Hamburger Straßennamen -
nach Personen benannt

Günther-Schwarberg-Weg

Schnelsen (2013): Günther Schwarberg (1926-2008), Autor, Journalist, recherchierte und schrieb über das Schicksal der 20 jüdischen Kinder, die am 20.4.1945 in der Schule Bullenhuser Damm ermordet wurden.


Siehe auch: Brüder-Hornemann-Straße; Eduard-Reichenbaum-Weg; Georges-Andrè-Kohn-Straße; Jungliebstraße; Marek-James-Straße; Marek-Steinbaum-Weg; Roman-Zeller-Platz; Sergio-de-Simone-Stieg; Günther-Scharnberg-Weg. Siehe auch: Geschwister-Witonski-Straße; Jacqueline-Morgenstern-Weg; Lelka-Birnbaum-Weg; Mania-Altmann-Weg; Riwka-Herszberg-Stieg; Wassermannpark; Zylberbergstieg; Zylberbergstraße

Folgender Text aufgeschrieben von Barbara Hüsing, Lebensgefährtin von Günther Schwarberg und Rechtsanwältin.

„Mein Mann ist 82 Jahre alt geworden. 33 Jahre davon haben wir zusammengelebt. Unsere Arbeit führte uns zusammen. Wir lernten uns im Juni 1975 in der Kantine des Strafjustizgebäudes in Hamburg kennen. Er schrieb damals Gerichtsreportagen für den ‚stern‘, und ich war Strafverteidigerin. Er war ein sehr kritischer Berichterstatter und ein durch und durch politischer Mensch. Sein Leben war bestimmt von den schrecklichen Erlebnissen im Nationalsozialismus und im Krieg. Er hatte das Glück, von einem Vater erzogen worden zu sein, der Hitler auf das Tiefste verabscheute. So konnte Günther Schwarberg, der als Soldat noch in den Krieg musste, den 8. Mai 1945, achtzehn Jahre alt, als den glücklichsten Tag seines Lebens feiern. Der Krieg war aus, die Nazis vernichtet, dachte er. In seinem letzten Buch ‚Das vergesse ich nie – Erinnerungen an ein Reporterleben‘ von 2007 schreibt er dazu: ‚Ich bin naiv, ich bin voll Glück.‘ Doch schon bald stellte er fest, obwohl nicht kriegsversehrt, dass ihn etwas wie eine Verletzung drückte. Er fragte sich: ‚Kann man das alles abschütteln?‘ Es ist etwas Entsetzliches geschehen, und trotzdem sagen viele Menschen: ‚Nun ist alles wieder gut. Das geht doch gar nicht.‘ Und bei ihm ging es auch nicht. Den Hass auf den Krieg und den Faschismus konnte er sein Leben lang nicht abschütteln. Von ihm habe ich gelernt, dass Frieden und Antifaschismus vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte untrennbar zusammengehören. Die Opfer des Nationalsozialismus wurden zu seinem Lebensthema. Erst schrieb er darüber im ‚stern‘, später auch in anderen Zeitschriften und Zeitungen. Nach 22-jähriger ‚stern‘-Zugehörigkeit wurde er 1988 freier Autor und verfasste zahlreiche Bücher (…): ‚Der SS-Arzt und die Kinder vom Bullenhuser Damm‘; ‚Meine 20 Kinder‘; ‚Angriffsziel Cap Arcona‘: ‚Der Juwelier von Majdanek‘; ‚Der letzte Tag von Oradour‘ (mit Lea Rosh); ‚Die letzte Fahrt der Exodus‘: ‚Die Mörderwaschmaschine‘; ‚Im Ghetto von Warschau‘; ‚Es war einmal ein Zauberberg (Thomas Mann in Davos)‘; ‚Dein ist mein ganzes Herz‘ (Das Leben des vergessenen Librettisten Löhner-Beda)‘.

Wie viele Sonntage saßen wir in unseren Arbeitszimmern und halfen uns gegenseitig. Ich sprach mit ihm über meine Plädoyers, und er gab mir seine geschriebenen Seiten zur Korrektur. Doch Günther blieb nicht am PC sitzen. Gerne gab er seine erforschten Geschichten in Lesungen weiter. Besonders eindrucksvoll waren Abende gemeinsam mit dem Musiker Joachim Kuntzsch. Er sang am Piano so bekannte Lieder wie ‚Ich hab‘ mein Herz in Heidelberg verloren‘; ‚Dein ist mein ganzes Herz‘; ‚In der Bar zum Krokodil‘. Günther erzählte dazu die Geschichte von Fritz Löhner-Beda über dessen märchenhaften Aufstieg und qualvollen Leidensweg: Fritz Löhner-Beda war in Wien ein berühmter Mann und der Librettist von Franz Lehar [siehe: Leharstraße]. Nicht nur Hitler liebte seine Operetten. Nach dem ‚Anschluss‘ 1938 wurde er deportiert und zunächst nach Buchenwald gebracht. Später wurde er im KZ Auschwitz ermordet.

Häufig kamen nach Lesungen Zuhörer zu Günther und konnten etwas zu den Opfern erzählen. Er hörte ihnen aufmerksam zu und ging Spuren nach, auch wenn ein Artikel oder das Buch bereits abgeschlossen waren. Für ihn war ein Thema nie ‚gestorben‘. (…)

Die größte Geschichte, die er gefunden hat und an der wir gemeinsam seit 1977 bis zu seinem Tod gearbeitet haben, war die des Kindesmordes am Bullenhuser Damm. Zwanzig jüdische Kinder wurden am 20. April 1945 mit zwei französischen Häftlingsärzten und zwei holländischen Häftlingspflegern im Keller der Schule am Bullenhuser Damm in Hamburg-Rothenburgsort erhängt. An den Kindern waren zuvor schreckliche medizinische Experimente im KZ Neuengamme gemacht worden. Diese Verbrechen wollte die SS vor den einrückenden englischen Truppen vertuschen. In derselben Nacht wurden mit den Kindern auch mindestens vierundzwanzig sowjetische Kriegsgefangene ermordet. 1946 wurde der Kindermord in einem englischen Militärtribunal im Curio-Haus in Hamburg behandelt. Die aufgefundenen Täter, SS-Leute, wurden zum Tode verurteilt, bis auf den SS-Arzt Dr. Kurt Heißmeyer und den SS-Obersturmführer Arnold Strippel, die sich verstecken konnten. Heißmeyer wurde zwanzig Jahre später in der DDR gefunden und zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Arnold Strippel musste wegen anderer Morde im KZ Buchenwald einige Zeit im Zuchthaus sitzen. Später wurde seine Strafe verkürzt. Er konnte unbehelligt in Frankfurt/Main sogar eine Haftentschädigung verleben.

1979 veröffentlichte mein Mann eine sechsteilige Serie im ‚stern‘: ‚Der SS-Arzt und die Kinder‘, die Geschichte über das Schicksal der Kinder, und wir fanden Angehörige der Kinder: Brüder, Mütter, Cousins, Cousinen, Tanten – aus den U.S.A., Frankreich, Italien, den Niederlanden, Israel. Mit ihnen gemeinsam gründeten wir am 20. April 1979 die ‚Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm‘. Die Familien beauftragten mich, Strafanzeige gegen Arnold Strippel wegen Mordes zu erstatten. Nur durch unseren massiven Druck im In- und Ausland in der Öffentlichkeit wurde schließlich nach vier Jahren Anklage gegen Strippel wegen 48-fachen Mordes erhoben. 1987 wurde das Verfahren jedoch endgültig eingestellt, weil er verhandlungsunfähig war. Er wurde wegen des Kindesmordes nie zur Verantwortung gezogen. Ein Jahr zuvor, 1986, hatten mein Mann und ich zu einem internationalen Tribunal unter dem Vorsitz des ehemaligen Richters am Bundesverfassungsgericht, Martin Hirsch, Richter und Juristen eingeladen. Das Tribunal beschäftigte sich mit der Nichtaufarbeitung von Naziverbrechen durch die bundesdeutsche Justiz und kam zu dem Schluss, dass ein Staat, der die Verbrechen des Naziregimes unbestraft lässt, anfällig ist für neuen Faschismus.

Wir haben viel erreicht: Die Schule am Bullenhuser Damm wurde 1980 vom Senat zur Gedenkstätte erklärt und nach Janusz Korczak benannt. Bis 1999 wurde sie von der ‚Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm‘ privat betrieben. Dann ging sie als Außenstelle in die Obhut der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und damit der Kulturbehörde über. Schulen, Universitäten, Volkshochschulen und Gewerkschaften luden uns zu Vorträgen ein. Schülerinnen und Schüler aus vielen Ländern pflanzten Rosen im Rosengarten der Kinder vom Bullenhuser Damm, den wir seit 1982 planten und auf dem Schulhof anlegten. 1985 wurde er eingeweiht. Besucherinnen und Besucher können dort für die Kinder Rosen pflanzen. Tafeln erinnern an einzelne Kinder.

Wir konzipierten und erstellten vor fast dreißig Jahren eine Ausstellung über die Kinder vom Bullenhuser Damm, die durch viele Länder Europas ging. In Eindhoven/Niederlande, wo die beiden ermordeten Kinder Eduard und Alexander geboren wurden, legte die Stadt einen Geschwister-Hornemann-Park an. In Italien sind mehrere Rosengärten zur Erinnerung an das einzige italienische Kind, Sergio de Simone, geschaffen worden. Im Stadtteil Hamburg-Schnelsen/Burgwedel wurden 1992 und 1993 Straßen nach den ermordeten Kindern benannt. So gibt es z. B. einen Roman-Zeller-Platz und einen H.-Wassermann-Park. Jährlich finden dort am 20. April auch Gedenkfeiern für die Kinder vom Bullenhuser Damm statt.

Unser Kontakt zu den Angehörigen wurde immer enger. Wir besuchten uns und schrieben uns zu Geburtstagen. Wir telefonierten oft miteinander. Unsere Vereinigung wurde immer mehr wie eine Familie. Eines Tages sagte Philipp Kohn, der Bruder des ermordeten Georges-André Kohn, zu Günther Schwarberg: ‚Jetzt bist du mein Bruder.‘

1987 erhielten Günther und ich in Eindhoven/Niederlande die Anne-Frank-Medaille für unsere Arbeit. Das war die schönste Auszeichnung, die wir uns vorstellen konnten.

Kurz vor seinem Tod, am 11. November 2008, hat mein Mann noch in unserem Hause vor Freunden, Nachbarn und Bekannten aus seinem letzten Buch gelesen. In diesem Buch hat er geschrieben, dass unser gemeinsames Glück mit dem Kennenlernen begann und nicht mehr aufgehört hat. Am Ende seines Lebens konnte ich zu ihm sagen: ‚Wir hatten ein schönes Leben‘, worauf er antwortete: ‚Wir haben ein schönes Leben.‘ Dieser Satz wird mich mein Leben lang weiter begleiten, auch bei meiner beruflichen und politischen Arbeit, im Zusammensein mit den beiden Töchtern, den Enkeln und den Freunden.“

Text: Barbara Hüsing