen, ein schlichtes Anwesen, am Hang gelegen, mit herrlichem Blick über die Elbe. Für die Ausgestaltung von Haus und Garten holte man sich den aus Frankreich stammenden Baumeister und Gartenarchitekten Joseph Ramée. Während Matthiessen nach drei Jahren anlässlich seiner Vermählung aus der Gemeinschaft ausschied, lebten die Familien Sieveking und Poel in Eintracht weiter miteinander. Die Frauen führten in wöchentlichem Wechsel den Haushalt: „Friederike und ich leben sehr innig zusammen; wir haben herausgefunden, daß wir in dieser kleinen Republik die Gewalt haben, und da wir nur das Gute wollen, behält das Gute die Oberhand“ 19), schrieb Hannchen Sieveking 1794 an Voght. Der Landsitz in Neumühlen entwickelte sich zu einem geselligen Mittelpunkt der Stadt, und das war in erster Linie Hannchen Sieveking zu verdanken. Sie war sicherlich keine intellektuelle Frau wie ihre Stiefmutter Sophie Reimarus und wohl zu Recht hatte Elise Reimarus über die Nichte geurteilt: „Sie ist neunzehnjährig, nicht sehr für die Philosophie, recht liebenswürdig und beliebt: Wenn sie doch nur einen guten Mann kriegte.“ 20) Hannchens Talente lagen ganz offensichtlich mehr im Bereich der Herzensbildung als der Bildung, dort aber, wie die vielen Stimmen von Zeitzeugen belegen, in ganz ungewöhnlichem Maße.
Bei den Geselligkeiten auf dem Landsitz in Neumühlen ging es viel lebhafter und mannigfaltiger zu als am „Theetisch“ im Hause Reimarus: Es war im Handelshaus, dem Sieveking zu Weltruf verholfen hatte – Voght war 1793 ausgeschieden [siehe: Caspar-Voght-Straße], weil seiner geistigen Unabhängigkeit jedes Geschäft zuwider war –, üblich geworden, alle Fremden, die in Geschäften kamen, für den nächsten Sonntag nach Neumühlen einzuladen. Dazu gesellten sich Freunde aus der Stadt und durchreisende Schriftsteller und Gelehrte, später auch unzählige Emigranten. Oft wurde am Sonntag der Tisch für 80 und mehr Personen gedeckt. Karl August Böttiger berichtet, wie zwanglos und herzlich es dabei zuging: „Die Tafel ist gut und fein und reichlich, aber nicht übermäßig besetzt (…). Jeder nimmt sich oder läßt sich geben, von welcher Schüssel er will (…). Jeder fordert sich Wein, welchen er will (…). Jeder steht vom Tische auf, geht zu einem Andern, zu Mehreren, zu Allen, wie es ihm einfällt, und so lange es ihm gefällt. (…) Er geht dann in den Garten, (…) besieht Kupferstiche, Gemälde, durchblättert Bücher (…). Kurz, jeder ist frei für sich und hat keine andre Verbindlichkeit, als andre ebenso frei zu lassen, wie er selbst ist.“ 21) Hier in Neumühlen wurden Klopstocks (siehe: Klopstockstraße) Geburtstage begangen und Hochzeiten und Taufen von Mitgliedern aus dem weiteren Familienkreis gefeiert. Im Sommer weilten häufig Logiergäste in dem geräumigen Haus.
Auch wenn immer wieder von dem unausgeglichenen und aufbrausenden Temperament Sievekings zu lesen ist, unter dem Hannchen zu leiden hatte, so dass Josef Nyáry am 17.3.1977 im „Hamburger Abendblatt“ meinte, urteilen zu können, „für die Braut wurde es keine leichte Ehe“, soll hier festgehalten werden, dass Hannchen selbst es offenbar anders sah In einem Brief an ihren Mann schrieb sie: „Ich kann’s Dir nicht oft genug wiederholen, daß es mich unendlich freut, daß ich wirklich das Vermögen habe, Dich glücklich zu machen, daß ich das wirklich kann. Gewollt habe ich’s gewiß immer, aber ich habe oft daran gezweifelt, weil ich an mir selbst zweifelte. Glaubst Du’s nicht auch, daß wir auch auf die Länge glücklich sein werden, daß wir uns nur noch immer fester aneinander ketten werden? Wenn ich das so nachdenke, so deucht es mich zuviel verlangt, zuviel vorgestellt, und dann fange ich an, für die Zukunft zu zittern. Was haben wir für so viele Menschen voraus, die so ein hartes Schicksal haben? Und die vielleicht besser sind als wir? Ich schäme mich oft meiner Undankbarkeit, aber das Herz ist mir doch so schwer, daß ich nicht imstande bin, die Grillen los zu werden. Just eben zu der Zeit, wenn ich am lebhaftesten fühle, am deutlichsten einsehe, wie ohne alles Verdienst mein Schicksal so gütig ist, dann sehe ich’s auch am deutlichsten, daß noch vieles über uns verhängt ist, und daß unser Leben nicht immer so schlichtweg fortdauern kann.“22)
Der Freund des Hauses Piter Poel gab allerdings folgende Beobachtungen des Ehelebens von Hannchen und Georg Heinrich Sieveking zu Papier: „Die junge Frau trat an Stelle der Mutter; ihr zarteres Gefühl diente nur dazu, jene Erziehungsfehler empfindlicher zu machen [Sieveking soll von seiner Mutter verzogen worden und es gewohnt gewesen sein, dass seine Mutter, die Geschwister sowie das Dienstpersonal sich ihm unterordneten, R. B.], welche ihre zu große Sanftmut nicht bessern konnte. Für alles, was in der Wirtschaft nicht in Ordnung schien, wurde sie der Sündenbock … . Unbedeutende Versehen und Versäumnisse wie der um eine Minute verspätete Tee konnten zu ungezogenen und heftigen Äußerungen führen, bei denen Entschuldigungen nur heftigere Ausbrüche der Ungeduld zur Folge hatten. … Allein, Sieveking liebte und achtete die Frau, welcher er in jeder Weise Kränkungen zufügte, die ihr manche Träne gekostet, und schenkte ihr sein ganzes und unbedingtes Vertrauen.“ 23)
Am 25. Januar 1799, drei Tage vor seinem 48. Geburtstag, starb Georg Heinrich Sieveking nach einem schweren Brustkrampf. Nach 16-jähriger Ehe stand Hannchen Sieveking mit 38 Jahren und fünf Kindern, von denen das älteste 13 Jahre, das jüngste noch kein Jahr alt war, alleine da.
Sie führte das Handelshaus zunächst zusammen mit den Teilhabern Bertheau und Schlüter weiter und erhielt auch der Familie und den Freunden den Landsitz in Neumühlen. Bedingt durch die Kontinentalsperre wurden die wirtschaftlichen Schwierigkeiten jedoch so groß, dass das Handelshaus 1811 Konkurs anmelden musste: „Über Sievekings trauerte die ganze Stadt“ 24), schrieb Henriette Harder, die Tochter des Senators Johann G. Graepel, an ihre Stiefschwester. 1810 hatte Hannchen bereits ein Schicksalsschlag getroffen, als die einzige Tochter, Sophie, achtzehnjährig an einer Lungenentzündung starb. Zu ähnlicher Selbstverleugnung wie ihre Mutter geneigt, war die Kränkelnde in einer stürmischen Nacht auf Notrufe von der Elbe zu Nachbarn gelaufen, um Hilfe zu holen.
Voller Bewunderung berichtete Piter Poel, mit welcher Haltung und Souveränität Hannchen Sieveking den Unglücksfällen begegnete: „Trotz vollkommenster Weiblichkeit besitzt sie einen männlichen Geist, der ungetrübt durch Vorurteil und Illusionen, die Verhältnisse klar durchschaut und männlich wie ihr Verstand, ist auch ihr Mut, wenn große Unglückfälle ihr schwere Opfer auferlegen, Ich habe sie in dem Augenblicke gesehen, in welchem ihr angekündigt wurde, daß ihr Handlungshaus seine Zahlungen einstellen müsse (…), da erklärte die Sieveking sogleich mit der größten Fassung, daß sie alles unbedingt in die Hände der ratenden Freunde lege, die ihr ganzes Vertrauen, wie das des Publikums besäßen; nur bat sie, soweit es auf eine rechtliche Weise geschehen könne, Rücksicht auf die nicht vermögenden Freunde zu nehmen, die ihre Gelder dem Haus anvertraut hätten. Für sie selbst war ihr Entschluß augenblicklich gefaßt; sie gab Haus und Garten mit allen Kostbarkeiten auf und kehrte zurück in die väterliche Wohnung, um wieder, wie sie sagte, in die Verhältnisse einzutreten, in denen sie sich als 20-jähriges Mädchen so glücklich gefühlt; ihre Knaben würden sich schon wie so viele andere ohne Vermögen, vielleicht sogar zu ihrem Besten, durchschlagen; für die Tochter hatte sie nicht mehr zu sorgen, die war bereits im Frühjahr vorher gestorben.“ 25)
Hannchens Vaters starb im Jahre 1814, die Mutter, die lange bettlägerig gewesen und von Hannchen aufopfernd gepflegt worden war, am 30. September 1817. Nach dem Tod der Eltern verdiente Hannchen ihren Unterhalt, indem sie einige Zimmer vermietete, zumeist an junge Kaufleute aus bekannten Familien. An einem Abend in der Woche lud sie zum Teetisch ein, zu dem sich auch die alten Freunde einstellten. Und auch Caspar Voght mietete sich manchmal im Winter bei ihr ein. Er, der u. a. wegen seiner unmöglichen Liebe zu der Freundin Hannchens, Magdalena Pauli (siehe: Caspar-Voght-Straße) auf jahrelange Reisen gegangen war und mit dem Hannchen einen vielseitigen und regen Briefwechsel geführt, wobei sie den Postillon d’Amour für ihn gemacht hatte, war endgültig auf seinen Landsitz nach Flottbek zurückgekehrt. Hier, wo inzwischen auch Piter Poel mit seiner Familie lebte und Magdalena Pauli sich oft aufhielt, war Hannchen häufig zu Gast.
Text zu Hannchen Sieveking: Brita Reimers